5 | In den tiefen Gewässern der Verzweiflung
~ Ein Mund kann lachen, selbst wenn das Herz weint. ~
Weihnachten, die Zeit der Familie – ein Fest voller Liebe und Besinnlichkeit. Doch für mich ist es mittlerweile eher eine Qual.
Während meine Schwester wie ein Wirbelwind durch das Haus fegt und alles für das Fest vorbereitet, ziehe ich mich in Milans Zimmer zurück, das inzwischen mein Rückzugsort ist.
Ich weiß, dass Lisa es nur gut meint und dass sie nichts dafür kann. Als Eltern möchten wir unseren Kindern diesen besonderen Zauber des Festes bieten. Doch zwischen all den bunten Lichtern, den fröhlichen Liedern und dem ganzen Trubel fällt es mir schwer zu atmen. Wie kann ich Freude empfinden, wenn ein Teil von mir fehlt?
Darf ich überhaupt glücklich sein? Immer wenn ich einen Moment des Glücks erlebe und die Wärme der Freude über meine noch vorhandene Familie spüre, wird sie schnell von einem tiefen, schwarzen Loch abgelöst. Es erinnert mich an mein Versagen, daran, meine Gefühle zu verstecken und sie schnell wieder loswerden zu wollen. Diese innere Zerrissenheit raubt mir jegliche Kraft. Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich tagelang nicht aufstehen kann. Das Sprechen fällt mir schwer und die Konzentration entgleitet mir.
Gerade jetzt, während Lia und Leo voller Vorfreude durch das Haus springen und der Glanz in ihren Augen strahlt, kämpfe ich darum, ihnen diese Freude nicht zu nehmen. Es wäre unfair, ihnen meine Last aufzubürden und sie leiden zu lassen, nur weil ich schwach bin. Deshalb halte ich Abstand zu ihnen, so gut es geht.
Plötzlich klopft es zaghaft an meiner Tür und meine Nichte steckt vorsichtig ihren Kopf in das dunkle Zimmer. »Onkel Lu?«, fragt sie leise, unsicher, ob ich hier drinnen bin.
»Was gibt's, Mäuschen?« Ich versuche, meiner Stimme mehr Kraft zu verleihen, doch es kommt nur ein leises Hauchen heraus – ein Wimmern, das mich ärgert. Ich muss stark sein!
Die Tür öffnet sich langsam und Lia wird von hinten angestrahlt. Sie trägt ein buntes Kleid, das bis zu den Knien reicht; ihre Beine stecken in einer weißen Strumpfhose und ihre Füße in schwarzen Turnschläppchen.
»Kannst du mir Zöpfe machen? Mama kann das nicht so gut wie du«, sagt sie und hält mir die Haarbänder entgegen.
Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich habe keine Ahnung, wann ich gelernt habe, Flechtfrisuren zu machen. Oft sitze ich morgens mit Lia auf der Couch und mache ihr die Haare, bevor die beiden zur Schule gehen. Lisa könnte es auch, aber sie hat nicht die Geduld dafür – das war schon immer so bei ihr. Wenn unsere Mutter ihr Frisuren machen wollte, hat sie so lange gejammert, bis Mama aufgegeben hat.
»Onkel Lu?«
Erst jetzt merke ich, dass ich noch gar nicht geantwortet habe. »Ja, klar. Komm her.« Langsam richte ich mich auf, strecke mich und schalte das Nachtlicht an.
Sofort bleibt Lia stehen. »Wieso sitzt du auf dem Boden?«
Mein Gehirn sucht fieberhaft nach einer plausiblen Antwort, doch mir fällt nichts ein. Warum ist sie mit ihren sechs Jahren so aufmerksam? Doch dann setzt sie sich wieder in Bewegung und nimmt vor mir Platz.
Lias und Lisas Haare sind wirklich lang. Leo hingegen erinnert mich an Benjamin mit seinem dichten schwarzen Haar und den strahlend blauen Augen. Vorsichtig nehme ich meiner Nichte die Bürste ab und beginne behutsam ihre Haare zu entwirren. Eine Weile schweigen wir dabei, bis sie plötzlich laut ausatmet.
»Du, Onkel Lu?« Ihre Stimme klingt aufgeregt und eine Oktave höher als sonst. Sie dreht ihren Kopf zu mir und schaut mich mit großen Augen an; das intensive Grün raubt mir für einen Moment den Atem.
Schnell ziehe ich meine Lippen zu einem Lächeln. »Ja?«
»Erfüllt der Weihnachtsmann wirklich jeden Wunsch?« Sie fragt so ernsthaft, dass ich spielerisch einen Zeigefinger unter mein Kinn lege, um die Spannung zu erhöhen. Eine Weile schweige ich und beobachte, wie ihre Augen immer größer werden.
Schließlich erlöse ich sie und streiche sanft über ihr Haar. »Nicht alle, Mäuschen. Aber wenn es ein wahrer Herzenswunsch ist, dann nimmt der Weihnachtsmann ihn besonders ernst.«
»Hast du dir auch etwas gewünscht?«
Mein Lächeln erstarrt und ein unangenehmes Gefühl breitet sich in mir aus. Ich blinzele mehrmals, um mich zu sammeln, doch meine Stimme zittert, als ich antworte: »Nein. Ich ... brauche nichts.« Mein innigster Wunsch bleibt unerfüllt, egal wie oft ich bete oder hoffe.
Frustriert presse ich die Lippen zusammen, schließe die Augen und atme tief durch, um mich zu beruhigen.
Meine verletzliche Seite darf ich Lia und Leo niemals zeigen. Für sie bin ich der lustige Onkel, der mit ihnen spielt, sie zum Lachen bringt und ihre Mama in den Wahnsinn treibt. Ich lache immer, selbst wenn es mir nicht gut geht, denn ich muss stark wirken. Sie haben es verdient, dass ich mich zusammenreiße.
Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meiner Wange und öffne überrascht die Augen. Lia lächelt mich an und hat ihre kleine Hand dort platziert. »Nicht weinen, Onkel Lu. Der Weihnachtsmann hat dich bestimmt nicht vergessen«, sagt sie mit einer Überzeugung, die mich nicken lässt.
Ich umarme dieses kleine Mädchen, das mir so viel bedeutet, und genieße für einen kurzen Moment das Gefühl von Wärme. Doch dann lasse ich sie wieder los und vergrabe diese Emotionen tief in mir; ich weiß, dass ich sie nicht zulassen darf. Glück und Liebe sind Dinge, die ich mir nicht mehr erlauben kann.
»Komm, setz dich wieder hin. Wir müssen doch mit deinen Haaren fertig werden, bevor Oma kommt, oder?«, sage ich und sie nickt eifrig.
Sie lässt sich wieder auf den Boden fallen und ich beginne endlich damit, ihre Zöpfe zu flechten. Als wir fertig sind, streicht sie über die geflochtenen Haare und grinst mich an – dabei zeigt sich ihre kleine Zahnlücke, auf die sie so stolz ist.
Leo ärgert sie oft damit, dass er in allem der Schnellste und Beste ist – schließlich ist er der Ältere. Das hat er definitiv von seiner Mama geerbt, sie konnte das auch immer gut. Jetzt ist Lia einmal die Erste und das macht sie überglücklich.
Doch plötzlich verändert sich ihr Blick; Zufriedenheit weicht einer nachdenklichen Miene.
»Was ist los? Gefallen sie dir nicht?«, frage ich besorgt.
Sie schüttelt den Kopf und sieht mich weiterhin intensiv an – ein Blick, der mir Gänsehaut bereitet. Wie schafft sie es nur, so eindringlich zu gucken? Glücklicherweise wird dieser seltsame Moment unterbrochen, als es an der Tür klingelt.
Wir zucken beide zusammen und ihr Grinsen kehrt zurück. Obwohl sie weiß, wer dort steht, bewegt sie sich nicht; also hebe ich meine Hand und scheuche sie hinaus: »Nun geh schon! Oma wartet nicht gerne.«
Lia nickt und flitzt los, bleibt jedoch kurz vor der Tür stehen. »Onkel Lu?«
»Ja?«
»Isst du heute mit uns?«
Ihre Frage hallt durch den Raum und obwohl sie harmlos klingt, zieht sich alles in mir zusammen. Es schmerzt, sie enttäuschen zu müssen, denn ihr Blick ist so bittend. Doch ich kann nicht anders. »Nein«, sage ich leise. »Ich muss arbeiten.« Ich bemühe mich um ein Lächeln, so gut es geht.
Meine Nichte nickt erneut und lächelt zurück, aber in ihren Augen blitzt eine Traurigkeit auf. Oder bilde ich mir das nur ein?
Der stechende Schmerz in meiner Brust wird intensiver, und ich senke den Blick, weil ich dem Ausdruck von ihr nicht länger standhalten kann. Aber es ist besser so; ich würde nur die fröhliche Stimmung verderben.
Nachdem sie endlich mein Zimmer verlassen hat, stehe ich auf und warte geduldig, bis der Trubel im Flur nachlässt. Erst wenn alle im Esszimmer versammelt sind, kann ich unauffällig verschwinden, ohne dass jemand auf die Idee kommt, mich aufzuhalten. Lisa hat mich schon oft abgefangen und versucht, mich mit allen Mitteln zum Bleiben zu überreden. Dass ich arbeiten muss, ist natürlich gelogen, aber ich kann es einfach nicht übers Herz bringen, mich dazuzusetzen, wenn es für mich nichts zu feiern gibt. Ich möchte keine Last mehr sein.
Jedes Jahr wünsche ich mir dasselbe: dass es wieder so sein könnte wie früher. Mit jedem Jahr wird mir klarer, dass das nie wieder geschehen wird.
Also trete ich nach draußen, ziehe meinen Schal enger um den Hals und gehe zügig voran. Statt des angekündigten Schnees prasselt der Regen in Strömen herab. Der kalte Wind beißt unangenehm in meine Haut und lässt meine Finger taub werden – doch das stört mich kaum. Je weniger ich spüre, desto besser geht es mir.
Es dauert mindestens drei Stunden – vielleicht sogar länger –, bis ich das Haus wieder betreten kann und die Zwillinge im Bett sind; andernfalls wird Lisa mich nicht in Ruhe lassen.
Normalerweise gehe ich in Joes Bar, um mit ein paar Bekannten Karten zu spielen – viele von ihnen fühlen sich an diesen Feiertagen ähnlich wie ich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Zumindest vermute ich das; darüber reden will natürlich niemand von uns.
Dieses Jahr ist die Bar allerdings geschlossen, weil Joe bei seinen Enkeln irgendwo in Norddeutschland ist. Eigentlich freue ich mich für ihn; er hat oft erzählt, wie traurig es ihn macht, dass er sie so selten sieht. Aber immerhin hat er die Wahl – besser selten als nie mehr ...
Der Regen wird immer stärker und zwingt mich dazu, an einer Bushaltestelle Schutz zu suchen. Auf der Bank liegt ein Obdachloser, der sich mit einer Zeitung bedeckt hat. Als ich mich an den Rand des Glasdachs drücke, schaut er mich an und setzt sich aufrecht hin.
»Hi«, nuschelt er freundlich. Ich zögere einen Moment und nicke ihm dann zu. Was auch immer ihn an diesen Ort gebracht hat – ohne meine Schwester wäre mein Schicksal wohl ähnlich verlaufen.
»Hast du ein bisschen Kleingeld?«, fragt er mit einem Lächeln, das von Zahnlücken geprägt ist und ganz anders wirkt als das süße Grinsen meiner Nichte. Dennoch durchsuche ich meine Manteltasche, finde zwei Euro und reiche sie ihm.
Sein strahlender Blick, als er das Geld entgegennimmt, ist voller Freude – so wie das der Zwillinge.
»Danke, Mann!«, ruft er und springt auf, um eilig davonzulaufen. Obwohl der Regen weiterhin fällt, höre ich ihn fröhlich pfeifen, bis er um die nächste Ecke verschwindet. Es ist erstaunlich, wie viel Glück eine so kleine Geste auslösen kann.
Kurz darauf vibriert mein Handy. Lisa hat mir ein Bild geschickt, auf dem die Umrisse eines Blattes zu erkennen sind. Als ich es herunterlade und erkenne, was darauf abgebildet ist, schießen mir die Tränen in die Augen. Ohne weiter nachzudenken, trete ich zurück in den Regen und mache mich auf den Weg nach Hause. Während ich gehe, kann ich nur an dieses Bild denken.
Völlig durchnässt erreiche ich schließlich die Haustür. Als ich sie öffne, sehe ich im selben Moment meine Nichte um die Ecke kommen.
Zuerst bleibt sie stehen, reibt sich die Augen und betrachtet mich verwundert, als wäre ich eine Fata Morgana. Plötzlich schreit sie auf: »Mama, Mama! Schau mal! Der Weihnachtsmann hat meinen Wunsch wirklich erfüllt!«
Sie rennt auf mich zu und wirft sich in meine Arme. Auch Lisa, Leo und Mama kommen herbeigelaufen. Während ich meine Nichte festhalte, bemerke ich, dass Mama weint und Lisa mich liebevoll anlächelt.
»Und du hast trotzdem Geschenke bekommen!«, flötet Leo fröhlich und klatscht begeistert in die Hände.
Nie hätte ich gedacht, dass gerade meine Nichte mir so deutlich zeigt, dass ich längst nicht mehr allein bin.
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