Kapitel 8 ~ Waffenstillstand (vorübergehend)
- Seokjin -
Ich sitze auf unserem Sofa im Wohnzimmer und versuche nicht einzuschlafen. Ich werde mich hier nicht wegbewegen, bevor Namjoon etwas gegessen hat. Langsam frage ich mich, was er die ganze Zeit in seinem Zimmer macht. Wir anderen haben schon längst zu Abend gegessen.
Die Jungs sind wahrscheinlich alle schlafen gegangen. Zumindest kann ich sie mittlerweile nicht mehr lautstark lachen hören. Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns. Sogar Yoongi liegt schon im Bett, obwohl er normalerweise die ganze Nacht wach ist.
Ich nehme mein Handy, das bis eben noch neben mir lag, um nachzusehen, wie spät es ist. Dreinundzwanzig Uhr. Was macht der Kerl bloß? Er wird doch nicht selbst eingeschlafen sein. Das wäre echt mies von ihm. Vielleicht sollte ich mal nach ihm sehen?
Da höre ich eine Tür und Schritte. Sie bewegen sich Richtung Ausgang. Wer geht denn um die Zeit noch raus? Langsam erhebe ich mich und schlurfe in den Korridor. Die Eingangstür ist geschlossen. Ich öffne sie und blicke hinaus in die Nacht. Es ist ganz schön kalt. Immerhin ist erst Frühling. Da sehe ich zwei Gestalten vor unserem Vorgarten. Eine von ihnen erkenne ich.
"Namjoon", rufe ich. Er dreht sich um und schaut in meine Richtung.
"Was?", schreit er zurück.
Die armen Nachbarn, denke ich noch, bevor ich rufe: "Du willst sie doch nicht wirklich gehen lassen, ohne dass sie was Anständiges gegessen hat?!"
Er dreht sich zu ihr um und sagt etwas. Ich kann in der Dunkelheit nicht viel erkennen. Sie stehen so, dass die Lichtkegel der beiden Straßenlaternen links und rechts von ihnen sie gerade nicht erreichen können. Allerdings glaube ich sie den Kopf schütteln zu sehen. Kurz darauf kehrt sie Joonie einfach den Rücken zu und läuft davon. Ich scheine richtig vermutet zu haben.
"Nun gehe ihr doch hinterher!", brülle ich in Namjoons Richtung, als er mich hilflos ansieht. Ganz im Ernst, die komplette Gruppe wäre ohne mich völlig aufgeschmissen.
"Aber wenn sie doch nicht will!", ruft Namjoon zurück.
Das ist der Moment, in dem bei den ersten Nachbarn das Licht angeht, eine Frau sich wütend aus dem Fenster lehnt und mir diverse Flüche an den Kopf wirft. Ich beachte sie nicht weiter und wende mich stattdessen wieder der dunklen Gestalt Namjoons zu.
"Du folgst ihr jetzt und bringst sie zurück oder du bekommst heute kein Abendessen!", drohe ich ihm, ohne der Frau, die mich mittlerweile versucht mit Blicken zu töten, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
"Aber Jin...", versucht er zu widersprechen.
Ich deute nur mit dem Finger in die Richtung, in die das Mädchen verschwunden ist und schaue ihm unerbittlich in die Augen. Seufzend macht er sich auf den Weg.
Ich sehe ihm noch kurz nach, gehe dann aber zurück in die Villa. Langsam wird es mir doch etwas kalt so ganz ohne Jacke.
Ich schließe die Tür hinter mir und verschwinde in der Küche, um die Nudeln für die beiden noch einmal warm zu machen.
Nach einer Weile höre ich, wie die Tür wieder geöffnet wird und jemand hereinkommt. Leise Flüche in einer mir fremden Sprache erklingen im Flur. Diesem Mädchen sollte wirklich mal jemand Manieren beibringen.
Als sie um die Ecke ins Esszimmer biegen, habe ich bereits zwei Schüsseln gefüllt und trage sie aus der Wohnküche zum Tisch.
"Setzt euch", sage ich zu ihnen und stelle die dampfenden Schüsseln samt Stäbchen vor ihnen ab. Ich platziere mich am Kopfende des Tisches und beobachte Namjoon beim Essen. Er scheint großen Hunger zu haben. Das Mädchen sitzt ihm gegenüber. Sie hat ihre Nudeln noch nicht angerührt, sondern betrachtet ihren vermeintlichen Kidnapper nur argwöhnisch.
"Nun iss schon! Das Essen ist nicht vergiftet und außerdem müsstest du rein theoretisch vor Hunger schon sterben", versuche ich sie aufzumuntern.
Sie zieht die Augenbrauen hoch, greift aber dann widerwillig nach ihren Stäbchen.
Ich habe wieder einmal Recht behalten. Es sieht beinahe so aus, als würde sie die Nudeln inhalieren, so schnell isst sie sie.
So sitzen wir schweigend eine Zeit lang am Tisch. Plötzlich werden Joons Essgeräusche von etwas unterbrochen. Irgendwer poltert gerade die Treppe nach unten. Jedenfalls einer der Maknaes; die haben ihre Zimmer nämlich im ersten Stock. Schnell stellt sich heraus, wer es ist. Denn derjenige ruft schon von Weitem: "Jin-Hyung! Hast du noch was Essbares? Ich habe Hunger!"
"Ja Taehyung-ah. Im Kühlschrank ist noch Joghurt!", antworte ich ihm schnell, bevor er das ganze Haus weckt.
Die Wohnküche ist zur einen Hälfte von einer Wand mit Küchenschränken vom Essbereich getrennt. Der Tisch steht genau hinter der Wand, weshalb wir Tae nicht und er uns nicht sehen kann. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weswegen er erschrocken wieder zurück in die Küche springt, als er sieht, wer da am Tisch sitzt.
"Warum ist die denn immer noch da?", fragt er ängstlich und linst hinter besagter Wand hervor.
"Weil ich wollte, dass sie bleibt und noch etwas isst. Und jetzt komm her und iss deinen Joghurt."
Er verschwindet wieder hinter der Wand.
"Taehyung! Komm her!", schimpfe ich.
"Nein! Die will mich umbringen! Ich gehe ganz sicher nicht noch näher zu ihr!"
Ich sehe das Mädchen an. Sie stöhnt und setzt sich die Kapuze ihres schwarzen, etwas zu großen Hoodies auf. Dann isst sie ungerührt weiter.
"Tae...", versuche ich es nochmal. Da er aber nicht antwortet, stehe ich seufzend auf und begebe mich zu ihm.
In der Küche angekommen, sehe ich ihn auf dem Tresen sitzen und seinen Joghurt essen. Seine Beine baumeln über die Kante und knallen immer wieder gegen die Schranktüren.
"Tae", seufze ich. "Lass das."
Er sieht von seinem Joghurt auf und beendet die Zerstörung meines schönen Schranks. Ehe er zum Sprechen ansetzen kann, unterbreche ich ihn schnell.
"Tae, hör mir zu. Sie ist ein ganz normales Mädchen. Und sie hat es wahrscheinlich in letzter Zeit nicht gerade einfach gehabt. Du hast gehört, was Yoongi gesagt hat. Sie ist wütend. Wer weiß schon, was bei ihr zu Hause los ist. Also bitte verzeihe ihr. Sie hat es so schon schwer genug."
Tae sitzt einfach nur da und starrt mich an. Vielleicht ist ihm das alles vorher gar nicht klar gewesen.
"Kommst du jetzt mit zu uns?" frage ich ihn.
Zögernd nickt er und springt von der Anrichte. Gemeinsam gehen wir zurück ins Esszimmer. Ich setze mich wieder auf meinen Stuhl am Kopfende und Tae nimmt neben Namjoon Platz. Er betrachtet das Mädchen misstrauisch. Sie ist inzwischen fertig mit Essen und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Arme verschränkt schaut sie den Jüngsten dieser Runde mit hochgezogenen Brauen an. Das macht sie ziemlich oft – einfach nur die Augenbrauen hochziehen.
Irgendwann seufzt sie, holt tief Luft und spricht ihn an: "Was willst du wissen?"
Ich habe ehrlich gesagt nicht bemerkt, dass Tae überhaupt etwas wissen will. Sie hingegen scheint Gedanken lesen zu können, denn sofort brechen die Fragen aus ihm nur so heraus.
"Wie heißt du? Wie alt bist du? Gehst du noch zur Schule? Hast du viele Freunde? Kannst du singen oder rappen?"
Erwartungsvoll schaut er sie an. Sie verdreht nur die Augen mit einem genervten Lächeln im Gesicht. Dann stützt sie den Kopf auf eine Hand.
"Ich heiße Hinata, bin achtzehn Jahre alt und gehe das vorletzte Jahr zur Schule. Ich habe in Seoul vier Freundinnen und kann weder singen noch rappen."
"Wirklich nicht? Schade. Obwohl, dann kann ich es dir ja beibringen! Das wird bestimmt lustig!" Tae ist auf einmal total begeistert von ihr und klatscht aufgeregt in die Hände.
"Warst du früher fröhlich? Yoongi meint ja, du bist wütend. Für mich siehst du einfach nur traurig aus. Ist irgendjemand gestorben oder..."
An dieser Stelle unterbreche ich seinen Redefluss lieber, denn Hinata sinkt immer mehr in sich zusammen und legt die Stirn schon wieder in Falten. So viel wie eben hat sie noch nie mit uns gesprochen. Also nutze ich den günstigen Augenblick, bevor Tae alles zerstört, um die mir wichtigste Frage zu stellen: "Warum warst du dann heute nicht in der Schule?"
Stille.
Hinata sieht mich mit ausdruckslosen Augen an, pustet sich den Pony aus der Stirn und lehnt sich zurück.
"Ich hatte keine Lust", entgegnet sie mir frech.
Wir werfen ihr entsetzte Blicke zu. Selbst Tae fällt dazu nichts ein.
"Du kannst doch nicht einfach nicht gehen, nur weil du keine Lust hast!", schimpfe ich sie aus.
"Warum nicht?", provoziert sie mich.
"Weil-", will ich antworten, werde aber von einem verschlafenen "Morgen" unterbrochen.
Wir drehen uns alle zur Küche um. Dort steht ein müder Yoongi mit einer dampfenden Tasse in der Hand.
"Was?", fragt er, nachdem er unsere verwirrten Blicke bemerkte.
"Es ist fast zwölf. Nachts", klärt Namjoon ihn auf.
"Oh", entgegnet er nur und schlurft zu uns, um sich neben Tae zu setzen. Jetzt erst sieht er Hinata. Er schaut sie aber nur kurz an, runzelt die Stirn und wendet sich dann wieder seinem Tee zu.
"Ehm, willst du gar nicht wissen, was sie hier macht?", wird Yoongi von seinem Sitznachbarn aus den Gedanken gerissen. Der Ältere stöhnt, schaut Tae an und fragt genervt: "Was macht sie hier?"
"Essen. Und meine Fragen beantworten!", antwortet der Gefragte glücklich. Yoongi schnaubt und trinkt vorsichtig seinen heißen Tee.
"Mann! Was kann ich dafür, dass du sie schon letzte Nacht kennengelernt hast?"
"Ich habe sie nicht kennengelernt. Ich habe sie gesehen", brummt er.
"Warte was? Du hast mich gesehen? Wo? Und redet nicht über mich, als wäre ich nicht anwesend!"
Jetzt starren alle das einzige Mädchen im Raum an.
"Wie jetzt? Du weißt echt nicht mehr, dass du Yoongi-Hyung getroffen hast?", stellt Joon die Frage, die wohl uns alle beschäftigt.
"Nein."
"Wenn er doch sagt, er hat sie nur gesehen."
"Das kann doch nicht sein."
"Hast du irgendwelche Gedächtnisprobleme?"
Alle beginnen gleichzeitig auf sie einzureden. Doch da stoppt Yoongi mit einer Handbewegung das wilde Durcheinander.
"Letzte Nacht. So gegen eins. In der Nähe des alten Kifferparks. Erinnerst du dich? Du hast mich gefragt, wie du nach Yongsan-gu kommst."
In ihren Augen leuchtet die Erkenntnis.
"Also du warst der dämliche Typ, der mich so strohdumm angeglotzt hat, ohne es für nötig zu halten mir zu antworten! Alter, wegen dir habe ich mich dann vollkommen verlaufen und bin in so einer Sammelstelle für Obdachlose gelandet!"
Prompt beginnt erneut das Wirrwarr aus Stimmen. Diesmal ist es allerdings an Yoongi gerichtet.
"Warum hast du ihr den Weg nicht gesagt?"
"Weiß ich doch nicht."
"Was für eine Sammelstelle?"
"Warum ist man überhaupt nachts um eins noch in so einer Gegend?"
Wir hören erst auf zu diskutieren, als Hinata ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten schiebt und aufsteht.
"Was hast du vor?", frage ich sie misstrauisch.
"Na, ich gehe nach Hause."
"Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du bleibst bei uns. Es ist viel zu spät, als dass du jetzt noch alleine irgendwo hingehst."
"Kim Seokjin. Erstens bin ich die gesamte letzte Nacht allein in Seoul gewesen und zweitens geht dich das gar nichts an!"
Sie läuft schon Richtung Korridor. Wenn wir uns nicht beeilen, ist sie gleich verschwunden. Wir springen alle gleichzeitig auf. Joon wirft dabei seinen Stuhl um, sodass es laut knallt. Also wenn die anderen jetzt noch schlafen...
Ich bin als Erster an der Tür und versperre ihr den Weg. Tae schlingt seine Arme von hinten um sie, sodass sie sich nicht mehr wehren kann. Namjoon ... stolpert über seine Füße und schmeißt Yoongi fast um, der als Einziger nicht gerannt ist.
"Du – bleibst – hier!" Ich betone jedes einzelne Wort und zeige dabei mit dem Finger auf Hinata.
"Verdammt nochmal! Was habt ihr für Probleme?" Sie versucht sich aus Taes Griff zu befreien, sieht aber ein, dass es unmöglich ist aus seinen Umarmungen frühzeitig wieder heraus zu kommen.
"Diesem Mädchen sollte mal jemand den Mund mit Seife ausspülen. Das ist ja nicht mehr normal", kommt es trocken von der Treppe. Dort steht der Rest der Jungs und sieht uns interessiert zu.
Auch Hinata hat sie entdeckt. Stöhnend hört sie auf um sich zu treten.
"Gut. Schön. Bleibe ich eben hier. Bringt so oder so nichts zu meinem Vater zu gehen", mault sie vor sich hin.
Sofort lässt Tae sie los und vollführt einen Freudensprung. Also Angst hat er ganz offensichtlich nicht mehr vor ihr. Yoongi schüttelt nur resigniert den Kopf, als er das sieht und verschwindet wieder im Esszimmer.
Hinata lehnt mit verschränkten Armen an der Wand und sieht mich herausfordernd an: "Und was jetzt?"
Dieser Satz kommt mir bekannt vor. Ich drehe meinen Kopf Richtung Treppe. Hoseok, Jimin und Jeongguk stehen immer noch ratlos da. Denen sind wir wohl einige Antworten schuldig.
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-Joiy
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