Kapitel 51 ~ Die Chroniken
- Yuki -
„Und das hier", erklärt meine Oma mit ihrer brüchigen Stimme, „ist ein Fotoalbum von meinem Vater, also deinem Urgroßvater."
Ihre zitternden, dünnen Finger deuten auf ein dickes Buch, ganz oben in dem verstaubten Bücherregal.
Wie ich den Dachboden doch liebe. Immer wieder gibt es neue Dinge zu entdecken. Allein in einem der Fotoalben stecken so unfassbar viele Geschichten, so viele Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts.
Ich ziehe gespannt das in braunes Leder gebundene Buch aus dem Regalfach und schlage die erste Seite auf. Sofort strömt mir der Geruch nach alten Büchern entgegen, gemischt mit ... Salz?
Ohne weiter darüber nachzudenken, wende ich mich der ersten Seite zu.
Ich betrachte eines der vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos. Es ist nur sehr schwer etwas darauf zu erkennen, da die Qualität ziemlich schlecht ist. Es scheint düster gewesen zu sein und vier in Arbeitssachen gekleidete Männer grinsen fröhlich in die Kamera.
„Das da ist dein Urgroßvater." Meine Oma zeigt auf einen der Männer und lächelt versonnen.
„Wo wurde das Foto gemacht?", frage ich, während ich fasziniert über die glatte Oberfläche des Bildes streiche.
Angesichts meines offensichtlichen Interesses beginnt meine Großmutter begeistert zu erzählen. „Er hat in einer Rüstungsindustrie gearbeitet, als er noch in Korea lebte. Dieses Foto wurde", sie überlegt kurz, „ungefähr 1950 dort aufgenommen. Damals begann gerade der Koreakrieg."
Fragend sah ich sie an. Ich wusste zwar, dass es so etwas wie den Koreakrieg gegeben hat, aber mehr auch nicht.
„Nach dem Zweitem Weltkrieg stritten sich Nord- und Südkorea darum, welches von beiden das richtige Korea ist, wodurch es 1950 schließlich zum Krieg kam", erklärt sie.
„Und dann, 1953, als der Krieg fast vorbei war, haben die Nordkoreaner Bomben über Seoul fallen lassen. Eine schlug direkt neben der Fabrik ein, in der dein Urgroßvater arbeitete. Er hat uns Kindern manchmal davon erzählt. Erst war nur ein seltsames Pfeifen zu hören, und dann auf einmal ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einer Druckwelle. Ein Stützpfosten der Fabrik wurde wohl zerstört, sodass sie in sich zusammenbrach. Es wurden viele der Arbeiter erschlagen, dein Urgroßvater ist jedoch mit dem Schrecken davongekommen. Daraufhin ist er nach Deutschland gezogen, wo er meine Mutter kennenlernte."
Das ist also der Grund, warum er Korea verlassen hatte. Doch warum gerade nach Deutschland? Ich speichere jedes ihrer Worte in meinem Gedächtnis ab. Sobald ich die Gelegenheit dazu habe, muss ich Hinata davon erzählen.
Als wir das letzte Mal telefonierten, hat sie mir von dem Testament berichtet - dass sie es gelesen hat und auch davon, dass sie vor hat, das rätselhafte Gedicht zu lösen.
Gerade will ich ihr noch ein paar Fragen stellen, aber da dreht sich Großmutter schon zu der alten Holztreppe um, die nach unten führt und meint: „Du kannst dich gern noch ein bisschen umsehen, ich gehe Mittagessen kochen."
Und damit läuft sie langsam und scheinbar unter starken Schmerzen die quietschende Treppe nach unten. Besorgt schaue ich ihr nach und meine Neugierde über die Geschichte meines Urgroßvaters ist sofort vergessen. Sie ist krank, sehr sogar. Teilweise sind es Alterserscheinungen, teilweise hat es damit zu tun, dass sie einen Herzfehler hat.
Aber sie ist leider die sturste Person, die ich kenne, schlimmer als mein Vater und schlimmer als Hinata. Liegt wohl in der Familie. Jedenfalls weigert sie sich, ins Krankenhaus oder auch nur zum Arzt zu gehen.
Als sie weg ist, seufze ich laut, wende mich aber wieder dem Regal zu. Wenn sie sich nicht helfen lassen will, kann ich das nicht ändern, wir können sie immerhin schlecht zwingen.
Meine Augen gleiten einen Buchrücken nach dem anderen ab. Es sind sowohl Romane als auch Ordner mit alten Rechnungen, Fotoalben, Kinderbücher... Schließlich bleibe ich bei einem kleinen Buch, das ganz in die hinterste Ecke des Regals gequetscht wurde, hängen. Es hat keine Aufschrift auf dem Buchrücken, sodass ich nicht erkennen kann, worum es sich handelt.
Doch irgendwie hat es etwas anziehend, etwas, was mich mit einer unheimlichen Kraft daran fesselt, sodass ich nicht weitergehen kann, sondern es nur anstarre. Nach einer Weile, ich kann nicht beurteilen, wie lange ich es einfach nur angesehen habe, ziehe ich es schließlich heraus und betrachte den Einband. Es ist dem Anschein nach schon ziemlich alt, genau wie alles hier oben. Die Oberfläche ist kalt und glatt und die Ecken umgeknickt. Vorsichtig öffne ich es. Wieder strömt mir dieser sonderbare Geruch nach Salz entgegen, welcher mir in der Nase kitzelt.
Die erste der vergilbten Seiten ist leer bis auf eine kleine Bemerkung, die auf den unteren Rand mit einer verschnörkelten Handschrift geschrieben wurde.
Geführt seit 1965 von Chang Sungha
Chang Sungha – mein Urgroßvater!
Ich blättere gespannt weiter. Die Seiten sind so dünn, wie die einer Bibel und so brüchig, dass ich mich kaum traue zu atmen, geschweige denn sie mehr als unbedingt nötig zu berühren. Wieder ist die Seite fast leer, doch nun steht in der Mitte, ebenfalls in der verschnörkelten Schrift meines Urgroßvaters :
Chroniken der Familie Chang
Seit 1906
Ich kann mein Glück kaum fassen. Die Chroniken unserer Familie – und dann sind sie auch noch so alt. Vorsichtig blättere ich die nächste Seite um. Ganz oben in der Mitte steht ein Name, Chang Julyn, dann die Geburts- und Sterbedaten. 1906 – 1948.
Zwei zusammengefalteter Zettel liegen ebenfalls auf dieser Seite. Ich entfalte sie. Sie sind komplett auf Koreanisch geschrieben und soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich um eine Geburts- und eine Sterbeurkunde. Ich lege sie wieder in das Buch und blättere weiter. Auf der nächsten Seite steht wieder ein Name, der Name des Mannes von Julyn und darunter seine Lebensdaten, sowie wann die beiden geheiratet haben.
Noch eine Seite weiter stehen gleich drei Namen. Zwei davon sagen mir nichts und es steht auch kein Sterbedatum bei den beiden, als ob sie verschwunden wären. Doch der dritte Name ist der Name meines Urgroßvaters, Chang Sungha.
Die anderen beiden sind wohl seine Geschwister, also die Kinder von Julyn. Das würde auch erklären, warum sie kein Sterbedatum haben. Mein Urgroßvater hat das Buch laut dem Datum der ersten Seite verfasst, als er schon in Deutschland war. Also hat er wahrscheinlich nie erfahren, wann seine Geschwister gestorben sind, da in Korea blieben.
Er selbst ist 1933 geboren, doch sein Sterbedatum, 2008, steht in einer anderen Handschrift geschrieben. Klar, er konnte schließlich nicht selber dokumentieren, wann er starb. Doch wer war es dann? Meine Großmutter? Mein Vater?
Auf den nächsten Seiten steht nichts, es liegen nur ein paar Fotos einzeln darin. Sie haben wie die aus dem Fotoalbum eine sehr schlechte Qualität, aber man erkennt, dass auf jedem Foto zwei Mädchen und ein Junge abgebildet sind - mein Urgroßvater mit seinen beiden Schwestern.
Dann kommt zum ersten Mal ein deutscher Name – die Frau meines Urgroßvaters, Hedwig Schneider.
Fasziniert blättre ich eine Seite nach der anderen um. Was ich sehe sind Fotos mit zunehmend besser werdender Qualität, Namen, Daten und Dokumente, bis ich schließlich auf ein Datum stoße, welches mir mehr als bekannt vorkommt.
14.09.1996
Darunter zwei Namen. Chang Hinata und Chang Yuki.
Auf der nächsten Seite ist die Trennung unserer Eltern, sowie der Umzug nach Korea vermerkt. Bei dem Gedanken daran, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Wie automatisch entweicht mir ein wehmütiges Seufzen.
Dann blättere ich auf die nächste Seite. Sie ist leer, genau wie alle folgenden Seiten. Natürlich, unsere Linie endet vorerst hier.
"Yuki, kommst du essen?", höre ich meine Großmutter von unten rufen.
"Ja, komme gleich." Ich schiebe die Traurigkeit in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. Mit ein paar schnellen Handbewegungen klappe ich die Chroniken zu und lege sie auf das Fotoalbum. Beides klemme ich mir unter den Arm und mache mich auf den Weg nach unten.
Ich muss unbedingt Hinata von der ganzen Sache hier erzählen. Vielleicht hilft es uns ja weiter, das Geheimnis unseres Urgroßvaters zu lösen.
Ja, vielleicht. Und vielleicht wird unser Vater dann zurück nach Deutschland kommen. Schließlich gäbe es ja keinen Grund mehr, länger in Korea zu bleiben.
Vielleicht...
~~~
-Mie
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