zweiundzwanzig
MESS IS MINE. vance joy
Z W E I U N D Z W A N Z I G
Nachdem Lika mindestens vier mal anhalten musste, damit Sarah sich im nächsten Graben übergeben konnte, wäre ich vor Scham am liebsten vom Erdboden verschluckt worden. Zum Glück waren die Strassen zu dieser Uhrzeit kaum belebt, sodass wir uns nicht auch noch um den Gegenverkehr kümmern mussten. Während Lika im Rückspiegel immer wieder einen Blick zu mir rüberwarf und dabei ungeduldig mit dem Daumen auf das Lenkrad tippte, entschuldigte ich mich immer wieder bei ihm, was er mit einem müden Lächeln abschüttelte. Dann verfielen wir in ein ungenehmes Schweigen.
Irgendwann tauchte der Kirchbaum mit der verrosteten Schaukel in meinem Blickwinkel auf, sodass ich erleichtert ausatmen musste. Das Ganze würde bald ein Ende haben. Ich würde mich von Lika verabschieden und am nächsten Morgen nach einer neuen Arbeit suchen, denn vor Scham wagte ich es nicht einmal mehr, ihm in die Augen zu schauen. ,,Das weisse Haus links", bekam ich so gerade heraus und Likas Nicken nahm ich durch den Rückspiegel war.
,,Dann wären wir da", sprach Lika, bevor er sich abschnallte und mir hintere Autotür öffnete, sodass ich mir mit Sarah in den Armen einen Weg zur Haustür bahnen konnte. Nur so gerade schaffte ich es, den Schlüssel aus meiner Handtasche zu kramen, ohne, dass Sarah mir aus den Armen fiel. 'Willkommen in unserem wunderschönen Zuhause' wollte ich Lika sagen, um die ohnehin schon gekippte Stimmung aufzuheitern, doch stattdessen presste ich meine Lippen aufeinander.
,,Ah, verdammt", fluchte Lika in der Dunkelheit und da fiel mir erneut auf, dass der Kronleuchter noch immer nicht geflickt worden war. Der alte Schuhschrank, der sich direkt am Eingang fand, war sicherlich der Grund seines Aufschreis gewesen. Also konnte der Abend doch noch schlimmer werden, stellte ich zu meinem Bedauern fest.
,,Tut mir leid, der Kronleuchter ist schon eine Weile kaputt. Wir wollte uns eigentlich darum kümmern, aber dafür hat irgendwie die Zeit gefehlt...wir haben es vergessen", murmelte ich und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln, was er in der Dämmerung gewiss nicht erkennen konnte.
,,Hast du es dir eigentlich zum Ziel gemacht, mich umzubringen? Zuerst meine Nase im Supermarkt und dann das?" Jetzt dachte er also wirklich, dass ich ihn umbringen wollte? Genügend Hinweise gab es dafür ja immerhin schon.
,,Nein, es war keine Absicht. Ich bin nur unheimlich tollpatschig und ich will dich definitv nicht umbringen. Du hast einfach ein schlechtes Karma und bist zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. In der Tiefkühltruhe in der Küche liegt normalerweise noch eine Packung Brokoli. Ich bringe Sarah dann mal ins Bett", verabschiedete ich mich von ihm. Vielleicht war dieser Abschied auch für immer, denn wie sollte ich ihm in nächster Zeit nur ohne Scham in die Augen blicken können. Gar nicht.
Seufzend, schloss ich die Augen und riss mich zusammen. Jetzt musste ich erstmal schauen, dass Sarah ins Bett kam und ausschlief. "Danke nochmal...ich weiss wirklich nicht, was ich ohne dich getan hätte."
,,Kein Ding."
***
Als ich runterkam, flackerte das Licht in der Küche tatsächlich noch. Dabei war ich mir sicher, dass ich es ausgeschaltet hatte, bevor ich raufgegangen war. Bevor ich das Licht ausschalten konnte, erblickte ich zu meiner Überraschung den Lockenkopf im Wohnzimmer, welches nur so vor Erinnerungen strahlte. Die Packung Brokoli ruhte in einem Küchentuch umwickelt an seinem Knie.
Likas Blick folgte neugierig den Erinnerungen, die sich während der Jahre auf den neun Quadratmetern angesammelt hatten. Das war Tante Marias grösster Stolz gewesen. An dieser Wand hingen nicht nur Bilder von Sarah und mir, als wir als Kinder unsere erste Schneeballschlachten gehabt hatten, sondern auch Bilder von unserem ersten Schultag und sogar unserer Diplomverleihung. Likas Blick hing gerade an dem Bild, worauf Sarah und ich mit Tante Maria Plätzchen backten und gleich daneben hing das Bild mit dem Weihnachtsmann.
,,Da waren wir fünf und sieben", murmelte ich, sodass letzterer kurz zusammenzuckte. Das war erst der Anfang einer Reise in meine Vergangenheit. Innerhalb von wenigegn Sekunden war ich dabei, Lika an sämmtlichen Momenten meines Lebens teilnehmen zu lassen. Er liess es sich nicht vergehen, mich zu necken, doch am Ende lachten wir gemeinsam über seinen Witz.
Ich verlor mich in meinen Gedanken, doch plötzlich zog mich Likas Lachen zurück. Mit einem neckenden Lächeln zeigte er auf das Bild, welches an meinem 16. Geburtstag entstanden war, einen Bild, worauf ich mich selbst manchmal nicht wiedererkannte. Die 16-Jährige Kenya trug rote, gefärbte Haare und ein bauchfreies Shirt, welches ihr Bauchpiercing zeigte. Ihre Zunge hatte sie rausgesteckt, sodass auch da nicht der silberne Stein unbemerkt blieb. Das hatte nur noch gefehlt.
,,Das ist eine ziemlich lange Geschichte glaub mir", verteidigte ich mich.
,,Also warst du eine richtige Rebelle?", stellte Lika fest und grinste mich amüsiert an.
,,Ach komm schon, jeder hatte doch so eine Phase...Aber ja, das kann man so sagen. Früher hätte ich alles gegeben, um bei meinem Umfeld aufzufallen."
,,Was ist mit dieser Kenya passiert?"
,,Ich habe diese Seite vor Jahren aufgegeben. Damals war es mein Hilferuf, denn ich hätte alles gegeben, um Aufmerksamkeit von meiner Mutter zu bekommen, doch irgendwann habe ich aufgegeben, weil es zu anstrengend wurde. Ich habe mit der Zeit verstanden, dass ich niemanden dazu anbetteln sollte, mich zu lieben, denn das Leben ist doch ohnehin schon schwer genug, oder?" Überrascht über meine eigenen Worte biss ich mir auf die Zunge und blickte zu ihm rüber. Seine Augenbrauen zogen sich zu einem schmalen Strich zusammen, was darauf hinwies, dass er nachdachte. Als das Schweigen sich in die Länge zog, dachte ich, das Ende dieser Konversation gefunden zu haben.
Plötzlich trafen sich unsere Blicke. Schwarz traf auf blau. Dieser Moment liess mich die letzten Stunden dieses Abends vergessen, sodass sich die Spannung in meinem Körper langsam löste. Meine Schultern sackten in die Tiefe, während seine Augen an meinen festhielten. ,,Ich denke, es ist viel einfacher, dich zu lieben, als du denkst, Kenya", sprach er.
Seine Worte trafen mich härter, als ich zugeben wollte. Sollte das eine Lüge sein...ein Scherz vielleicht? Nach meheren Sekunden Nachdenken musste ich zum Entschluss kommen, dass Lika es ernst meinte. Dabei war er die erste Person, die mich das wissen liess, denn über die Jahre hatte es immer gehiessen, dass ich zu kompliziert sei. Ich hatte schon früh verstanden, dass es schwer war, mich zu lieben und in meiner Beziehung mit Marcel hatte ich es erst recht nicht gewagt, jenes in Frage zu stellen. Likas Blick, nein diese Lüge konnte ich auf Dauer nicht aushalten, also wisch ich zurück. ,,Wenn du nur wüsstest", murmelte ich.
Likas blaue Augen sprachen eine Sprache, die ich nicht entschlüsseln konnte. Einen kurzen Moment setzte er an, um etwas zu erwidern, doch plötzlich presste er seine Lippen aufeinander und liess mich verwirrt zurück.
,,Schau dir das Meisterwerk mal an", wechselte ich das Thema in dem ich ihm eine der Socken hinhielt, die ich über die letzten Tage gehäckelt hatte. Zwar fand man an der ein oder anderen Stelle ein Loch vor, doch nichts konnte mich davon abhalten, stolz auf mein Werk zu sein. ,,Du hattest Recht, es hat etwas Beruhigendes an sich."
,,Ich denke, es würden einige deiner Zehen rausschauen, wenn du die tatsächlich anziehst." Neckend hob er eine Augenbraue. ,,Aber das ist gar nicht schlecht so für einen Anfang. Glaub mir, als ich angefangen habe, sah das noch ganz anders aus."
,,Ohhh, das will ich aber sehen. Schlimmer als diese Socke kann es wohl nicht gewesen sein", grinste ich und liess mich an seiner Seite auf dem Sofa fallen. Der Lockenkopf zog sein Handy aus seiner Hosentasche, öffnete seine Galerie und suchte eine Weile bis er die Fotos fand. ,,Also den Frosch habe ich vor zwei Jahren gehäckelt." Beim Anblick des grünen Etwas, konnte ich mir mein Lachen kaum verkneifen. ,,Das soll ein Frosch sein? Es sieht eher aus wie." Ich legte meinen Kopf schief und suchte dabei die Schönheit im Stofftier, doch ich fand sie nicht. Schlussendlich gab ich es auf und erwiderte: ,,Ich kann es gar nicht in Worte fassen, aber wie sagt man immer? Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters."
,,Akzeptieren wir einfach, dass es hässlich ist."
,,Ja, es ist sehr hässlich." Bei meinen Worten zogen sich Likas Lippen zu einem Lächeln. Es war ein schönes Lächeln, eins, was die Kraft hatte, einen ganzen Raum zu erhellen, davon war ich überzeugt. ,,Hast du noch welche?", fragte ich. Mit einem Nicken machte er sich auf die Suche nach weiteren Fails, und währenddessen musterte ich interessiert seine Galerie.
,,Warte mal. Bist du das?" Überrascht zeigte ich auf ein Bild, auf dem ich einen dreijährigen Lika vermutete, der die Hand einer jungen dunkelhaarigen Frau hielt. Ihre blauen Augen und die betonten Wangenknochen erinnerten mich zu sehr an die von Lika, sodass ich mir ein ,,Awww" nicht verkneifen konnte. ,,Da war ich vier", erwiderte Lika leise. Seine Stimme war zurückhaltender geworden, sein Lächeln vorsichtiger. Liebevoll verschränkte ich meine Hand mit seiner und drückte sie leicht. ,,Sie hiess Antea"
,,Das ist ein wunderschöner Name."
,,Ja, das war er. Ein wunderschöner Name für eine wunderschöne Frau", flüsterte Lika und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Anstatt ihn abzustossen, liess ich diese kleine Geste zu und genoss das Feuer, welches sie auslöste. Von Sekunde zu Sekunde wurde dieses Feuer intensiver, unerträglicher, doch ich wisch nicht zurück. Nein, stattdessen sass ich hier, atmete sein Parfüm sehnsüchtig ein, gravierte es in mein Inneres ein. Sein warmer Atem streifte über mein Haut, liess mich nach Luft schnappen. Bevor Lika etwas bemerken konnte, zeigte ich auf das ältere Kind, welches sich auf dem Bild ebenfalls an seiner Seite befand. Seine haselnussbraunen Augen kamen mir unheimlich bekannt vor und dann waren da auch noch die blonden Haare. ,,Ist das dein Bruder?"
Er nickte, sah dem Jungen dabei kein einziges Mal in die Augen.
,,Hast du jemanden schonmal so sehr gehasst, dass du dir gewünscht hast, diese Person wäre niemals Teil deines Lebens geworden? Bei mir war es mein Bruder", antwortete Lika ohne zu zöger. ,,Er war wie unser Vater...selten anwesend, sowie alle schlechten Väter und Ehemänner. Ich habe mich als kleiner Junge immer sehr nach einem männlichen Vorbild gesehnt. Ich musste mir selbst beibringen, wie man sich den ersten Bart selbst rasiert und natürlich wie man eine Kravatte bindet. Wenn du nur wüsstest, wie oft ich mich geschnitten habe." Dass Lika es in dieser Situation noch schaffte, zu lächeln, fand ich verdammt stark.
,,Ich musste lernen ein Mann zu werden, ohne dass mich jemand da durchführen konnte. Ich habe ihn jahrelang dafür gehasst, dass er so ein schlechter Mensch war, doch mit der Zeit ist mir bewusste geworden, dass mich dieser Hass kaputt macht und mich Stück für Stück in ihn verwandelt. Weisst du Kenya, ich habe das alles zurücklassen können und Ruhe finden können. Ich habe verstanden, dass genau das das wichtigste ist. Das macht uns sonst nur noch mehr kaputt und eins habe ich mir geschworen: nicht so kaputt zu werden, wie er. Heute kann ich über ihn reden, ohne dass meine Hände sich zu Fäusten ballen...Tut mir leid, ich kann manchmal ziemlich viel reden. Aber manchmal reicht es, sich dem anderen zu öffnen, um sich besser zu fühlen." Lika hatte recht, musste ich zugeben, also nahm ich Anlauf und ohne über die Konsequenzen nachzudenken, öffnete ich mich ihm.
,,Meine Mutter war schon immer mein grösstes Vorbild. Als Kind habe ich sie geliebt, weil ich ja noch nicht wusste, dass sie ihre Arbeit immer vor ihre Kinder stellen würde. Es hat früh angefangen, sie war kaum zuhause und bei Schulausflügen war sie auch nie da. Als Entschuldigung hat sie uns mit Designerstücke bestechen wollen, so als könnte man Liebe und Erinnerungen kaufen. Umso älter ich wurde, desto eher wurde mir bewusst, dass sie mich in die Rolle der perfekten Tochter drängen wollte, also habe ich mir während meines Urlaubs bei Tante Maria die Haare färben lassen. Sie hatte ein Frisörsalon drüben um die Ecke. Irgendwann war ich dann weg, weil ich mir den ganzen Druck nicht mehr geben wollte. Letzte Woche stand sie dann plötzlich vor der Haustüre und irgendwie habe ich daran geglaubt, dass sie sich verändern könnte. Naja, darauf hat sie dann geschissen, denn natürlich ist die Arbeit wichtiger. Jetzt ist meine Schwester ein emotionales Wrack und ich habe keine Ahnung, wie ich ihr da helfen soll. Ich kann die beste Schwester der Welt sein, doch ich kann keine Mutter für sie sein. Der Schmerz bleibt."
Aufmerksam lauschte er meinen Worten und unterbrach mich kein einziges Mal. Es fühlte sich so an, als würden ihn meine Gefühle wirklich interessieren. Vielleicht gab es auf dieser Welt tatsächlich noch Menschen, die sich um ihre Mitmenschen kümmerten. ,,Kenya. Ich denke, du gibst schon mehr als genug. Der Schmerz bleibt wahrscheinlich für immer, glaub mir. Mit der Zeit wird es erträglicher und man lernt damit umzugehen."
Wieso verstand er mich plötzlich besser, als ich es selbst über die Jahre getan hatte?
,,Ich-", versuchte ich ihm zu antworten, doch nichts. Lag es daran, dass es bereits fast drei Uhr morgens war oder einfach an der Tatsache, dass er mich Dinge realisieren liess, die ich nicht wahrhaben wollte?
,,Jetzt ist erstmal Schluss mit bedrückender Stimmung. Erzähl mir etwas mehr über dich", sagte ich stattdessen. Anstatt der Tatsache in die Augen zu schauen, rannte ich lieber vor ihr weg...wie immer.
,,Lass mich überlegen. Was weisst du noch nicht über mich? Ich bin charmant, ziemlich attraktiv und witzig. Ich bin ein schlechter Verlierer, also solange du keine Brettspiele auspackst."
,,Das muss ich sehen."
,,Kenya, du wirst es bereuen", warnte er mich. Ich liess mir das erst recht nicht ausreden, sondern, griff im Regal neben unserem Sofa nach der alten Spielesammlung.
,,Du hast es so gewollt." Lika nahm gegenüber von mir Platz und half mir dabei, das Schachbrett aufzubauen. Kaum stand die letzt Figur, begann der Kampf um den Sieg. Nach einem ewigen Hin und Her, stand der Seiger fest.
,,Ha! Gewonnen." Triumphierend warf ich die Hände in die Höhe, während Lika nur die Augen verdrehte. Er hatte recht, er war wirklich ein sehr schlechter Verlierer.
,,Ja, aber nur weil man schöne Frauen nicht verlieren lässt. Wieso glaubst du, habe ich dich die letzten drei Male gewinnen lassen. Aber jetzt, wo du es sagst, ist es Zeit, dass ich dir zeige, was ich so draufhabe."
,,Das glaubst du doch selbst nicht", grinse ich.
In der nächsten Runde zweifelte ich dann tatsächlich an meinem Sieg. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, als ich angestrengt über meinen nächsten Zug nachdachte. Ein falscher Schritt und Lika gewann. "Apropo wunderschöne Frau. Renee und Jakob heiraten ja demnächstund ich habe noch keine Begleitung, also dachte ich mir, dass du vielleicht meine Begleitung für den Abend sein könntest." Meine Augen hoben sich für das erste Mal in zwei Sekunden vom Spielbrett und trafen auf das unsichere Lächeln Likas. Ohne richtig nachzudenken, bewegte ich meine letzte Figur in die bestmögliche Ecke, mit der Hoffnung auch dieses Mal zu gewinnen. Bevor ich etwas erwidern konnte, unterbrach er mich:
,,Schachmatt."
©madeincameroon
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