vierundzwanzig
HINTER KLUGEN SÄTZEN. annenmaykantereit
Ungeduldig kickte ich einen Stein nach dem anderen in den Busch, der sich vor dem Pfarrheim befand und dessen Äste bereits aus allen Ecken hervorragten. Aus der Ferne hörte man Kinder spielen und der Geruch von frisch gemähtem Gras kündigte den Sommer an. Das Geniessen der tanzenden Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht wurde mir durch mein pochendes Herz und den Schweissperlen an meiner Stirn erschwert. Ich zückte den Flyer heraus, den ich heute Morgen in Eile in meine Gesässtasche gesteckt hatte, um mich zu vergewissern, dass ich auch vor dem richtigen Gebäude stand. ,,Selbsthilfegruppe für häusliche Gewalt", sprangen mir die Worte erneut ins Auge und jagten mir ein Schauer ein. Ich war tatsächlich an der richtigen Bushaltestelle ausgestiegen.
In fünf Minuten würde es losgehen, das wusste ich und aus genau diesem Grund traute ich mich nicht, einen Fuss nach dem anderen zu setzen. Der Gedanke daran, mit Menschen in einem Kreis zu sitzen, die genau das Gleiche erlebt hatten, fesselte mich, überschwemmte mich mit Angst. Tief in meinem Inneren wusste ich nicht, ob ich das verkraften würde. Die letzten Monate hatte ich es geschafft genau diesen Erinnerungen zu entfliehen. Durch eine Mauer hatte ich mich vor meiner Vergangenheit schützen können und jetzt fühlte es sich so an, als könnte ein einziger Windschlag diese Abdämmerung umreissen. Gott sei Dank riss mich das Vibrieren meines Handys aus meinen Gedanken, sodass ich es kurzerhand aus meiner schwarzen Tasche fischte.
,,Du schaffst das", lass ich Sarahs Nachricht leise vor. Unsicher darüber, was ich antworten sollte, verstaute ich mein Handy wieder. Sarah war diejenige, die auf die Idee gekommen war, mich für eine Selbsthilfegruppe einzuschreiben, und sie hatte nach wochenlanger Diskussion auch nicht nachgelassen, bis ich ihr versprechen musste, ihrer Idee wenigstens eine Chance zu geben. Im Gegensatz zu mir hatte sich nach Beatrices Verschwinden wirklich um einen Therapieplatz bemüht und bereits ihre erste Sitzung abgehalten. Den Flyer mit den verschiedenen Angeboten hatte sie mir wenige Tage später nur stur unter die Nase gelegt, sodass ich nicht hätte nein sagen können.
Bevor ich es mir anders überlegte, riss ich die Tür zum Pfarrheim auf. Unverzüglich grub sich der Geruch von altem Holz und Feuchtigkeit in meine Nase. An den Wänden des schmalen Eingangs fielen mir als erstes die bunten kindlichen Zeichnungen auf, dessen Farbe langsam abfiel. Ein DIN A4 Blatt am Ende des Korridors markierte den Anfang meiner persönlichen Hölle. ,,Du schaffst das", flüsterte ich mir zu bevor ich die Tür aufriss. Zu meiner Überraschung sassen bereits mehrere Menschen in einem Stuhlkreis und musterten mich neugierig. ,,Hey", bekam ich so gerade raus und krönte es mit einem schiefen Lächeln.
,,Guten Tag. Schön, dass du hier bist", begrüsste mich eine Frau, die ich mitte Vierzig schätzte. Mit einem liebevollen Lächeln deutete sie auf den freien Stuhl neben sich, sodass ich jetzt erst recht nicht mehr flüchten konnte. Vor Panik klemmte ich meine Unterlippe zwischen meine Zähne, sodass ich den Schmerz nach einer Weile gar nicht wahrnahm. ,,Danke", murmelte ich und liess mich an ihrer Seite fallen, dabei wagte ich es nicht, aufzuschauen. ,,Schön, dass ihr heute alle gekommen seid. Manche von euch kennen mich schon, andere noch nicht. Für diejenigen, die mich noch nicht kennen: Ich heisse Astrid, bin 43 Jahre jung und werde diese Selbsthilfegruppe die nächsten Monate leiten. " Astrid nutzte die Sprechpause, um sich zu gewissern, dass auch jeder zugehört hatte, in dem sie ihren Blick durch die Runde schweifen liess.
,,Ihr seid einen grossen Schritt gegangen, in dem ihr euch dazu entschieden habt, über euren Schatten zu springen. Darauf könnt ihr stolz sein. Mein Ziel ist es, dass wir uns in dieser Gruppe alle wohlfühlen können. Ihr müsst nicht reden, wenn ihr nicht wollt, aber ihr solltet wissen, dass euch hier niemand verurteilt." Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, erzählten sie von ihre Ängste und ihre Kämpfe, sowohl die verlorenen als auch die aufgegebenen. Anna erzählte von ihrem Freund, dem sie vorgespielt hatte, einen Termin bei der Gynäkolgin zu haben, den sie jedoch zu sehr liebte, um ihn zu verlassen. Ihre feinen blonden Haare kaschierten kaum den Handabdruck an ihre linken Wange, als sie sprach. Von Felix erfuhren wir, dass er nach zwei Jahren noch immer um das Sorgerecht seiner dreijährigen Tochter kämpfte und wie schwer er sich damit tat, einen Anwalt zu finden, der ihn als Opfer häuslicher Gewalt anerkennen wollte. Und als Josephine über ihre Heilung reflektierte, dabei beschrieb, wie sie aufgehört hatte, sich die Schuld für das zu geben, was ihr ihr Mann angetan hatte, bekam ich das Gefühl, verstanden zu werden.
Abrupt wurde die Tür einen Spalt aufgerissen, sodass Josephine ihren Satz abbrach und genauso wie die anderen zur Tür sah. Erst jetzt fiel mir auf, dass noch ein Stuhl einsam an einer der bemalten Wände stand und darauf wartete, mit einbezogen zu werden.
Als erstes erblickte ich einen Lockenkopf und als er die Tür nun hinter sich schloss, erkannte ich ihn... Lika. ,,Hey Astrid, tschuldigung für die Verspätung...ich-" Seine Schultern sackten kraftlos zu Boden, als sich seine Augen in meinen verloren. Tausende Fragen brannten mir auf der Zunge. Was tat er hier? Plötzlich fühlte sich mein Mund so verdammt trocken an und als dann auch mein Herz nachliess, brach ich den Blickkontakt ab.
,,Ich habe gerade 20 Minuten in meinem Auto auf dem Parkplatz gesessen, unsicher darüber ob ich es heute schaffen würde, auf diesem Stuhl Platz zu nehmen", sprach er.
Voller Verständnis sah Astrid Lika an. Wir wussten alle, wie viel Überwindung es kostete, über seinen Schatten zu springen. ,,Es ist okay, Lika."
,,Nein, gar nichts ist okay. Es ist nicht okay, dass ich diese Last schon so lange mit mir rumtragen muss. Es ist nicht okay, dass ich mir noch immer die Schuld gebe." Mit jedem Wort brach seine Stimme ein wenig mehr, sodass er am Ende kaum mehr zu hören war. Seine Hände verweilten in Fäusten geknüllt an seiner Seite, versuchten sein Zittern zu vertuschen, doch ich sah es. Ich nahm auch die Leere in seinem Blick, die Augenringe und den erdrückenden Geruch von Zigaretten war. Noch nie hatte ich Lika so aus der Fassung erlebt, so verloren und hoffnungslos. Der Mann, der nun vor mir stand hatte nichts mit dem Mann gemeinsam, dem ich im Supermarkt begegnet war. Nein, er war mir fremd. In dieser Sekunde verstand ich, dass er sich ebenfalls hinter einer Mauer versteckt hatte. Nur war seine Mauer im Gegensatz zu meiner so stabil gewesen, dass ich sie nie wahrgenommen hatte.
Als sich unsere Augen trafen und ich den Sturm in ihnen wüten sah, fragte ich mich zum ersten Mal, wer Lika Flores wirklich war.
Als Lika aufgebracht den Raum verliess, verstummten die Stimmen um mich herum, sodass ich nur noch mein pochendes Herz wahrnahm. Josephines Lippen bewegten sich immer schneller, machten halt, bevor sie ein winziges Lächeln formten und als die anderen zu lachen begannen, realisierte ich, dass dieser Mann meine Gedanken eingenommen hatte. Wie ein Wirbelsturm hatte er dafür gesorgt, dass ich die Kontrolle verlor und anstatt sie zurückzugewinnen, blieb ich bis zum Ende der Stunde sprachlos. Erst als Astrid aufstand, verstand ich, dass ich bereits zu lange schwieg.
Also warf ich meine Jeansjacke über meine Schultern und schlenderte mit dem Rest der Gruppe zum Ausgang, denn dort wartete Sarah mit einem riesigen Lächeln und ihrem roter Audi auf mich. Die Chanelbrille, die sie sich in ihrem Türkeiurlaub für gerade mal fünf Euro gekauft hatte, klemmte hinter ihren Ohren während sie mir von ihrem stressigen Arbeitstag erzählt. Auch wenn ich mich darum bemühte, zuzuhören, wischen meine Gedanken immer wieder zum Lockenkopf, dessen Vulnerabilität mich umgehauen hatte. Zuhause verabschiedete ich mich von meiner Schwester mit den Worten, ich seie müde, schlüpfte in meine Pyjama, bevor ich mich auf mein Bett fallen liess.
Immer wieder huschte mein Blick auf mein Handy, während ich mit dem Gedanken spielte, Lika anzuschreib...oder sollte ich ihn doch lieber anrufen? Nach minutenlangem hin und her, beschloss ich, letzteres sein zu lassen. Meine gepunktete Decke zog ich mir bis ans Kinn, sodass ich mir auch sicher sein konnte, diese Nacht nicht zu erfrieren.
Unerwartet vibrierte mein Handy, und als ich kurz davor war Sarah zu verfluchen, weil sie sich manchmal nicht die Mühe machte, aus ihrem Bett zu steigen, um mir etwas mitzuteilen, obwohl wir im gleichen Haus wohnten, stockte mein Atem, als ich Toscana/Lika lass. Abrupt setzte ich mich auf und strich mir einige verlorene Strähnen aus dem Gesicht, auch wenn Lika sie niemals bemerken würde.
,,Hey Lika", begrüsste ich ihn vorsichtig.
,,Kenya", hauchte er. Seine angeschlagene Stimme, war der Auslöser für das unkontrollierbare Kribbeln auf meiner Haut und meinen beschleunigten Herzschlag. Meine Unterlippe klemmte ich zwischen meine Zähne, als ich ungeduldig auf eine Aussage seinerseits wartete, doch nichts. Stattdessen nahm ich seine unregelmässigen Atemzüge war und das Entzünden seines Feuerzeugs. Er hatte heute bestimmt eine ganze Packung geraucht, das tat er immer, wenn die Dinge zu viel wurden. Das hatte er mir anvertraut. ,,E-Es tut mir leid, dass ich mich mitten in der Nacht bei dir melde. Es ist nur...ich wusste nicht wohin." Er hielt inne, bevor er fortfuhr. ,,Ach, ich weiss doch selbst nicht, wieso ich dich angerufen habe-"
,,Lika...Es ist okay", unterbrach ich ihn. Diese Worte waren mehr wert als alles, was diese Welt zu bieten hatte. Ich spürte, wie er ein Mal tief einatmete und sie verdaute. Obwohl wir uns nicht im gleichen Raum befanden, sah ich seinen leeren Blick in die Ferne schweifen, seine steife Haltung und den Schmerz in seinen Augen. ,,Ich bin für dich da."
Und als ich ihn schluchzen hörte und mitbekam, wie er mit jeder Sekunde etwas mehr zerbrach, fragte ich mich zum ersten Mal, wer Lika Flores wirklich war.
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