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ONLY. ry x
V I E R
»Was. War. Das?«
Ich wollte ihm alles erzählen: Wie alles außer Kontrolle geraten war und dass es vielleicht meine Schuld war. Auf einmal fehlten mir dafür aber die Worte. Meine Kehle fühlte sich trocken an. Erst, als ich zerbrach und laut anfing zu schluchzen, schien er einen großen Teil des Geschehens verstanden zu haben. Mein Brustkorb zog sich zusammen, ich schnappte zwischen den Tränen nach Luft, denn ich war verloren.
Im Taxi herrschte Stille, nur die Stimme Dakotas wog mich langsam in den Schlaf. Fast Car spielte und ließ mich für einen Augenblick vergessen, was gerade passiert war. Wir beide, insbesondere aber der Taxifahrer, schien von dem zu sehr mitgenommen, also wagte keiner den ersten Schritt.
»K-Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte die Silhouette nach minutenlangem Schweigen. Sichtlich überfordert, krampfte sich sein Körper an der anderen Seite zusammen.
»Ich muss zum Bahnhof.«
»Ich habe einen wichtigen Termin. Ich-.«
»Ich bitte Sie«, unterbrach ich ihn und sah erneut in dieses fesselnde Blau. Er wusste, wie ernst diese Lage war. Ich musste weg, bevor er mich fand.
»Aber-«
»Bitte.« Flehend blickte ich ihn an und wischte meine Tränen beiseite. Mein Gegenüber schluckte und blickte aus dem Fenster.
»Okay«, flüsterte er und erneut fielen wir ins Schweigen.
Unser Wohnviertel streifte in Zeitlupe an uns vorbei. Ich ließ alles zurück, sah zu, wie das Leben, das ich mir innerhalb der letzten drei Jahre aufgebaut hatte, zu Schutt und Asche wurde.
Erinnerungen verblassten. Ich ließ sie alle los. Ich musste sie hinter mir lassen.
Der Fremde zückte ein Packet Lucky Strike und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Das Glänzen der Flammen gab mir eine leichte Sicht auf seinen Drei-Tage-Bart, und kaum hatte er das Feuerzeug wieder verstaut, wandte ich meinen Blick wieder ab. Der süße Geruch stieg in meine Nase. Ich seufzte, denn als ehemalige Raucherin steht man immer unter Versuchung.
Ich leckte mir über die Unterlippe, bereute diese Geste aber spätestens, als die verwundete Stelle anfing höllisch zu brennen. Es störte mich nicht, nein. Ich mochte diesen Schmerz und die Gewissheit, dass ich noch etwas fühlen konnte. Irgendwas hatte es in mir stillgestellt, als ich meinen Verlobten völlig außer sich erlebt habe, meine Gefühle waren es jedoch nicht gewesen.
»Ich habe keine Angst«, flüsterte ich immer wieder, doch ich hatte aufgehört, mir diese Lüge abzukaufen. Mein Körper zitterte, panische Angst überkam mich. Auf einmal fühlte sich das Taxi so verdammt heiß an. Ich rollte meine Ärmel rauf und versuchte mich während der Fahrt zu entspannen. »Ich...ich habe keine Angst.«
Fast. Fast hatte ich es geschafft, doch plötzlich tauchte sein Gesicht erneut vor mir auf.
Du bist nichts.
Niemand.
Seine Worte verfolgten mich. Insgeheim sehnte ich mich an manchen Tagen noch immer nach der alten Version meines Ichs. Einem Ich voller Lebensfreude, Enthusiasmus und brennend für die Liebe meiner Mitmenschen. Stattdessen warf ich heute bei jeder Brücke, die ich an manchen Tagen mit dem Fahrrad passierte, einen Blick in die Tiefe und fragte mich, wie es sich anfühlen würde zu fallen. Nur einen Moment spüren, wie der Wind meinen Körper umarmen würde und in die vielversprechende Tiefe ziehen würde.
Meine Kehle schnürte sich schlagartig zu, seine Finger spürte ich erneut über meine Luftröhre fahren. Ich ergriff meinem Hals, Tränen liefen, ein Zeichen dafür, dass dieser Albtraum noch lange nicht vorbei sein würde.
Meine Gedanken schweiften zu Marcel rüber, denn innerlich war ich davon überzeugt, die falsche Entscheidung getroffen zu haben.
Irgendwie hatte ich gehofft, dass er realisieren würde, wie sehr mich sein Handeln vernichtet hatte. Seine Worte, die nun Teil meines Weltbildes geworden waren, und das Streben nach Perfektion. Ich wollte genug für ihn sein, also blieb ich an seiner Seite, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen sich schlagartig ändern könnten.
Gefühle konnten nicht einfach so verblassen, denn zumindest meine Gefühle waren echt. Auch nach den langen Nächten hatte ich den Mut gefunden, mich neben ihn ins Bett zu legen, doch schlafen tat ich dann nie. Eher fragte ich mich, wie ich ihn wieder dazu bringen könnte, zu lieben. Mich zu lieben. Ich wollte es so sehr. Seine Aufmerksamkeit, seine Fürsorge. Doch heute war sie verschwunden.
Die Liebe? Ich habe mal an sie geglaubt, nächtelang auf den Ritter in edler Rüstung gewartet. Langsam, aber schmerzvoll, zuckten meine Mundwinkel in die Höhe. Es war die Liebe, die mich in diese Situation geführt hatte. Die Liebe und ihre dämlichen Versprechen.
Ich war drauf reingefallen, hatte kläglich dabei versagt, meine Grenzen zu erkennen, und hatte Jahre lang auf die rosarote Brille beharrt, denn wer wollte schon wahr haben, dass die Romance, die man in Filmen erlebte,
nichts Weiteres als eine Lüge war?
Doch an manchen Tagen hatte sie mich gerettet, insbesondere die Liebe meiner Tante, und umso länger ich darüber nachdachte, desto eher wurde mir klar, dass ich das Lieben verlernt hatte. Wie man das Lieben verlernt? Es ist so wie ein Lagerfeuer, das man über die Stunden vernachlässigt und irgendwann erlischt.
Wer braucht Liebe denn schon, wenn das, was wir hatten, uns von der Liebe zu einem anderen Menschen genommen wurde?
Die Liebe war am Anfang so frisch und süß, und irgendwann hört der Spaß auf. Man merkt, dass man nicht füreinander geschaffen ist, man kann sich wegen der Gefühle aber nicht lösen, kämpft weiter, bis das Boot ganz gekenntert ist und die Passagiere haben Pech. Ich war einer dieser Passagiere gewesen und schien mich heute noch nicht von den Schäden erholt zu haben.
Ich hatte über die Jahre spüren können, wie das Wasser meine Socken durchnässte und irgendwann sogar meine Knie übertraf. Aber ich hatte es ausblenden wollen, also blendete ich es auch aus, als das Wasser mir bis an den Hals ging und meine Füße kaum mehr den Boden berührten. Die Wellen trieben mich voran und ich fand Gefallen daran. Bald verloren wir den Halt und ertranken in dem Ozean unserer Versprechen. Immer wieder spielte sich diese Szene in meinen Träumen ab, und wie ich früh morgens schweratmend aufwachte. Seine Arme ruhten in meinen Bauch, zogen mich an sich und ich ließ es zu.
Worte brannten mir auf der Zunge und ich vermutete, dass ich an ihnen ersticken könnte, wenn ich ihnen kein Freiraum ließ. Jahre war es nämlich her, seitdem ich mich jemandem anvertraut hatte, und obwohl ich davon überzeugt gewesen war, all meine Laster alleine tragen zu müssen, zerbrach ich langsam an der Last. Ich spürte, wie mein Geist langsam Halt verlor und zu Grunde sackte. Länger konnte ich diese Last nicht tragen, sonst würde ich daran zerbrechen. Also tat ich das, wovor ich mich schon seit Jahren scheute.
Ich sprach.
»Es war alles so schön am Anfang, er war einfach perfekt. Er hätte mich niemals geschlagen...niemals« Verzweifelt wischte ich über meine nassen Wangen und blickte in die Silhouette meines Gegenübers. »E-Er ist nicht immer so, wirklich«, stotterte ich vor mir hin, denn eine bessere Ausrede hatte ich nicht. Trotzdem versteckte ich mich vor der Wahrheit, denn sie löste eine schreckliche Angst in mir aus. »Manchmal ist er-«
»-anders.« Gleichzeitig verließ jenes Wort unsere Lippen. Ich spürte seinen Blick auf mir. Er brannte sich durch meine Kleidung, bis tief in mein verdorbenes Inneres. Leiseseufzend legte ich meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe.
»Wir lieben uns.«
»Das ist eine verdammte Lüge.« Er lachte. »Liebe sollte nicht weh tun. Tut sie weh, dann ist es ein Zeichen dafür, dass Sie Ihr Herz an die falsche Person gegeben haben. Ein Mann, der seine Frau schlägt, ist kein wahrer Mann. Das ist keine Liebe, das nennt sich Verrat.«
»Waren Sie schonmal verliebt? Haben Sie schonmal jemanden so sehr geliebt, dass Sie jeden Schmerz über sich hätten ergehen lassen? Dass jede Beleidigung sich wie eine Liebeserklärung angefühlt hat?«, fragte ich nach einer langen Pause.
Mein Gegenüber erwiderte nichts, also setzte ich erneut an. »Erklär mir die Liebe.« Das Wort brannte auf meiner Zunge und trotzdem wollte ich seine Meinung hören. Hatte er jemals geliebt?
»Nein...ich glaube nicht an sowas wie die Liebe. Ich denke, zwei Menschen finden sich, befriedigen gegenseitig ihr Bedürfniss nach Nähe, und mehr nicht. Meistens reicht eine gemeinsame Nacht, um dieses Bedürfnis zu befriedigen, mehr nicht. Wissen Sie, ich war noch nie verliebt, streife lieber von Tag zu Tag in die Arme einer anderen. Als Kind habe ich oft mitbekommen, wie sich Menschen, die sich einst geliebt haben, vor Hass nicht mehr miteinander sprechen wollten. Dabei wären sie vor nicht allzulanger Zeit noch für diesen Menschen gestorben. Die wahre Liebe ist Teil unserer Imagination. Es ist unvermeidlich einen Menschen zu lieben ohne ihn dabei zu verletzen, wir wissen es nunmal nicht anders. Je eher sie das verstehen, desto besser.« Es schien so als würde er sich mit Erinnerungen rumquälen, als seine Worte zwischen der Radiomusik untergingen.
»Aber-« Vielleicht hatte er ja Recht.
»Wenigstens haben Sie es früh genug eingesehen.«
»Krieg ich auch eine?«, fragte ich nach einer Zigarette.
»Sie rauchen?«
»Ist das nicht scheißegal?« Er hielt mir die halbleere Packung und sein Feuerzeug hin. Im nächsten Augenblick füllt das Nikotin meinen Körper. Mein Körper reagiert darauf allerdings schlechter als erwartet, denn nun fasste ich mir an die Brust und hustete vor mich hin. Der Fremde hingegen schmunzelte.
»Sind Sie sich sicher, dass-«
Ich zog tiefer an diesem Wundermittel, schloss bei jedem Zug erneut die Augen, bis nichts mehr übrig blieb. Der Geschmack verharrte auch nach mehreren Minuten in meinem Mund. Ich seufzte vor Zufriedenheit. Auf einmal schien Marcel hinter dieser Droge verblasst zu sein.
»Es hat vor viereinhalb Jahren angefangen. Er war da. Er war einfach da, als ich ihn am meisten gebraucht habe. Ich habe mich einsam gefühlt, denn meine Mutter war nie da. Immer ging es um die Arbeit und Erfolg im Leben. Ich wollte einfach nur eine Mutter...vielleicht auch nur etwas Liebe und Aufmerksamkeit. Irgendwann hat er mich zu einem Kaffee eingeladen«, ich lachte bei dieser Erinnerung. An diesen Tag würde ich mich immer erinnern, an das weiße Hemd, das er an dem Tag trug und an die schwarze Sonnenbrille, die er hinter seine Ohren geklemmt hatte.
»Es ging ziemlich schnell zwischen uns. Wir haben gegen die wichtigste Regel beim Dating verstoßen und haben uns schon beim ersten Date geküsst. Es hat sich so richtig angefühlt, so...gut. Ich konnte in seiner Nähe abschalten. Es reichte mir einfach, dass er mir zuhörte und mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Es fühlte sich einfach perfekt an. Damals war er liebevoll, hatte Geduld und...« Ich schnappte nach Luft.
»Irgendwann kam er auf die Idee wegzuziehen, weil ihm ein besserer Job angeboten worden war. Er bat mir an, mit ihm wegzuziehen, und ich stimmte zu. Was hatte ich denn auch zu verlieren? Mein 20-jähriges Ich hatte nichts zu verlieren. Meine Mutter meldete sich alle drei Monate per E-mail bei mir, meine Schwester hasste mich und meinen Job als Kassiererin hasste ich über alles. Ich dachte, der neue Umzug wäre das Beste für uns und dass es uns nur noch näher bringt. U-Und irgendwann...ist er anders geworden. Er war nicht mehr der charmante Mann, den ich damals kennengelernt hatte.«
Er schmunzelte plötzlich. Das erkannte ich dank der Flamme seines Feuerzeuges, die aufschien, als er sich erneut eine Zigarette an die Lippen legte.
»Sie erinnern mich an meine Mutter.« Ich hörte den Schmerz durch seine Worte und fing an zu verstehen. »Nur hat sie es im Gegensatz zu Ihnen nicht lebendig da rausgeschafft. Sie liebte ihn und ich kann es ihr nicht verübeln. Sie beschreiben meinen Vater besser, als ich es hätte tun können. Charmant und aufmerksam. Genau das, was jede Frau begehrt. Manchmal gebe ich mir die Schuld für ihren Tod. Wäre sie nicht schwanger geworden, hätte sie es vielleicht lebendig da rausgeschaft« Ein letztes Mal zog er an seiner Zigarette und ließ den Rauch durch das Taxi streifen.
»Er sitzt in Haft, seit vier Jahren und sie.« Sein Atem stockte, so als würde er sich zusammenreißen. »Sie ist seit neun Jahren tot.«
»Das tut mir wirklich leid...aber sie sind nicht Schuld daran. Ich denke, sie hätte ihnen niemals die Schuld gegeben. Aber wieso erzählen Sie mir das?«
»Weil es viel einfacher ist, sich einer Fremden anzuvertrauen, als seiner eigenen Umgebung. Sie werden gleich den Zug nehmen, ich werde zu meinem Termin fahren und wir beide werden einander vergessen und so tun, als wären wir einander nie begegnet.« Er hatte Recht und das bemerkte ich, als ich anfing zu lachen und erst echt, als aus dem Lachen Tränen entstanden.
»Verdammt. Ich bin pleite und die einzige Person, die ich noch habe, ist meine Schwester. Sie hasst mich.«
Den Rest der Fahrt schwiegen wir, denn plötzlich fehlten uns beiden die richtigen Worte. Ich wollte dem Fremden liebend gerne weiterhin zuhören, denn er hatte etwas Beruhigendes an sich. Seine Art mit Worten umzugehen, mit ihnen zu spielen. Zum ersten Mal seit langem entspannte ich mich, ließ meine Wappen für wenige Sekunden fallen.
Und plötzlich stand die Welt still.
»Wir verdienen es alle, geliebt zu werden, verstehen Sie? Aber auf die richtige Art und Weise.«
Er hatte Recht. Ich schlug mir gegen die Stirn, als mir bewusst wurde, wie dämlich ich gewesen war. Meine Lippen pressten sich aufeinander, als meine Gefühle mir zeigten, dass ich mich immer wieder für ihn entscheiden würde. Wieso konnte ich ihn nicht loslassen? Was war es, das mir die Kehle zu schnürte, wann auch immer ich daran dachte, fortzugehen?
Von Weitem erblickte ich den verlassenen Bahnhof. Das Taxi hielt an, also ergriff ich meine Tasche.
»Sie werden das schaffen.«
Seine Hand fasste meine und erfüllte meinen Körper mit Wärme.
»Lügen Sie mich bitte nicht an«, sprach ich ein letztes Mal. Der Taxifahrer räusperte sich und tippte noch immer ungeduldig auf das Lenkrad.
»Sie werden das schaffen, ich verspreche es Ihnen.«
»Er hat mir damals auch viel versprochen. Dass wir den Umzug in diese verfluchte Stadt zusammen meistern und dass er mich nie wieder schlagen würde. Aber schauen Sie mich an. Ich bin obdachlos und habe niemanden. Also bitte...bitte lügen Sie mich nicht an.«
»Das macht dann 30-«
»Ich bezahle für sie.«
»Danke.« Nun lächelte ich den
Mann an, obwohl ich mir sicher war, dass er es nicht wahrnehmen konnte. Das Taxi war von einer Dunkelheit umhüllt, die es mir nicht einmal ermöglichte, meine eigenen Finger wahrzunehmen.
»Warten Sie.« Seine Hand fasste meine, eine simple Geste, die mir einen Schrecken einjagte. »Wie heißen Sie?«
»Vergessen Sie mich einfach.« Ohne zurückzublicken stieg ich aus dem Taxi. »Bitte.«
Auf wackeligen Füßen begab ich mich zum Eingang, versuchte wach zu bleiben. Jeder Schritt fühlte sich schwer an. Und plötzlich drehte sich die Welt vor meinen Augen. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor dem Ziel. Doch mein Körper entschied anders. Die Folgen der wochenlangen Diät machten sich sichtbar. Meine Tasche glitt mir aus den Fingern, ich fiel und dieses Mal schaffte ich es nicht, aufzustehen.
Ein schwarzes Tuch legte sich über meine Augen, als meine Beine langsam nachließen und ich zu Boden sackte.
©madeincameroon
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