sechsundzwanzig
HOLD BACK THE RIVER. james bay
S E C H S U N D Z W A N Z I G
Bereits aus der Ferne nahm man aus Lautsprechern bekannte Sommerhits wahr, und die Rauchwolke verriet
Sarah und mir bereits, dass wir an der richtigen Strasse abgebogen waren. Zwischen den anderen Häusern stach Renees Einfamilienhaus wegen seiner Holztöne und dem Blumenbeet im Eingang heraus. Aus Angst einen der Kinderroller zu überfahren, forderte Sarah mich dazu auf, mit den zwei Flaschen Wein vorzugehen, während sie nach einem passenderen Parkplatz suchen würde.
Als ich an die frische Luft trat, empfing mich eine kühle Briese, die auch meinen langen Rock ein wenig in die Höhe wehte. Zu meinem bunten Satinrock trug ich ein weisses T-Shirt und goldenen Schmuck, den ich gestern mit Sarah eingekauft hatte. Es hatte mich viel Überwindung gekostet, mich gegen einen Pullover zu entscheiden, doch eine Sache, die mir die Selbsthilfegruppe beigebracht hatte, war, dass ich nicht ewig in Selbstmitleid ertrinken konnte. Ich wollte heilen, leben, mich selbst lieben, und dazu gehörte nunmal dieser Schritt, der für andere Menschen banal schien, für mich aber einen weiteren Schritt in die Freiheit symbolisierte.
,,Bonjour ma cherie. Du siehst umwerfend aus." Liebevoll lächelte sie mich an, bevor sie mich zur Begrüßung in die Arme zog. Ihre braunen Haare hatte sie heute ausnahmsweise nicht zu einem Zopf gebunden, wie sie es sonst immer für die Arbeit tat. Stattdessen umrahmten die Naturlocken ihr feines Gesicht, und ließen sie fünf Jahre jünger aussehen. ,,Das kann ich nur zurückgeben", erwiderte ich und folgte ihr zum Garten. Im Gegensatz zu mir trug sie ein grünes Sommerkleid, welches ihr knapp über die Knie fiel. Von weitem hörte man bereits das Plaudern anderer Gäste, sowie das Gekichere von Kleinkindern.
Als erstes erkannte ich Jakob, der mir vom anderen Ende des Gartens zuwinkte. Anschliessend wandte er sich wieder zur Grillade und strich sich mit einem Handtuch die Schweissperlen von der Stirn. Keine zwei Meter neben ihm stand bereits ein gedeckter Esstisch samt verschiedener Salaten und Saucen. Ich stellte die zwei Weinflaschen neben den restlichen Getränken ab, bevor mich Renee den anderen Gästen vorstellen konnte. Darunter befanden sich Nachbarn, Arbeitskollegen und Familienmitglieder.
,,Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?"
,,Gut, es ist einfach unglaublich stressig. Naja, aber man heiratet ja nur ein Mal im Leben, oder? Ach ja, ich habe da einen Nachbarn, der wohnt gleich um die Ecke und da du noch keine Begleitung hast, dachte ich mir, dass ihr vielleicht zusammenkommen könntet. Er ist wirklich sehr sympatisch und gutaussehend-"
,,Nein, keine Sorge, ich habe schon eine Begleitung. Also Lika." Überrascht musterte mich die Braunhaarige.
,,Lika? Wenn man vom Teufel spricht...sagt man das nicht so?"
Tatsächlich. Da war er plötzlich. Der Mann, der meine Gedanken seit mehreren Tagen eingenommen hatte, lehnte locker gegen dem Gartenzaun, während er ausgiebig mit einer Rothaarigen plauderte. Der Lockenkopf trug ein weisses Hemd, welches sich bei jedem Atemzug seinen Bewegungen anzupassen schien und eine hellbraune Hose. Winzige Sommersprossen tanzten auf seiner Nase herum, manche aber auch auf seinem Kinn. Ich beobachtete, wie sein Adamsapfel bei jeder ausgesprochenen Silbe in die Höhe sprang und wie seine Lippen gelegentlich ein Lächeln formten. Die junge Frau neben ihm schien von seinen Worten besonders amüsiert zu sein.
,,Kenya?", riss mich Renee aus meiner Trance, sodass ich benommen den Kopf schüttelte. Dankbar nahm ich das Glas Apfelsaft an, welches sie mir entgegen hielt.
,,Kennst du sie?", fragte ich neugierig und nahm seine Gesprächspartnerin genauer unter die Lupe. Ich kam mir dabei verdammt kindisch vor, immerhin sollte es mir doch egal sein, mit wem er sprach. Wir waren nur Freunde.
,,Wer...Kate? Sie wohnt nebenan und kümmert sich gelegentlich um Camilla, eine wirklich nette Frau. Camille liebt sie." Renees Worte nahm ich gar nicht richtig wahr, eher fiel mir auf, wie sich der Lockenkopf in ihrer Gegenwart verhielt. Lika legte seine Hand schützend an ihre Schulter, während sie ihm etwas ins Ohr flüsterte. Daraufhin schenkte der Lockenkopf ihr dieses Lächeln, das ich nur zu gut kannte.
,,Du stehst doch nicht etwa auf Lika oder?" Renees aufgemalten Augenbrauen zuckten augenblicklich in die Höhe, als mich ihr urteilender Blick genau unter die Lupe nahm. Ihre Hände stemmte sie dabei in ihre Hüfte.
,,Hm?", erwiderte ich abwesend. ,,Mon Dieu/mein Gott", murmelte Renee kopfschüttelnd und fasste sich an die Stirn. Entgeistert blickte ich in ihre Richtung und schüttelte so hart den Kopf, dass ich vor Schwindel beinahe umgekippt wäre. ,,Nein, natürlich nicht", zischte ich so leise wie möglich. Zum Glück waren die anderen Gäste weit genug und konnten unser Gespräch somit erst gar nicht mitbekommen.
,,Ecoute/Hör zu Kenya, ich weiss dass Lika charmant und gutaussehend ist, aber er sucht selten etwas Ernstes. Ich kenne ihn mittlerweile schon fast sechs Jahre und er liebt Frauen...nur für das eine. Also bitte fall' nicht drauf rein."
,,Wir sind nur Freunde."
,,Ich sag's nur." Bevor ich etwas erwidern konnte, kam die drei-jährige Camille Renee entgegengelaufen und streckte mit dem Wort 'Mama' sehnsüchtig ihre Arme aus. ,,Ich gebe ihr mal etwas zu Essen. Ach ja. Kenya, könntest du in der Küche vielleicht noch Teller holen? Es sind doch mehr Gäste gekommen, als ich dachte", verabschiedete sie sich von mir, bevor sie mit ihrer Tochter zum Buffett verschwand.
Ich sah mich nach Sarah um, die bereits längst hier sein müsste. Zu meiner Überraschung erblickte ich sie mit einem jungen Mann auf einer Hollywoodschaukel. Am liebsten hätte ich sie laut angefeuert, denn ich hatte Sarah selten mit einem Mann erlebt. Meistens lag das daran, dass sie den Männer gar keine Chance gab. Anstatt mir weiter Gedanken über das Liebesleben meiner Schwester zu machen, begab ich mich durch die Hintertür zur Küche, um Teller zu holen.
Dabei fiel mir auf, dass Renee einen hervorragenden Geschmack hatte. Die meisten Räume waren in Pastelltönen gestaltet, passend zu den Holzmöbeln und Pflanzentöpfen. An manchen Stellen erkannte man Urlaubfotos und Geburtstagkarten. ,,Kenya." Abrupt blieb ich stehen, als ich Likas raue Stimme erkannte, und sein Parfüm durch meine Nase witterte, liess mein Körper erst recht nach. ,,Vermeidest du mich?", fragte er.
Bei seinen Worten konnte ich mich nicht davon abhalten, die Augen zu verdrehen. ,,Das Selbe könnte ich dich fragen", antwortete ich sarkastisch, während ich versuchte nach den Tellern zu greifen. Zu meinem Bedauern befanden sich die Teller auf der letzten Etage, also stellte ich mich auf Zehenspitzen, erreichte dabei jedoch nur den Regalrand. Lika bemerkte meine Anstrengungen und kam mir zur Hilfe, in dem er die Teller an meiner Seite abstellte. Ich versuchte ihn zu ignorieren, doch als sein Oberkörper meinem Rücken gefährlich nahe kam, musste ich mich geschlagen geben. ,,Danke", murmelte ich. Ehe ich nach den Tellern greifen konnte, um den Raum zu verlassen, stellte er sich vor mich. ,,Wenn du mich entschuldigen würdest. Renee...braucht die Teller."
,,Bleib."
,,Wofür? Damit du mich danach wieder ignorieren kannst? Wieso antwortest du nicht auf meine Nachrichten? Man Lika, ich dachte, dir sei etwas zugestoßen. Und jetzt tauchst du auf einmal aus dem Nichts auf und willst mit mir reden?"
Unsicher marschierte er durch die Küche, die mit dem Esszimmer verbunden war, und fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. Die ganze Wut, die ich in den letzten Tag wegen seiner Funkstille in mir getragen hatte, löste sich auf einmal in Luft auf. Stattdessen sorgte ich mich jetzt um sein Wohlbefinden und darum, wieso er sich die letzte Woche nicht gemeldet hatte. Zur Ermutigung schenkte ich ihm ein schwaches Lächeln.
Und da war es, das winzige Lächeln auf seinen Lippen, welches eine dermaßen grosse Freude in mir entfachte, dass ich am liebsten in die Luft gesprungen wäre. Stattdessen zog ich Lika abrupt in eine Umarmung. Likas Arme zogen mich noch näher an seinen Oberkörper, fast schon so als hätte er Angst, dass ich jeden Moment verschwinden könnte. Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust und lauschte dabei dem mir bekannten Herzschlag und genoss die Brise, die sein Atem auf meine Haut transportierte.
Wir genossen diese Nähe zueinander zu sehr, das wurde uns in diesem Moment erst Recht bewusst. Doch keiner von uns beiden wagte es loszulassen, stattdessen hielten wir aneinander fest. Wir klammerten uns am dünnen Stoff des anderen fest, vergaßen dabei die Gelächter der Gäste, die sich nur wenige Meter von uns befanden.
Wir waren zu zerbrechlich, um loszulassen.
,,Danke Kenya", flüsterte der Lockenkopf und strich dabei schützend über meine Mähne. Das Zittern in seiner Stimme kam mir aus unseren gemeinsamen Telefonaten viel zu bekannt vor. Spätestens jetzt würde er sich zurückziehen und schweigen, doch dieses Mal entschied ich mich bewusst gegen das Schweigen und flüstere: ,,Nicht-". Als Lika sich aus der Umarmung löste, nahm er auf dem Marmorboden Platz und seufzte.
Ich tat es ihm gleich.
Beinahe schon aufgebracht fuhr sich Lika erneut über den Nacken, wagte es dabei nicht, mir in die Augen zu schauen.
,,Wie geht es dir?", fragte ich.
Ich erkannte, wie kurz meine Beine im Gegensatz zu seinen waren und dass er zum ersten Mal eine beige Hose trug. Seine Sneakers waren auf sein Outfit abgestimmt, dabei hatte ich willkürlich nach einem Paar Sommerschuhe gegriffen. Likas Arm streifte kurz meinen, was meine Haut in Flammen aufgehen liess.
,,Gut."
Wir wussten beide, dass er log. Der Lockenkopf seufzte, bevor er seinen Kopf langsam an meine Schulter schmiegte. Wir verweilten in dieser Position, genossen die bekannte Stille, die uns umgab.
In seiner Gegenwart fühlte ich etwas. War es sein Atem, der über meine empfindliche Haut strich oder sein Ozean, in dem ich mich jedes Mal aufs Neue verlor? Und dann war da auch noch sein Parfüm. Ich kannte es nur zu gut, die Mischung aus holzig und gewürzt, liess mich seufzen. Letzteres löste bei ihm Schmunzeln aus, sodass ich mich leicht ertappt fühlte.
Dieses Gefühl konnte ich noch nicht in Worten fassen, es war zu...zu fremd. Eine Sache, die ich wusste, war dass ich in seiner Gegenwart nicht mehr zurück schreckte, denn ich hatte mich an Lika gewöhnt. An den Mann, dem ich an einem Montagmorgen fast die Nase gebrochen hätte. An den Mann, der mich abends mit seinen Gerichten von Kontinent zu Kontinent verfrachtete und mir mit seinem Wissen die Sprache verschlug.
An den Mann, der tagsüber lachte und nachts weinte.
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