sechs
SOMEBODY THAT I USED TO KNOW. gotye ft. kimbra
S E C H S
St George.
Der Ort, an dem alles anfing und zugleich ein Ende nahm.
Hier stand ich nun vor dem kleinen Vorstadthäusschen und blickte auf den Briefkasten. Nummer 44. Die Zahlen glänzten im Schein der untergehenden Sonne. Jahre war es her, seit ich das letzte Mal einen Fuß in den Vorstadtort gesetzt hatte. Zuletzt vor zwei Jahren an Weihnachten, einige Monate vor dem Tod Tante Marias. Sie hinterließ mir und Sarah ihr kleines Ferienhaus, in dem ich ein zweites Zuhause gefunden hatte. Wir verbrachten als Kinder Wochen hier an der Seite unserer Tante, und nun war sie nicht einmal mehr Teil dieser Welt.
Seufzend stieg ich die Treppen zur Veranda auf und klingelte ohne wirklich über die Konsequenzen nachzudenken. Sicherlich wäre ich sonst wieder in den nächsten Zug gestiegen und weggedüst. Am liebsten nach Hause. Zu Hause, ich lächelte bei dem bitteren Nachgeschmack, der durch dieses Wort ausgelöst wurde. Eine Ewigkeit verging, in der ich auf näherkommende Schritte hoffte.
Verdammt, dachte ich mir, als meine Hände begannen zu zittern. Das erste Treffen mit meiner Schwester hatte ich mir anders vorgestellt. Im Sommer, unter dem alten Kirschbaum. Nicht im Herbst, zwischen den verwelkten Blüten des Laubbaumes, unter welchem ich meinen ersten Kuss gehabt hatte. Und jetzt stellte sich sogar heraus, dass sie nicht da war. Vielleicht hatte sich der Taxifahrer geirrt, täuschte ich mich mit der erstbesten Ausrede, die mir durch den Kopf schoss. Meine Hände packten meine Reisetasche. Ich wollte gehen.
Plötzlich ging die Tür auf und ich erblickte die braunen Augen meiner Schwester. Ihre geglätteten Haare hatte sie in einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, sodass mir unsere Ähnlichkeit erst recht ins Auge sprang. Im Gegensatz zu mir besass sie betonte Wangenknochen, was sie ein wenig älter aussehen liess, als sie es eigentlich war. Von uns beiden war sie nämlich mit zwei Jahren Unterschied die Jüngste. Die kleinste Freude, die ich bei dem Gedanken an dieses Treffen gehabt hatte, verblasste.
»Kenya?« Ihre Lippen waren zu einem Strich gezogen, als sie mich aus müden Augen anstarrte. Ich schluckte und rang zugleich nach Worten. Mein Hals fühlte sich trocken an. »Was...Was machst du denn hier? Ich...Ich erkenne dich gar nicht wieder. Du siehst so aus, als hättest du dich mit Muhammed Ali beim Boxen angelegt.« Ich wusste, dass diese Frage kommen würde und hatte mir die Antwort deshalb schon sorgfältig auf der Hinreise zusammengebastelt. Nichtsdestotrotz bekam ich die Lüge nicht über meine Lippen.
Ich habe dich vermisst, doch wir wussten beide, dass das nicht der Fall war. Genau in diesem Moment fragte ich mich, ab wann wir uns als Schwestern auseinandergelebt hatten. Nach der Schule? Oder vielleicht doch erst, als ich mit meinem Ex-Verlobten durchgebrannt bin? Damals waren wir unzertrennlich, Eins. Heute verband uns einzig und allein das Blut, das durch unsere Adern strömte und unser Familienname.
»Ich...Ich hätte gar nicht erst kommen sollen«, waren meine Worte. Es war ein Fehler gewesen, die erstbeste Fahrt nach St. George zu buchen und alles zurückzulassen. Nun war ich aufgeschmissen, alleine. Sarah nahm mir die Reisetasche aus der Hand und trat beiseite.
»Nein-« Ich hörte das Zögern in ihrer Stimme. »Komm doch herein.«
Ich musterte sie. Würde ich erstmal die Tür durchqueren, wäre die Flucht keine Möglichkeit mehr. Ihre Mundwinkel zuckten hoch und zum ersten Mal seit Langem sah ich etwas wie Freude. Das Funkeln in ihren Augen verschwand aber genauso schnell, wie es gekommen war.
»Danke.« Ich zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln und trat ein. Kaum trat ich ein, empfing mich der Geruch von Lavendel. Tante Maria hatte die Pflanze geliebt und hatte die meisten Ecken ihres Hauses dementsprechend in einem hellen Violetton gekleidet. Ich fühlte mich ihr auf einmal so verdammt nahe. Meine Augen brannten erneut. Ihre Liebe zu abstrakten Gegenständen ließ sich auch nach ihrem Tod nicht unbemerkt.
»Ich bring' deine Tasche kurz ins Gästezimmer, und sorry für die Unordnung. Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich etwas aufgeräumt«, murmelte sie und schob ihre Schuhe unter das Regal.
»Mit etwas Unordnung kann ich schon leben. Ausserdem bin ich die letzte Person, die dir deswegen Vorwürfe machen würde.«
Während Sarah verschwand, musterte ich mich zum ersten Mal im Spiegel. Es stimmte, ich sah wirklich so aus, als hätte ich mich mit der Boxlegende angelegt. Mein rechtes Auge konnte ich kaum öffnen, weil es dermassen angeschwollen war. Der Bluterguss unter meinem linken Auge blieb auch nicht lange unbemerrt, doch am schlimmsten sah die Narbe oberhalb meiner Augenbraue aus. Wie gravierend die Verletzung war, verstand ich erst durch die schwarzen Nähte.
»Willst du etwas trinken? Einen Tee vielleicht?« Ich folgte ihr in die Küche, meinem absoluten Lieblingsbereich von allen. Dort haben wir die meiste Zeit mit Kartenspielen verbracht, wenn es im Winter zu kalt war, um einen Schneemann zu bauen.
»Ein Kaffee wäre gut.« Sie lachte bei meiner Aussage und schüttelte unglaublich den Kopf.
»Seit wann trinkst du denn Kaffee? Ich dachte, du verabscheust den Geschmack. Du hast früher immer gesagt, dass der dir zu bitter ist.« Ihr Lachen verstummte, sobald ihr bewusst wurde, dass sie nun einer Fremden gegenüber stand. Vieles hatte sich verändert, unter anderem auch mein Geschmack und meine Liebe zu Kaffee.
»Menschen verändern sich nunmal«, entkam es mir fast bissig. Ich hätte wissen müssen, dass meine Worte für die erdrückende Spannung verantwortlich sein würden. Vielleicht hätte ich lieber schweigen sollen. Das tat ich dann auch, während ich meinen Blick über die hellen Wände streifen ließ. Verstaubte Bilderrahmen, Zeichnungen und eine kaputte Uhr.
»Hier hat sich ja so gut wie nichts verändert«, brach ich die Stille. Irgendjemand musste das ja tun. Mein Blick tastete alte Bilder ab, gefälschte Erinnerungen an eine erfüllte Kindheit. Ich hatte das Gefühl, mich wegen dem Loch in meinem Magen übergeben zu müssen. Ich ertrank in Wellen purer Nostalgie.
»Ja, Herr Ludwig sitzt mittags noch immer auf seiner Veranda und beobachtet die Nachbarskinder. Und der berühmte Lästerclub von Frau Rader ist noch immer aktiv.« Wie konnte ich das vergessen, dachte ich.
»Also treffen sie sich noch immer um Punkt zwölf im Blumenladen an der Ecke?«
»Nein, seitdem Frau Rader Enkelkinder hat, wurde das Treffen um eine Stunde verschoben.«
Ich schmunzelte und sah meiner Schwester beim Lachen zu. Sie hatte noch immer das unkontrollierbare Lachen und die Grübchen. Ach, wie sehr hatte ich es vermisst, ein Gespräch zu führen, was mich nicht jede Sekunde in die Luft jagen könnte.
»Mhm.« Sie seufzte und trat näher. Ich dagegen sah weg, spielte mit meiner Tasse. Es verunsicherte mich, ich brauchte Abstand. »Was ist eigentlich mit deiner Unterlippe passiert und was ist das da?«, fragte sie und fuhr über meine Wangenknochen. Mir war bewusst, dass ich schrecklich aussah. Wie schlimm es dann wirklich war, wurde mir erst klar, als ein Kleinkind vor Angst auf mein Gesicht gezeigt hatte und mit Tränen in den Augen in die Arme seiner Mutter geflüchtet war.
Plötzlich zogen Sarahs Augenbrauen sich verdächtig zusammen. Ich entzog mich ihr und sah zur Seite, während sich eine Ausrede in meinem Kopf bildete. Meine langen Ärmel zog ich über meine Fingerkuppen, aus Angst, sie könnte die Blutergüsse nun auch dort entdecken, denn dafür hatte ich keine Ausrede parat. Mir wurde heiß, verdammt heiß. Ich hasste Lügen, doch nun wusste ich noch nicht einmal, wann ich aufhören sollte.
»Ich bin auf der Arbeit gefallen. Ich trug ein Tablet voller Gläser und ein Kunde hat mich ausversehen angerempelt. Naja, die Gläser waren dann futsch, und natürlich musste ich so tollpatschig sein und in die Brühe fallen. Du weißt doch, wie schnell mir sowas passieren kann«, log ich, und um es noch glaubwürdiger zu machen, zwang ich mich zu einem Lächeln.
Es tat weh.
»Gut...Gut.« Ihr skeptischer Blick schien verblasst zusein. Wenn sie nur wüsste. Wie sollte ich ihr bloß erklären, dass das perfekte Leben, welches ich mir in den drei letzten Jahren aufgebaut hatte, nur mehr eine Lüge war? Alleine schon der Gedanke an ihren bemitleidenden Blick, jagte mir einen Schauer ein, denn das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war es als Opfer abgestempelt zu werden.
»Boxt du eigentlich noch immer? Was machst du eigentlich aus deinem Leben? Ich habe das Gefühl, dich gar nicht mehr zu kennen«, fragte ich.
»Ich arbeite seit zwei Jahren als Krankenschwester im St. Vinzenz. Das Krankenhaus in der nächste Grossstadt. Und fürs Boxen bleibt mir meistens gar keine Zeit, weil die Arbeit einen grossen Teil meines Lebens einnimmt. Es gibt seit Jahren einen grossen Personalmangel und wenn ich gefragt werde, ob ich an meinen freien Tagen nicht einspringen will, kann ich einfach nicht nein sagen. Du kennst mich doch.«
Nein ich kenne dich nicht, hätte ich am liebsten erwidert. Vor mir stand eine völlig fremde Frau, die sich so an ihre Tasse Kaffee klammerte, als würde ihr Leben davon abhängen. Und dann waren da die dunklen Säcke unter ihren Augen, die sie zehn Jahre älter aussehen liessen. Das Glänzen in ihren Augen, sowie sie es damals vor Wettkämpfen getragen hatte, war mittlerweile verblasst. Ich erkannte sie wirklich kaum wieder.
»Schade, dabei hast du so dafür gebrannt. Du hast einen Pokal nach dem anderen nach Hause geholt. Sarah, du warst verdammt gut, glaub mir du hättest den Sprung schaffen können.«
»Ach hör doch auf. Mama hätte das niemals erlaubt und ich kann sie tatsächlich verstehen. Sich als Frau einen Namen im Boxen zu machen ist fast unmöglich. Wäre ich ein Mann gewesen, wäre das etwas anderes gelaufen. Aber weisst du, ich habe das mittlerweile akzeptiert und ein neues Kapitel in meinem Leben begonnen.«
»Oh, die Sarah, die ich kenne, hätte für ihren Traum alles gegeben. Man sollte immer für die Dinge kämpfen, die einem am Herzen liegen, hast du doch immer gesagt-"
»Mein Gott Kenya, ich habe mich nunmal verändert, okay! Man kann nicht ewig in den Wolken schweben, verstehst du? Ich war jung und naiv, ohne zu wissen, was es wirklich bedeutet, an die Spitze zu kommen. Je eher man das versteht, desto besser. Ich geh' pennen. Hab' morgen eine Frühschicht. und mit fünf Stunden Schlaf wird das nichts.« Genervt knallte Sarah ihre Tasse ins Waschbecken und schlenderte zum Flur. Mein Körper verkrampfte sich bei ihrem erhobenen Ton auf Anhieb, sodass ich meine Tasse fester umklammerte. Reflexartig stand ich auf und trat einige Schritte zurück. Der gehobene Ton war immer ein Anzeichen dafür gewesen, dass die Dinge jederzeit ausarten könnten.»E-Es tut mir leid. Ich...ich wollte-«
»Du wolltest mir helfen? Lass es. Gute Nacht«, erwiderte Sarah trocken, bevor sie mich nun ganz alleine liess. So hatte ich mir das erste Gespräch mit meiner Schwester nicht vorgestellt. Konnte ich sie überhaupt Schwester nennen? Jede weitere Sekunde bestätigte meinen Verdacht, dass wir uns fremd geworden waren. Sie war nicht mehr die 16-jährige Boxerin, die für ihren Traum alles gegeben hätte, und ich war nicht mehr die 18-jährige Kenya, die sich von niemandem etwas gefallen liess.
Wenig später verliess auch ich die Küche und begab mich in mein Zimmer. Die schwarze Reisetasche lag noch immer unberührt auf meinem Bett und schrie fast danach ausgepackt zu werden. Vier Pullis, drei Jeanshosen und mehrere Paare Unterwäsche verstaute ich in die Kommode, die sich gleich neben dem Bett befanden. Das Zimmer war schlicht eingerichtet mit seinen beigen Wänden, und genau vier Möbelstücken. Neben dem Bett und der Kommode, gab es ebenfalls einen Schreibtisch. Es ähnelte sehr dem aus unserer - nein, seiner Ein-Zimmer-Wohnung. Der Unterschied lag in der Ausstattung, die Tante Maria extra von einem Schreiner hatte anfertigen lassen. Es waren solche kleinen Details, die diesen Ort einzigartig machten.
Als ich das letzte Paar Strümpfe verstauen wollte, zog der Glücksbringer meine Aufmerksamkeit auf sich. Ungewollte zuckten meine Mundwinkel in die Höhe, als mir bewusst wurde, dass ich es geschafft hatte. Zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich in Sicherheit. Ja, ich war wieder eine freie Frau.
Ich lebte.
Den Kollier legte ich mir um den Hals, und schwor mir, ihn immer bei mir zu tragen. Vielleicht hatte der Fremde Recht gehabt und man sollte sowas wie Schutzengel und Glücksbringern nicht unterschätzen. Dank seiner Grosszügigkeit hatte ich es geschafft.
Ich lebte.
Ich umfasste den Anhänger und flüsterte: »Danke.«
Ich lebte.
©madeincameroon
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Hey!
Ich kann es kaum erwarten, euch St. George vorzustellen. Wie fandet ihr das Kapitel?
Bis zum nächsten Mal.
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