neunzehn
OFT GEFRAGT. annenmaykantereit
N E U N Z E H N
17:00
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sarahs roter Wagen die Einfahrt hinauffahren würde. An manchen Tagen knallte sie die Haustüre so stark zu, dass ich Angst bekam, sie gehe kaputt. An anderen Tagen war sie gut gelaunt und pfiff ein Lied vor sich hin, während sie zur Haustüre marschierte. Heute war einer dieser Tage.
Während ich vom Küchenfenster beobachte, wie Sarah in ihrer schwarzen Lederhandtasche nach ihrem Haustürschlüssel suchte, zog sich mein Magen zusammen. Der Gedanke an die nächste halbe Stunde war der Auslöser für meine psychosomatischen Beschwerden. Ich sah auf den grünen Knäuel Wolle und die Luftmaschenkette, die in Zukunft zu einem Pullover werden sollte. Vielleicht war es nicht die beste Idee gewesen, sich als Beginnerin direkt das kniffligste Modell rauszusuchen, doch so war ich nunmal. Nach mehreren Stunden Häckeln hatte ich feststellen können, dass Lika Recht gehabt hatte, die gleichmässigen Bewegungen hatten wirklich etwas Beruhigendes an sich. Frustriert, legte ich alles beiseite und war einen Blick auf meine Uhr.
Es waren seit dem Verschwinden unserer Mutter einige Stunden vergangen. Von Beatrices Seite herrschte Funkstille, denn obwohl das Kind in mir sehnsüchtig auf einen Anruf ihrerseits hoffte, hatte mein Handy seit heute morgen keinen Ton mehr von sich gegeben. Es war also entgültig - unsere Mutter hatte uns schon wieder im Stich gelassen.
Über die Jahre war dieses Szenario für Sarah und mich zu einer Gewohnheit geworden. Beatrice ließ sich wochenlang wieder Mal nicht blicken und hoffte, mit einem überteuerten Designerstück, alle wunden zukleben zu können. Anfangs hatte letzteres funktioniert, jedoch hatte ich mit der Zeit verstanden, dass kein Geld dieser Welt mir jemals das geben könnte, wonach ich mich so sehr sehnte.
Zeit.
Zeit mit meiner Mutter.
Jetzt hinterließ das Wort Mutter einen bitteren Nachgeschmack in meinem Mund.
Den ganzen Vormittag hatte ich damit verbracht mir Gedanken über das Verschwinden meiner Mutter gemacht. Darüber wie ich Sarah die Neuigkeit am besten mitteilen könnte, ohne sie zu verletzen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass sie sich die Schuld geben würde. Sie würde sich fragen, wieso sie nicht genug war und wieso ihre eigene Mutter lieber Zeit mit einem Haufen Akten verbrachte, als mit ihr. Das waren dieselben Fragen, die ich mir über den Vormittag gestellt hatte.
Am liebsten würde ich über ihr Verschwinden schweigen, doch das wäre Sarah gegenüber nicht fair, also ging ich die Worte, die sich auf die letzten Stunden angesammelt hatten, in Gedanken durch.
Ich würde ihr erzählen wie Leid es mir tat und dass unsere Mutter uns nie geliebt hatte. Dass dieses Bild, welches sie sich über die Jahre über unsere Mutter gemacht hatte, falsch war. Ich würde ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld war.
,,Es wird langsam Zeit, dass ich mich um den kaputten Kronleuchter kümmere", fluchte meine Schwester. Wenige Sekunden später stand sie in ihrer weißen Arbeitskleidung neben der Kaffeemaschine und machte sich einen Milchkaffee.
Mein Körper ruhte schon seit Stunden auf dem Holzstuhl, der Schuld an meinen Hinternschmerzen hatte. Ich hatte die Zeit völlig aus den Augen verloren. Die Wolken sammelten sich draußen zu einem grauen Fleck und deuteten ein Regenschauer an. Nur zu gut beschrieben sie meinen innerlichen Zustand und die Folgen, die das Verschwinden meiner Mutter mit sich gebracht hatte. Am liebsten hätte ich die Zeit zum Stillstand gebracht, um das bevorstehende Desaster zu vermeiden, doch vergebens.
,,Das hast du letzte Woche auch schon gesagt", erinnerte ich sie an ihre Worte.
,,Ich weiß, ich weiß." Erschöpft fuhr sich Sarah über die Stirn und lehnte sich an das Waschbecken. Es dauert nicht lange, bis ich die wesentlichen Veränderungen an ihrem Aussehen bemerkt hatte. Eine dieser Veränderungen war die schwarze Brille, die mittlerweile viel zu tief auf ihrer Nase saß. Dann waren da auch noch ihre Haare, die sie heute in einem wilden Afro trug. Verwundert hob ich eine Augenbraue in die Höhe.
,,Seit wann trägst du eine Brille...und einen Afro?" Die Wörter brannten mir auf der Zunge und der Anblick meiner lächelnden Schwester brach mir das Herz. Ich wusste weder wie ich diese Konversation beginnen sollte und ob ich währenddessen gegen die Tränen ankämpfen konnte. Wie bringt man einem Menschen am besten bei, dass die Person, die sie am meisten geliebt hat, sie verlassen hat?
,,Seitdem ich meine Kontaktlinsen verloren habe. Die sind schweineteuer, glaub mir. Der Afro-" Geschmeichelt zuckten ihre Mundwinkel in die Höhe. ,,-ich weiß nicht. Ich bin es leid stundenlang vorm Spiegel zu sitzen und mir alle fünf Minuten die Kopfhaut mit meinem Glätteisen zu verbrennen."
,,Es steht dir...w-wirklich sehr", erwiderte ich trockener als erwartet.
Misstrauisch hob Sarah eine Augenbraue und musterte mich. Wahrscheinlich hatte sie Verdacht geschöpft, weil ich die Wörter innerhalb weniger Sekunden runtergerattert hatte.
Bevor Sarah etwas über meine Tollpatschigkeit erwidern konnte, wurde sie von dem Piepen der Kaffeemaschine unterbrochen. Aus ihrer Tasse trank sie nun genüsslich einen Schluck.
Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl und legte die rote Weihnachtstasse an meine Lippen. Den Kaffee hatte ich mir bereits vor einer Stunde gemacht und trotzdem hatte die Tasse bis zu Sarahs Eintreffen unangetastet vor mir gestanden. Die Brühe war bereits kalt, doch ich lies es über mich ergehen, denn ich hasste es, verschwenderisch zu sein.
Das war eine der zahlreichen Dinge, die Marcel gehasst hatte, also hatte ich diese Eigenschaft aufgenommen und behielt sie trotz unserer Trennung bei. Manche Dinge konnte man nunmal nicht loslassen, egal wie hart man es versuchte. Sie ließen einen nicht los, gruben sich tief in die Haut und hinterließen Spuren. Diese Spuren hatte Marcel hinterlassen und die hinterliess nun auch Beatrice in meinem Leben, denn keinen von beiden wollte ich jemals wieder sehen.
,,Kenya, hast du Mama gesehen?", rissen mich Sarahs Worte aus meinen Gedanken. Sie zogen mich zurück zur bitteren Realität, fraßen mich innerlich auf. Der Kloß in meinem Hals machte das Antworten für mich unmöglich, also schüttelte ich als Antwort nur den Kopf.
,,Ich habe letztens dieses exotische Restaurant entdeckt. Mama liebt Meeresfrüchte und da dachte ich, dass wir zu dritt den Abend dort verbringen könnten. Als eine richtige Familie. Du, Mama und ich...wie damals. Erinnerst du dich?" Die dunklen Augen meiner Schwester strahlten vor Aufregung, als sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche zog. Schweigsam führte Sarah mich durch ihre Galerie und zeigte mir Bilder des Restaurants.
,,Wie findest du es? Hast du Freitag Zeit? Wir könnten heute zusammen einen Tisch reservieren!" Als ich Sarahs Hand auf meiner Schulter spürte, stolperte ich einen Schritt nach hinten. Das Waschbecken gab mir Halt, während meine Finger verbissen daran festhielten. Ich musste es ihr sagen, bevor es zu spät war.
,,Nein, ich-" Aus den dunklen Küchenfenstern erkannte ich Sarahs gekränkten Ausdruck. Ihre Lippen lagen in einem schmalen Strich zusammen und ihr Blick ruhte auf ihren Fingern. Das tat sie immer, wenn sie enttäuscht war.
,,I-Ich kann es natürlich auch verstehen, wenn du das alles etwas langsamer angehen willst. Ich weiß ja, dass eure Beziehung momentan nicht die beste ist und-"
,,Sarah, sie ist weg", murmelte ich.
Augenblicklich schüttelte meine Schwester den Kopf und lachte unglaublich.
,,Nein...nein, das kann gar nicht sein. Ich habe gestern Abend mit ihr gesprochen und wir hatten so viel Spaß. Sie hat versprochen, dass sie bleibt, dass-dass...Sie hat geschworen, dass sie uns eine Chance gibt, Kenya." Das Lachen verstummte, als sie an meinem Gesichtsausdruck erkannte, dass es sich nicht um einen Scherz handelte. Ihre schwarze Brille legte sie auf den Esstisch und klemmte eine Hand in ihre Hüften. Mit der anderen Hand fuhr sie sich durchs Gesicht.
,,Kenya." Mit hasserfüllten Augen blickte sie in meine Richtung. Das was ich vermeiden wollte, war zur Realität geworden. ,,Hast du sie weggeschickt? Hast du ihr gesagt, dass sie hier nicht willkommen ist? Ich wusste ja, dass du sie nicht leiden kannst, aber sie ist und bleibt unsere Mutter."
Kopfschüttelnd ging ich auf meine Schwester zu. Meine Hand griff nach ihrer, doch sie zog diese augenblicklich zurück.
,,Nein Sarah, sie hat sich heute morgen einfach aus dem Staub gemacht. Sie hat diese Entscheidung alleine getroffen. Sarah, ich weiß es ist hart, aber sie hat uns verlassen. Beatrice wird sich niemals ändern, verstehst du? Sie ist damals schon vor ihren Verantwortung weggerannt und jetzt tut sie es schon wieder." Es kostete mich unheimlich viel Kraft, meiner Schwester in die Augen zu schauen. Mehr als Hass erkannte ich in ihren Augen nicht und das versetzt mir einen Stich ins Herz.
,,S-Sie hat mir versprochen, dass sie bleibt", schrie sie. Aufgebracht hob Sarah die Hände in die Höhe, während ich dabei zusah wie ihr Herz in tausend Stücke zerbrach.
,,Ihre Versprechen hat sie noch nie gehalten. Erinnerst du dich daran, als sie dir damals zu deinem 16. Geburtstag versprochen hat, mit dir zu feiern? Anstatt den Tag mit dir zu verbringen, hat sie irgendeinem Magazin ein Interview gegeben. Und deine Diplomverleihung, die sie kurzfristig abgesagt hat, weil sie ein wichtiges Gespräch mit einem ihrer Kunden führen musste. All die Jahre hat sie uns im Stich gelassen", schrie ich nun ebenfalls.
,,Warum tut es so weh, Kenay? Wieso bin ich nie genug? Ich habe alles getan, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Das beschissene Studium, die geglätteten Haare, weil meine natürlichen Haare als unprofessionell empfand. Ich hasse Krankenhäuser und weiße Kittel, aber das alles habe ich nur getan, weil sie es wollte. Ich bin es so leid, nicht genug zu sein, Kenya. Ich will doch einfach nur geliebt werden." Ihre Arme klemmte sie um ihren zerbrechlichen Körper. Das tat sie immer, wenn sie sich schutzlos fühlte. Am liebsten hätte ich sie in meine Arme gezogen und ihr gesagt, dass alles gut wird, doch mir war bewusst, dass das nicht stimmte.
,,Sarah, für mich warst du immer genug. Immer", versuchte ich sie zu trösten.
,,Wieso bist du dann damals ohne Kommentar abgehauen? Wieso hast du dich nicht bei mir gemeldet?"
,,Es...Es ist kompliziert", murmelte ich und fuhr mir mit meiner Hand über die Stirn. ,,Du musst wissen, dass ich damals nicht wegen dir weggerannt bin. Ich musste vor Mama wegrennen, vor dem Jurastudium und ihren Erwartungen an mich." Die Worte brannten auf meiner Zunge. Ich hatte versucht die Vergangenheit hinter mir zu lassen, doch sie schien mich ständig zu verfolgen. Zugleich wusste ich, dass ich Sarah eine Erklärung schuldete, denn mir war bewusst, dass mein Verschwinden zum Teil an unserer gescheiterten Beziehung Schuld war. Ich biss mir auf die Unterlippe und suchte nach den passenden Worten.
,,Manchmal frage ich mich wirklich, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich nicht mit Marcel durchgebrannt wäre. Ob ich heute glücklich wäre? Damals wäre ich niemals an diesem Ort glücklich geworden. Ich habe früh verstanden, dass unsere Mutter nur an sich denkt und an das Geld." Der salzige Geschmack einer Tränen ließ mich schlucken. ,,Damals, als...als es mit den Schlägen anfing, da habe ich sie angerufen...sie meinte, sie würde zurückrufen. Ich habe tagelang auf ihren Anruf gewartet, während die Schläge schlimmer wurden. Ich dachte, sie würde mich aus dieser Hölle befreien. Nicht, weil sie eine renommierte Anwältin ist, sondern weil sie an erster Stelle meine Mutter ist. Hätte sie sich damals die fünf Minuten genommen, um zurückzurufen, wäre es vielleicht nie so weit gekommen. Vielleicht würde ich heute weniger Narben tragen und viel öfter Lächeln. Sarah, ich erzähle dir das nicht, um Mitleid von dir zu ergattern...ich erzähle dir das, damit du endlich realisierst, was für eine schreckliche Person unsere Mutter ist."
Perplex blickte meine Schwester in mein tränenverschmiertes Gesicht. Der Schmerz war nach all den Jahren ertragbar geworden, dem war ich dankbar. Plötzlich kam sie einen Schritt auf mich zu, was mich zurückschrecken ließ. Ich konnte in ihren Augen kaum lesen, was sie fühlte und das bereitete mir sorgen. Musste ich mir bald eine neue Unterkunft suchen oder würde wieder alles gut werden?
,,Es tut mir leid...ich hätte dich nicht so hassen sollen. Ich habe mich immer dermaßen danach gesehnt, von Mama Aufmerksamkeit zu bekommen, dass ich dein Leiden gar nicht bemerkt habe. Dass du überhaupt kein Jura studieren wolltest, habe ich erst realisiert, als du weg warst und das mit Marcel-", brach Kenya ab. Ohne drüber nachzudenken, breitete ich meine Arme aus und drückte Sarah ganz fest an meinen Oberkörper, als sie ihren Kopf an meine Brust schmiegte.
Wir verharrten in dieser Position, während meine Gedanken von ihrem Schluchzen erstickt wurden. Ich wollte ihr so vieles erzählen, doch der Schmerz brachte uns zum Schweigen.
,,Ich wünschte, ich wäre für dich dagewesen-"
,,Jetzt bist du aber da und das ist das einzige was zählt", unterbrach ich sie. ,,Wir haben uns Sarah, dafür brauchen wir keine Beatrice und auch keinen Marcel. Wir haben uns."
©madeincameroon
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