Der Countdown endet leise
Ich liebe den hohen Norden. Viele Tage habe ich schon in Ostfriesland und Schleswig-Holstein verbracht. Immer in der Nähe des Meeres. Die Nordsee ist für mich so vertraut, wie die Berge meiner alten Heimat. Als das Praxissemster meines Studiums näher rückte, wusste ich nur, dass ich das dort oben halten wollte. Es wurde die Bibliothek von Oldenburg. Dort wollte ich für sechs Monate arbeiten. Ich bereue es nicht. Oldenburg war schön. Ende Juli ging es endlich hoch. Erst nach Bremen, kurz dort oben ankommen, und dann weiter Richtung meiner kurzen Heimat. Die Mieter meines Zimmers waren „Gutmenschen". Versuchten freundlich zu sein, waren es aber nicht. Trotzdem blieb ich in dem Zimmer. Mir gefiel die Lage am Stadtrand. Ich konnte es genießen. Über Whatsapp hielt ich dennoch Kontakt in den Süden. Täglich schrieb ich mit meiner Mutter. Ließ mir öfters mal ein Bild von Sanjo oder meinem damaligen Hasen schicken. Es war ein wahr gewordener Traum. Bis der Traum zum Albtraum wurde. Und mein einziger Tröster die Nordsee war.
Verdacht auf Krebs. Wer diese Worte hört, ahnt schon schlimmes. Krebs ist nichts Schönes. Er nahm mir vor Jahren mein Großvater, er wurde nur 62 Jahre. Er nahm mir letztes Jahr meine Großmutter, sie wurde 81 Jahre. Und er nahm mir Sanjo, er wurde 18 Jahre. Doch am Anfang wussten wir nichts davon. Er war noch immer ein wenig kränklich. Es ging ihm nicht gut. Doch eine richtige Diagnose hatten wir noch nicht. Wir hatten nur die Hoffnung, dass es bald besser werden könnte. Bis zu dem Tag als meine Mutter mich anrief und diese Worte aussprach. Verdacht auf Krebs. Ein Satz, der einen hilflos erscheinen lässt. Schwach und klein. Was konnte man jetzt tun? Das Liebste leidet, doch man konnte nicht runter. Man musste arbeiten. Wie oft wollte ich runter, doch es ging nicht. Meine Familie blockte bei dem Thema ab, die Freunde sprach sich dagegen aus. Alle waren der Meinung, es wäre, wenn ich oben blieb. Und es war auch das Beste. Ich musste nicht mit ansehen, wie er litt. Ich musste nicht mit ansehen, wie er abbaute. Ich kann mir heute die schönsten Erinnerungen hervor rufen, während die anderen auch die letzten Stunden im Kopf haben. Damals dachte ich jedoch anders. Ich wäre gerne runter gefahren. Ich hab mir die schlimmsten Vorwürfe gemacht. Es gab Tage, wo ich aussah, wie ein lebendiger Zombie. Ich litt mit meiner Katze, obwohl ich nicht bei ihm war. Wir waren uns nah und doch so fern.
Tausend Fotos und Videos wurden damals von mir gemacht. Ich wusste, wieso das ganze passierte. Sie wollte es. Sie wollte dabei sein. Und wenn sie nicht da sein konnte, dann eben so. Gerne hätte ich sie davor bewahrt, aber ich konnte es ihr nicht sagen. Ich ließ es geschehen mit der Hoffnung, dass es sie nicht so zerreißen würde. Ich konnte nicht ahnen, dass es ihr ebenso dreckig ging. Wir waren verbunden, dass spürte ich. Doch mehr konnte ich nicht spüren. Ich war zu sehr auf das Wuchern in meinem Kiefer konzentriert. Ich wollte gehen, aber ich konnte nicht. Mich hielt hier noch was. Mein Körper war noch nicht bereit. Ich hoffte einfach nur noch, dass man mich befreien würde. Wäre sie unten, wäre ich schon längst gegangen. Doch so musste ich mir eine Untersuchung nach der anderen ergehen lassen. Und jedes Mal dasselbe. Krebs. Diese verdammte Krankheit würde mich aus dem Leben nehmen und man konnte nichts tun. Er war unheilbar, es war also nur eine Frage der Zeit bis ich gehen würde. Bis ich meine Familie für immer verlassen musste. All diejenigen, die ich liebte. Ich würde zu einer Erinnerung werden. So war der Kreislauf. Doch es war zu früh. Ich war gerade einmal 18 Katzenjahre alt. Ich hätte noch bis zu zwei Jahre länger leben können. Es war mir aber nicht vergönnt. Die Liebe meiner Familie war mir nicht länger vergönnt. Ich konnte in ihre Augen sehen, wie sie noch Hoffnung hatten. Doch ich wusste, dass es zu spät war. Es war immer mehr und mehr Zeit für mich zu gehen. Dann war es soweit. Noch einmal nahm mich die Schwester auf den Arm und fuhr mit mir weg. Ich schlief friedlich ein. Der Schmerz war jetzt weg. Ich konnte die Tränen in den Augen meiner Liebsten sehen, ehe ich für immer einschlief. Hätte ich damals gewusst, dass sie sich überlegte, runter zu kommen, vielleicht hätte ich noch gekämpft. Doch sie behielt es für sich. Und ich wollte nur noch gehen.
Es war kein Knall, der meine Welt auseinander brach. Es gab keine Explosion, kein Schuss, kein Laut. Eine Kollegin sprach auf mich ein, ich solle nochmal runter fahren. Mein Zombiedarsein war aufgedeckt worden. Ich hab meine Trauer gestand. Und ich wollte fahren. Ich wollte am Wochenende runter fahren. Zu ihm, um ihn nochmal in den Arm zu nehmen. Dann kam das was ich nie wollte.
11:24. Ich saß in meinem Büro in der Bibliothek. Meine Mutter schrieb mich an. Ob ich Zeit zum telefonieren hätte. Meine Augen fingen an zu tränen. Ich wusste es im Herzen. Es war zu spät. Ich bejahte ihre Frage, sagte, ich wäre im Büro, sie rief schnell an. Sie weinte, dass hörte ich. Sie weinte nie, ich habe sie noch nie weinen gehört. Diesmal weinte sie aber. Sie musste nichts sagen, tat es aber. Sie sprach, ich hörte ihr zu. Sie weinte, ich weinte mit. Irgendwann legten wir auf. Ich war allein. In meinem Kopf wollte ich es nicht wahrhaben. Mein Körper sprach sich gegen die Nachricht aus. Es durfte nicht sein. Nicht so. Nicht jetzt. Ich wollte das nicht.
Sie alle weinten. Ich konnte es jetzt sehen. Egal ob im Norden oder Süden. Die Tränen flossen und ich konnte nichts machen. Ich konnte nur zu schauen. Es tat mir leid, doch es musste sein. Ich musste gehen. Aber ich werde sie immer lieben.
Wie konnte man das realisieren, was man nicht wollte. Wie konnte man ein Verlust war nehmen, der nicht sein sollte. Meine Welt versank in Dunkelheit. Und in meinem Kopf war nur noch ein Satz.
Sanjo ist tot.
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