z w ö l f
Da ich die Befragung so früh hatte verlassen können, blieb sogar noch Zeit für ein wenn auch verspätetes Mittagessen. Es war viertel nach zwölf und deshalb konnte ich von Glück sagen, dass die Essensausgabe noch nicht geschlossen hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich meine Freunde in der Menge ausgemacht hatte. Sie saßen an einem Sechsertisch, etwas abseits der anderen Menschen. Neben Sam war ein freier Platz, wo ein unangetastetes Tablett mit Mittagessen stand. Trotz meiner psychischen Verfassung wurde mir warm ums Herz und ein gerührtes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, das sich jedoch sofort wieder verflüchtigte, als ich mir einen Weg zwischen den Tischen hindurch bahnte. Von überall drangen Stimmen an mein Ohr, doch je weiter ich in den Raum hinein schritt, desto mehr wich den lauten Gesprächen aufgeregtes Geflüster. Ich schluckte, als einzelne Satzfetzen wie »Verräterin«, »ausliefern« und »mit der Regierung unter einer Decke« heraushörte. Die Gerüchteküche brodelte. Unwillkürlich fühlte ich mich in der Zeit zurückversetzt. Panik machte sich in mir breit. Würde etwa alles wieder so werden wie damals? Wie damals, als ich keine Freunde gehabt hatte und mich niemand leiden konnte? Wütend verdrängte ich den Gedanken, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Ich konnte es mir nicht leisten, vor der gesamten OMF in Tränen auszubrechen. Also richtete ich den Blick starr auf den Fußboden und versuchte das Getuschel sowie die misstrauischen Blicke der anderen auszublenden. Aus den Augenwinkeln sah ich die vielen Tische an mir vorbeiziehen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, sie zu passieren. Da ich nicht mehr genau wusste, wo der Tisch meiner Freunde war, musste ich nun doch den Kopf heben. Am liebsten hätte ich sofort wieder weggesehen. Starre, erschrockene und misstrauische Blicke klebten an mir wie Kaugummi an einer Schulbank. Zwar waren auch viele unter ihnen, die mir verständnisvolle und mitfühlende Blicke zuwarfen, um mir zu verstehen zu geben, dass ich mir die Gerüchte und Sprüche der anderen nicht zu Herzen nehmen sollte. Die Tatsache, dass es überhaupt Menschen gab, die bösartige und dazu noch falsche, auf willkürlichen Anschuldigungen basierende Dinge über mich dachten, setzte mir dennoch sehr zu. Dagegen konnten tausende verständnisvolle Blicke nichts ausrichten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich den Tisch meiner Freunde, die mich allesamt anlächelten. »Danke, dass ihr mir das Essen aufgehoben habt«, flüsterte ich und zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln, das mir jedoch kläglich misslang. Im gesamten Speisesaal herrschte noch immer Stille und so senkte ich die Stimme, damit nicht jeder mitbekam, was ich erzählte. Wahrscheinlich würden die mir feindlich Gesinnten alles, was ich von mir gab, gegen mich verwenden und so aussehen lassen, dass ich nach und nach immer mehr in das Bild der Verräterin passte, die alle in mir suchten.
»Kein Problem«, wisperte Sam zurück und klopfe auf den freien Stuhl neben sich. »Komm, setz dich und iss ein bisschen was. Du hast bestimmt Hunger.«
Ich nickte, obwohl mir bei der bloßen Vorstellung, auch nur einen einzigen Bissen zu mir zu nehmen, übel wurde. Essen war nun wirklich das Letzte, woran ich denken konnte. Doch meinen Freunden zuliebe, die mich allesamt besorgt musterten, ließ ich mich auf den Stuhl fallen und begann, lustlos in meinem Salat zu stochern. Immerhin hatte die Geräuschkulisse sich mittlerweile wieder normalisiert, sodass es von Minute zu Minute lauter wurde. Auch die Blicke lagen nun nicht mehr alle auf mir.
Chenoa schien zu merken, was in mir vorging und lächelte mich warm an. Ich versuchte, das Lächeln zu erwidern, doch es gelang mir nicht so recht.
»Nimm das alles nicht so ernst«, versuchte Marilyn mich aufzumuntern. »Es dauert bestimmt nicht lange, bis alle gemerkt haben, dass du nicht die Verräterin sein kannst. Und dass sich die Hälfte der Leute hier über dich das Maul zerreißt, liegt nur daran, dass in der OMF kaum etwas Spannendes passiert - die sind alle nahezu sensationsgierig, weil es hier immer so langweilig ist. Das hat nichts mit dir zu tun.«
Ich nickte nicht ganz überzeugt. Was Marilyn da sagte, war zwar einigermaßen einleuchtend, doch das änderte nichts an der gesamten Situation. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Robert ist ziemlich misstrauisch und scheint der festen Überzeugung zu sein, dass ich die Spionin bin.«
»Aber er hat doch keinerlei Beweise, oder nicht? Der Typ kann dir gar nichts, und was er denkt, ist scheißegal«, fand Galvin – rational wie eh und je. »Und außerdem hast du ja noch uns. Wir sind alle auf deiner Seite.« Er machte eine Handbewegung, die den gesamten Tisch einschloss.
Wieder versuchte ich mich an einem dankbaren Lächeln. Und wieder scheiterte ich.
»Ich finde auch, du solltest dir das alles nicht so sehr zu Herzen nehmen«, schloss Sam sich den anderen an. »Menschen reden viel und solange sie nichts Schlimmeres tun, können sie dir egal sein.« Sam legte eine Hand auf meinen Arm. Es sollte eine beruhigende Geste sein, doch sie bewirkte genau das Gegenteil. Ich wurde noch nervöser als zuvor und eine Hitzewelle brandete über mich hinweg. Innerlich stieß ich einen genervten Seufzer aus. Ich hatte jetzt wirklich andere Probleme, als mir über Sam Gedanken zu machen.
»Vielleicht habt ihr Recht«, räumte ich ein.
Auf den Gesichtern meiner Freunde breitete sich ein Grinsen aus. »Haben wir das nicht immer?«, fragte Galvin lachend.
Ich verdrehte die Augen, fischte eine Tomate aus meinem Salat und machte Andeutungen, ihn damit abzuwerfen. Immerhin ein leichtes Lächeln erschien auf meinem Gesicht.
Marilyn lachte ebenfalls, wurde dann jedoch wieder ernst. »Und falls dir trotzdem niemand glaubt, dass du keine Verräterin bist, dann versuchen wir, das Ganze eben selbst aufzuklären. Und zwar mit handfesten Beweisen.«
Ich zuckte lustlos die Schultern. »Das ist ja echt lieb von dir, aber mit sechzehn Jahren fühle ich mich ehrlich gesagt zu alt für so etwas.« Ich presste entschuldigend die Lippen aufeinander. »Vor ein paar Jahren hätte ich da ja noch mitgemacht, aber mittlerweile...« Ich ließ das Ende des Satzes offen. »Weißt du, solche Detektivspielchen bringen doch sowieso nichts.«
»Wenn du meinst«, murmelte Marilyn etwas beleidigt. »Ich wollte dir doch nur helfen.«
»Hey, so hab ich das doch nicht gemeint«, versuchte ich schnell zurückzurudern. »Ich schätze es wirklich, dass du – dass ihr alle – hinter mir steht, aber ich bin gerade einfach nicht in der Stimmung, Detektiv zu spielen. Nehmt es mir bitte nicht übel.« Ich stand mit meinem Tablett in den Händen auf und streifte widerwillig Sams Hand ab. »Ich brauche jetzt ein bisschen Zeit für mich, okay? Ihr findet mich in der Bibliothek.«
Meine Freunde nickten und bedachten mich mit einem aufmunternden Lächeln.
»Ruh dich aus«, stimmte Sam mir zu. »Danach geht es dir bestimmt schon viel besser.«
Ich nickte, obwohl ich das bezweifelte.
»Du brauchst wirklich nicht schon wieder auf mich zu warten«, versicherte ich Sam, als wir am nächsten Tag vor Richards Büro standen. In der letzten halben Stunde hatte ich diesen Satz so oft gesagt, dass mir schon mindestens ein Dutzend verschiedene Formulierungen für ein und denselben Inhalt eingefallen waren. Trotzdem wollte Sam sich nicht umstimmen lassen.
»Es macht mir nichts aus«, entgegnete Sam. Ebenfalls zum dutzenden Mal in der vergangen halben Stunde.
Heute war der zweite Teil der Befragung und ich hatte mir den ganzen Morgen über alle nur erdenklichen Fragen den Kopf zerbrochen, um auf jede einzelne die best möglichste und überzeugendste Antwort zu haben. Ob ich dadurch wirklich auf die Befragung vorbereitet war, konnte ich nicht sagen, doch meine Vorarbeit gab mir ein wenig Sicherheit und nahm mir einen Teil meiner Angst. Denn über eines war ich mir eindeutig im Klaren: Ich durfte es auf keinen Fall noch einmal vermasseln. So wie Robert gerade drauf war, würde er mich wahrscheinlich bei der erstbesten Gelegenheit im hohen Bogen aus der OMF schmeißen, und auf Sophie konnte ich in Anbetracht ihrer seltsamen Gefühlsschwankungen auch nicht unbedingt zählen.
»Ich warte gerne auf dich«, setzte er mit Nachdruck hinzu und riss mich damit aus meinen düsteren Gedanken.
Ich nickte seufzend. Ich würde ihn sowieso nicht von seinem Vorhaben abbringen können. Ich nahm mir die nötige Zeit, um tief durchzuatmen und mir meine blonden Haare glattzustreichen, bevor ich meine Hand auf die kühle, metallene Klinke legte.
»Viel Glück!«, wünschte Sam mir noch, doch es ging halb im leisen Klacken des Türschlosses unter.
Richard saß hinter seinem Schreibtisch. Sein zierlicher Körper wurde teils von den Stapeln aus Papieren und Ordnern verdeckt, die in seinem vollgestopften Bücherregal an der rechten Wand keinen Platz mehr gefunden hatten. Auf dem Boden lag ein wertvoll aussehender Perserteppich, um den ich immer einen großen Bogen machte – aus Ehrfurcht, aber vor allem aus Angst, ihn schmutzig zu machen oder gar zu beschädigen. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, wollte nicht so recht ins Bild passen. Eher erwartete man hier einen wertvollen Lampenschirm oder gar einen Kronleuchter.
Richard schenkte mir ein unbestimmtes Lächeln, als ich eintrat und begrüßte mich mit einem Nicken. »Komm, setz dich!«, forderte er mich freundlich auf und deutete mit dem Kinn auf ein mit braunem Leder bezogenes Ecksofa, auf dem sich bereits Robert und Tim niedergelassen hatten. Von Sophie war keine Spur.
Auch von Robert erntete ich ein Nicken, allerdings war seines um Welten unterkühlter als Richards. »Du bist also doch gekommen?« Es war wohl eher eine Feststellung, doch er ließ es wie eine Frage klingen und hob überrascht die Augenbrauen.
Ich ließ mich auf dem Sofa nieder, darauf bedacht, den größtmöglichen Abstand zu Robert einzuhalten. »Sieht ganz so aus«, umging ich seine Stichelei und schenkte ihm ein freudloses Lächeln. Meine Schüchternheit war ab dem Moment verflogen, in dem ich ihn wiedergesehen hatte. Gestern Nacht hatte ich meine Einstellung ihm gegenüber noch einmal überdacht. Sollte er doch von mir denken, was er wollte. Das tat er ja bestimmt sowieso schon. Und außer meiner Unschuld an den Ereignissen der letzten drei Jahre musste ich ihm nichts beweisen.
»Wieso hätte sie denn nicht kommen sollen?«, fragte Tim verwirrt.
»Vielleicht weil sie schuldig ist und sich deshalb nicht unserer Befragung unterziehen will?«, schlug Robert vor und bedachte seinen Kollegen mit einem Blick, der nur erahnen ließ, für wie minderbemittelt er ihn hielt. Ich war froh, dass er seine Gedanken dennoch für sich behielt, denn andernfalls wäre die Stimmung wahrscheinlich ins Bodenlose gestürzt.
Richard hob skeptisch die Augenbrauen. »Was ist das denn für eine Logik? Wenn jemand darum bemüht ist, seine Unschuld zu beweisen, wäre es alles andere als schlau, bei einer Befragung mit Abwesenheit zu glänzen, findest du nicht auch?«, fragte er an Robert gewandt. Ehe dieser etwas erwidern konnte, setzte Richard sich zu uns und legte einen dunkelgrünen Ordner auf seinen Oberschenkeln ab. »So dann wollen wir doch mal anfangen.«
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