z w e i u n d v i e r z i g
Die Gefängniszellen waren nicht schwer zu finden, zumal fast der gesamte Keller daraus bestand. Nur ein einziges Mal öffnete ich die falsche Tür. Als ich dahinter Stimmen vernahm, ließ ich sie hastig wieder zufallen und verzichtete darauf, sie zu verriegeln. Ich wollte einfach nur weg, bevor mich jemand entdeckte.
Schon bald führten mich die wenn auch verwirrenden Schilder zu einer großen, schweren Tür, auf der in großen Lettern die Ziffern 010 prangten. Schnell fand ich die passende Schlüsselkarte, mit deren Hilfe ich mir Zutritt in den Gefängnisbereich verschaffte. An der Wand direkt neben der Tür entdeckte ich ein das Symbol einer Kamera. Darunter blinkte ein rotes Licht neben einem schwarzen Schalter. Kurzerhand kippte ich den Schalter und das Licht erlosch. Hieß das, ich hatte die Kameras in diesem Raum abgeschaltet? Warum war das so einfach möglich? Ich bekam eine Gänsehaut. Geschahen hier etwa Dinge, die auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen durften und deshalb nicht aufgezeichnet wurden?
Ich schüttelte den Gedanken hastig ab und schloss die Tür hinter mir. Ich fand ich mich in einer riesigen Halle wieder, welche den Raum, in dem die Fantasie gelagert wurde, wie eine Abstellkammer erscheinen ließ. An allen Wänden rund herum waren schwere Türen eingelassen, die allesamt jeweils ein handtellergroßes Fenster auf Kopfhöhe besaßen. Unwillkürlich musste ich an ein Plumpsklo aus alten Zeiten denken. Waren das also die Zellen? Vermutlich. Mein Blick wanderte weiter und blieb an den rundum verglasten Räumen hängen, die das Zentrum der Halle bildeten. In jedem standen sowohl zwei Stühle, als auch ein Tisch, auf dem eine Kamera sowie ein Mikrofon platziert worden waren. Es schien sich um Verhörzimmer zu handeln, jedoch ähnelten sie eher einem Großraumbüro, das die unterschiedlichen Arbeitsplätze nur durch deckenhohe Glasscheiben trennte. Mir behagte nicht bei dem Gedanken, dass Sam hier einmal gesessen haben musste, und meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Ich musste ihn finden. Möglichst bevor jemand bemerkte, dass ich die Keycards gestohlen hatte.
Sogleich machte ich mich an die Arbeit. Nachdem ich mir die verschwitzte Mütze abgezogen hatte, begann ich bei der ersten Zelle von links und spähte durch das Fenster in der Tür. Nichts. Sie war leer. Ich setzte meine Suche fort; erhaschte Blicke auf weitere verlassene Zellen sowie schlafende, mir unbekannte Insassen und einen verwirrten alten Mann, der Selbstgespräche führte und auf seinem Stuhl mit dem Oberkörper unentwegt vor und zurück schaukelte, als befände er sich in einer Hypnose. In dem Augenblick, in dem er mein Gesicht an der Scheibe bemerkte, sah er auf und nur für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Er entblößte ein komplett zahnloses Gebiss, als er mich mit einem irren Lächeln begrüßte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als würde ich all die Gefühle der Häftlinge in mich aufnehmen und zu meinen eigenen machen. Ich schluckte eilig und ging weiter.
Doch auch in den nächsten Zellen wurde ich nicht fündig. Weder Sam noch Marilyn noch irgendjemand anderes schien sich noch hier zu befinden. Wieder schwebte mir Sams Gesicht vor Augen. Wie er hinter der Scheibe im Krankenhaus gestanden hatte. Ich schloss die Augen, um es mir besser vorstellen zu können; die Erinnerung die Macht über meinen Geist übernehmen zu lassen. Ich bin gefangen. Ich bin bei der Zentrale der Regierung. Der hilflose Ausdruck auf seinem Gesicht war in meiner Erinnerung noch immer so präsent, als stünde er direkt vor mir. Hatte ich ihn mir etwa doch nur eingebildet? Hatte ich geträumt? Vielleicht war er niemals hier gewesen. Verzweiflung machte sich in mir breit und ich versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. Doch es gelang mir nicht. Schon spürte ich die salzige Flüssigkeit meine Wangen hinab rinnen, schmeckte die Tropfen der Traurigkeit auf meinen trockenen Lippen.
»Sam...«, flüsterte ich und obwohl ich leise sprach, warfen die Wände das Echo meiner Worte zurück. »Wo seid ihr nur alle...?«
Ich starrte auf die Keycards in meinen Händen. Vielleicht konnte ich einen der einigermaßen harmlos aussehenden Insassen fragen, ob sie etwas gesehen hatten; ob Sam und die Anderen tatsächlich hier gewesen waren.
Ich öffnete die nächstbeste Tür. Es war die des seltsamen Mannes, der noch immer auf seinem Stuhl hin und her wippte. Na toll.
»Äh, hallo«, startete ich einen Versuch. »Wissen Sie zufällig, ob hier vor Kurzem ein paar Jugendliche waren. Einer von ihnen hat dunkle Haare und eine Brille und das eine Mädchen blonde Locken...« Ich unterbrach mich, als der Mann sich erhob, und wich einen Schritt zurück. Er war vielleicht in den Mittdreißigern, wirkte jedoch durch sein heruntergekommenes Auftreten um Einiges älter.
»Hier geht jeder ein und aus, wie's den Bullen passt.« Er spuckte auf den Boden. »Scheiß Bullen!« Ein irres Lachen entwich seiner Kehle. Hätte ich doch bloß die Tür geschlossen gelassen und wäre zu einem anderen, weniger geistig angeknacksten Häftling gegangen. »Scheiß Bullen!«, brüllte er nun so laut, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Als er den verängstigten und verstörten Ausdruck auf meinem Gesicht sah, umspielte ein Lächeln seine Lippen, das ich nicht so recht deuten konnte – und um ehrlich zu sein auch nicht deuten wollte. Ich wusste nicht, was dieser Mann verbrochen hatte, aber ich war mir sicher, dass ich in seinen Augen nichts anderes als vor Angst zitternde, leicht zu beschaffene Frischbeute war.
»Also, haben Sie jemanden gesehen, der auf meine Beschreibung passt?«, versuchte ich es noch einmal und verschränkte die Arme vor der Brust, um meine Unsicherheit zu überspielen.
Er trat so nah an mich heran, dass ich seinen warmen, fauligen Atem auf meiner Haut spürte. Fast hätte ich angeekelt das Gesicht verzogen und einen Schritt nach hinten gemacht, doch so würde mir der Mann mit Sicherheit erst recht keine Antwort auf meine Frage geben. »Ja, der Typ mit der Brille...« Er warf lachend den Kopf in den Nacken, dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Kennt ihr euch?«
»Ja.« Wieso sonst sollte ich schließlich nach ihm suchen? »War er hier?« Mein Herz klopfte sowohl aus Angst als auch vor Aufregung und Nervosität.
»Habt ihr was miteinander?« Ein seltsam unmenschliches Kichern entwich ihm und ich fragte mich, ob er betrunken oder auf Drogen war. Doch woher sollte er die hier unten bekommen? »Du? Und er?« Er taumelte einige Schritte nach links, dann wieder zurück nach rechts. »Du?« Nach links. »Und er?« Wieder nach rechts. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich es vielleicht sogar für lustig befunden. Wie in einer Endlosschleife wiederholte er die Worte und Bewegungen, wurde jedoch immer wieder von lautem Kichern unterbrochen.
»Okay, das reicht jetzt«, versuchte ich mir in all dem Durcheinander Respekt zu verschaffen, obwohl mein Stimme zitterte. »War. Er. Hier?« Am liebsten hätte ich ihn an beiden Armen gepackt, über Kopf gehangen und die Antwort aus ihm heraus geprügelt, doch ich wusste, dass der Mann vor mir wesentlich stärker war.
»Nun gut, ich will dich nicht mehr länger auf die Folter spannen«, entgegnete er schulterzuckend. »Ja, er war hier.« Ich seufzte erleichtert. Anscheinend hatte ich doch noch nicht komplett den Verstand verloren. »In dieser Zelle.« Der Mann deutete mit seinem schmutzigen Zeigefinger auf eine Tür auf der anderen Seite des Raums. »Oder nein ... hier!« Der Finger wanderte weiter zur nächsten Zelle. »Oder doch hier?« Sein Blick schoss etwa zwanzig Türen weiter.
»Egal«, unterbrach ich ihn, »ich wollte nur wissen, ob er hier war. Danke.«
Erneut legte sich eine Maske der Ernsthaftigkeit über sein Gesicht. »Ja... er war hier«, sagte er und nickte. »Hier.« Nun war seine Stimme kaum mehr, als ein Flüstern.
»Ja, danke, das sagten Sie bereits.«
Doch der Mann ließ sich nicht von mir beirren und spazierte an mir vorbei hinaus aus der Zelle. »Hier!«, brüllte er mit einem Mal wieder und breitete die Arme aus. Er schien gar nicht zu verstehen, was er da tat und wo er hier war, geschweige denn, dass ich ihn soeben unfreiwillig befreit hatte. Wie ein Kind drehte er Pirouetten in der großen Halle, die Arme weit von sich gestreckt. Er lachte schallend und rief immer wieder »Hier! Hier!« Irgendwann wurde seine Stimme zu einer Art Singsang, nahm abwechselnd hohe und tiefe Tonlagen an, bis seine Vorstellung in einem so hohen Quietschen endete, dass es in den Ohren schmerzte. Ich schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht.
Meine Gedanken schweiften wieder zu Sam. Er war also tatsächlich hier gewesen. Aber wo war er nun? Hatte man ihn freigelassen? Oder vergammelte er jetzt womöglich in einem Gefängnis irgendwo am Rande der Stadt? Ich schluckte, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, doch es gelang mir nicht. Noch nie zuvor hatte ich mich Sam und Marilyn und allen anderen so fern gefühlt wie jetzt. Noch nie hatte ich mich überhaupt so allein gefühlt wie hier im Keller des Regierungssitzes neben einem verrückten Fremden – nicht einmal auf meiner Reise durch die Wüste.
Obwohl ich noch immer die Fantasie im Hinterkopf hatte, musste ich mich kurz hinsetzen. Ich zog die Beine an meinen Oberkörper und umschlang sie fest mit den Armen, vergrub den Kopf in der Kuhle zwischen meinen Knien. Dann begannen die Tränen zu strömen. Immer schneller, immer mehr, immer weiter. Sie perlten von meinem Tarnanzug ab, den ich noch immer vom Hals abwärts trug. Ein Schluchzen entrann meiner Kehle und wollte nicht so recht zu der restlichen Kulisse passen – zu dem verwirrten Mann, der noch immer lachend seine Kreise in der Halle zog.
»Da ist sie!«
Ich wandte alarmiert meinen Kopf und nahm die Hände von den Augen. Durch einen Schleier aus Tränen erkannte ich den Lastwagenfahrer und die Mitarbeiterin auf mich zu stürmen. Verdammt, wieso nur hatte ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass unsere Geräusche – vor allem die Stimme des seltsamen Mannes, die durch die offen stehende Tür in jeden einzelnen Winkel des Kellers dringen musste – die beiden auf uns aufmerksam machen würden?
»Das ist Luna Wilk!«
Das Blut gefror mir in den Adern. Sie hatten mich enttarnt. Wieso nur war ich so unvorsichtig gewesen und hatte meine Kopfbedeckung ausgezogen?
Nun sah ich die Spritze in ihren Händen.
»Nein!« Meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Das durften sie nicht tun. Nicht jetzt, nicht irgendwann. Niemals! Und erst recht nicht jetzt, wo ich so nah am Ziel war. Die Schlüssel rutschten mir durch die schweißnassen, kraftlosen Finger und fielen klappernd zu Boden.
»Ich bin nicht die, die ihr sucht!«, startete ich einen letzten verzweifelten Versuch, die Frau umzustimmen. Doch als ich ihren entschlossenen Blick sah, die langen, zielstrebigen Schritte, die Spritze, die sie mit ihrer Rechten fest umklammert hielt, ging mir auf, dass es zwecklos war. Jeder Fluchtversuch, jedes Betteln würde mich nur wie ein Feigling dastehen lassen und rein gar nichts an meiner ausweglosen Situation ändern. Also erhob ich mich, um den Anschein zu erwecken, bereit zum Kämpfen zu sein. Ich wusste nicht, wem ich etwas vormachte – den beiden Mitarbeitern oder wohl eher mir selbst? Zwei gegen einen; eine Frau und ein durchtrainierter Wachmann gegen mich – ein junges, zierliches Mädchen mit der Kampferfahrung eines Tischs. Wegen mir brauchten sie sich definitiv keine Sorgen zu machen.
Die Frau stand nun direkt vor mir, der Mann ein Stück weit hinter ihr – vermutlich, um mich vor der Tür zum Flur abzufangen, falls ich einen Fluchtversuch wagte. Die Mitarbeiterin warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. »Sie ist es.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Jetzt noch die Tatsachen zu leugnen, wäre vergebens. Ich konnte nur hoffen. Hoffen darauf, dass ich plötzlich Superkräfte verliehen bekam, oder am besten auf ein Wunder. Eines wusste ich jedoch. Ich würde ihnen meine Fantasie nicht kampflos überlassen.
Vorsichtshalber ging ich einen Schritt zurück, doch schon war die Frau mit ihrer Spritze wieder da und hielt sie so weit von sich gestreckt, als würde sie jeden Moment explodieren. Als ich verstand, was ihre Absicht war, war es längst zu spät. Mit nur einem Satz war sie bei mir und mit ihr die Spritze. Blind trommelte ich auf den Arm der Mitarbeiterin ein, trat um mich, doch ich traf sie kaum. Auch mein Tarnanzug war mir keine große Hilfe. Mein Kopf war noch immer zu sehen und so bedurfte es keines großen Rätselratens, um zu wissen, wo in etwa sich der Rest meines Körpers befand.
Panik machte sich in mir breit. Ich durfte meine Fantasie auf keinen Fall verlieren; vermutlich war ich eine der letzten Menschen auf dieser Welt, die sie überhaupt noch besaßen. Zwar hatte ich noch immer den Zettel mit meinem Plan in der Hosentasche, der mir zur Not zeigen konnte, wie ich weiter vorgehen musste, allerdings glaubte ich nicht, dass die Leute von der Regierung mich einfach wieder würden laufen lassen, sobald sie hatten, was sie wollten. Ich musste jetzt entkommen, nachher war es zu spät.
»Halt verdammt nochmal endlich still!«, zischte die Frau vor mir wütend, die vergeblich versuchte, mir ihre Spritze in den Körper zu rammen. »Du weißt schon, dass dein Gezappel dein Urteil bei einer Verhandlung nicht gerade begünstigt, oder?«
Ja, das konnte ich mir denken. Aber bevor ich mich ergab, wollte ich alles in meiner Macht stehende tun, damit es gar nicht erst zu einem Gerichtsverfahren kam.
Immer wieder sprang die Frau auf mich zu, doch ein jedes Mal wich ich ihr aus oder traf die Spitze an der Seite mit der Faust, sodass die lange Nadel mich verfehlte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der seltsame Mann aus der Zelle stehen geblieben war und das Geschehen interessiert beobachtete. Immerhin hielt er nun den Mund.
Doch ich hatte mich zu früh gefreut. »Kämpf! Ja, Mann, kämpf mit den scheiß Bullen!«, erklang seine kratzige Stimme hinter mir. Es war ja nett, dass er mich anfeuerte, allerdings wäre es mir deutlich lieber, käme er mir stattdessen zur Hilfe. Mein Atem ging stoßweise, langsam machte sich das Seitenstechen bemerkbar, das unter meinem Brustkorb aufkeimte und immer weiter anschwoll, um sich bis in den Bauch auszubreiten. Helle Punkte tanzten vor meinen Augen und auch der Schwindel würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich hatte seit heute Morgen nichts mehr gegessen.
»Luna!«
Meine Augen weiteten sich vor Unglauben und Überraschung und mein Blick schoss zur Tür. Eine zierliche Person stand hinter dem Lastwagenfahrer und beobachtete mich und die Szene, die sich hier abspielte, perplex.
Ich war unaufmerksam. Nur wenige Sekunden. Doch als ich mich wieder gefangen hatte, die Konzentration voll und ganz auf meine Gegnerin richtete, war es zu spät.
Der stechende Schmerz in meiner Armbeuge war nicht stark, dafür der in meinem Herzen umso stärker. Ungläubig hielt ich inne und starrte auf die Spritze in meinem Arm. Als die Frau sie aufzog, glitt langsam ein kleiner, regenbogenfarbener Faden hinein. Erst nur ein winziges Bisschen, doch nach und nach kam immer mehr. Ich wollte nicht glauben, was da geschah, wandte den Blick ab, schloss die Augen. Und dann spürte ich die Leere. Diese unangenehme, dunkle, endlose Leere, die sich in meinem Inneren ausbreitete, wie ein unglaublich schnell wachsender Schimmelpilz, bis sie auch mein Herz erreicht hatte.
Die Spritze wurde herausgezogen. Dann wurde es vor meinem inneren Auge grau und dunkel und die Schwärze zog mich mit sich in ihr tiefes, dunkles Loch, in dem Fantasie ein Fremdwort war.
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