z w a n z i g
Ein markerschütternder Schrei erfüllte den Raum. Erschrocken stolperte ich zurück und konnte nicht glauben, was ich soeben getan hatte. Wie in Trance starrte ich zu Boden, wo sich langsam eine rote Pfütze bildete. Das Blut verteilte sich immer weiter über den Boden und machte erst vor meinen nackten Füßen halt. Ich trat einen Schritt zurück und ließ meinen Blick langsam nach oben wandern.
Vor Erleichterung hätte ich beinahe geseufzt, als ich bemerkte, dass das Blut aus einer Wunde in Tims Hand rann. Ich hatte sie komplett mit meinem Messer durchbohrt. Übelkeit überkam mich und am liebsten hätte ich den Blick abgewandt. Doch das würde Tim zeigen, dass ich schwach war. Dass ich eigentlich kein Blut sehen konnte. Dass mir der Gedanke etwas ausmachte, ihn zu töten. Und er sollte nicht denken, dass ich das unschuldige sechzehnjährige Mädchen war, das kein Wässerchen trüben konnte. Er sollte denken, dass ich jederzeit ohne großes Nachdenken von dem Messer Gebrauch machen würde.
Tim starrte mich mit einer Mischung aus Angst und Überraschung an und stolperte einige Schritte zurück, bis er mit dem Kopf an einen Küchenschrank stieß. Der Schmerz ließ ihn zusammenfahren, doch seine rechte Hand schien sein größeres Problem zu sein. Er hielt sie mit der Linken fest umklammert, um den Blutfluss und vermutlich auch die Schmerzen zu stoppen, doch die rote Flüssigkeit rann ungehindert zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte auf den weißen Boden. Rotes Blut auf weißen Fliesen.
Sein Blick glitt von seiner verletzten Hand nach oben. Er war voller Hass und Rachsucht und langsam sammelte er sich wieder und kam auf mich zu. Ich richtete das Messer auf ihn, das ich gleich beim Zustechen wieder aus seiner Wunde herausgezogen hatte, um für den Notfall bewaffnete zu sein, doch ich wusste, dass ich dieses Mal nicht mehr in der Lage sein würde, zuzustechen. Zu viel Übelkeit verursachten mir das Blut auf dem Boden sowie der Gedanke, dass ich versucht hatte, Tim zu töten. Ich konnte es nicht noch einmal. Das Messer zitterte stärker als zuvor in meiner Hand. Nicht nur das Messer, nein, mein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen. Meine Beine knickten mir beinahe weg und ich musste mich mit der freien Hand am Küchentisch abstützen.
Trotz des Schmerzes, der Tim plagen musste, hob er seine Mundwinkel zu einem überlegenen Grinsen, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Komm nicht näher«, zischte ich trotzdem drohend und streckte das Messer weiter in seine Richtung, um meine Worte zu untermauern.
Nur wenige Sekunden später bemerkte ich, dass dies ein Fehler war. Ehe ich reagieren konnte, griff Tim mit der linken Hand nach dem Messer und zog es mir so ruckartig aus der Hand, dass mir nichts als ein Brennen in der Handfläche blieb. Einen Moment lang starrte ich ungläubig auf meine leeren Hände. Tim jedoch nutzte meine Unaufmerksamkeit und stürzte auf mich zu.
Geistesgegenwärtig kniff ich fest die Augen zusammen. Ich wollte es nicht sehen, wollte nicht sehen, wie er sich an mir rächte und mich tötete; wollte nicht das Blut aus meinem Körper strömen sehen; wollte nicht sehen, wie das Leben langsam aus mir wich. Ich wollte nur, dass es schnell vorbei war.
Doch der Schmerz blieb aus.
Dafür spürte ich scharf und kühl die Messerklinge an meinem Hals. Tim war hinter mich getreten und hatte das Messer an meine Kehle gelegt. Mit seinem rechten Arm drückte er mich fest an sich, sodass es mir trotz seiner verletzten Hand unmöglich war, zu entkommen. Blanke Angst ergriff Besitz von mir, hüllte mich in ihr dunkles, undurchsichtiges Tuch und ließ mein Herz schneller schlagen. Es hämmerte unentwegt gegen meinen Brustkorb, als wollte es diesen nach Sauerstoff lechzend zersprengen, um Luft in sich einzusaugen. Luft, die meinem Herzen verwehrt blieb, da die Angst mir die Kehle zuschnürte und mir das Atmen beinahe unmöglich machte.
Doch auch die Erleichterung machte sich bemerkbar. Er hatte nicht zugestochen. Noch nicht.
»So, jetzt spielen wir das Spielchen mal andersrum«, raunte Tim mit gepresster Stimme. Trotz meiner Angst umspielte ein Lächeln meine Mundwinkel. Seiner Stimme zufolge musste ihm der Schmerz ganz schön zu schaffen machen.
Aber was hatte er jetzt bitteschön vor mit mir? Töten konnte er mich eigentlich nicht. Schließlich brauchte er mich, damit ich weiterhin die Rolle der Verräterin spielen konnte. Wenn er mich umbrachte, würden außerdem Sophie und Robert ihn verraten. Natürlich konnte er auch sie beide töten, doch vermutlich würde der Verdacht schnell auf ihn fallen, wenn er als Einziger übrig blieb.
Von Sophie kam ein unverständliches Grummeln, dem sich Robert sofort anschloss, doch Tim nahm keinerlei Notiz davon und widmete mir seine volle Aufmerksamkeit.
»Du wirst mich nicht töten«, krächzte ich und versuchte, vor seinem Messer zurückzuweichen. Doch Tim stand noch immer hinter mir und hielt das Messer fest umklammert. Meine Worte veranlassten ihn nur dazu, den Druck an meinem Hals zu verstärken. Das Messer bohrte sich nun in meine Haut und es war nur eine Frage der Zeit und vor allem des Drucks, bis es meine Haut durchschneiden würde.
»Sei dir da mal nicht allzu sicher«, entgegnete Tim lachend, wohl wissend, dass er gerade meine Worte benutzte.
»Du kannst mich gar nicht töten«, entgegnete ich und schnappte nach Luft. Das Messer an meinem Hals verursachte mir Übelkeit und drückte zugleich meine Luftröhre ein Stückchen zu. »Das würde deinen ganzen Plan durcheinanderbringen.«
»Da hast du sogar Recht, Luna«, räumte Tim ein. »Ich kann dich nicht töten. Aber ich kann jemand anders töten.«
Die Übelkeit wurde durch seine Worte nur noch mehr verstärkt und auch die Tatsache, dass seine verletzte Hand meine Kleidung mir seinem Blut tränkte, machte es nicht besser. Was meinte er damit – jemand anders töten? Oder eher, wen meinte er damit.
»Wenn du jemanden aus der Organisation tötest, wird man deine Spuren am Tatort und an der Leiche finden«, sagte ich und wollte die Spucke, die sich in meinem Mund gesammelt hatte, hinunterschlucken. Doch als ich einen Versuch wagte, erkannte ich, dass dies nicht möglich war. Wenn ich schluckte, bewegte sich mein Kehlkopf gefährlich in die Richtung des Messers.
»Das stimmt«, entgegnete Tim seelenruhig, als würde ihn diese Tatsache nicht gerade überraschen. »Aber wie dir sicher bekannt ist, leben nicht alle Personen, die dir wichtig sind, hier unten.«
Ich verstand, wen er meinte und Panik übermannte mich. »Großmutter«, flüsterte ich.
»Du hast es erfasst. Deine liebe Großmutter muss dran glauben, wenn du nicht tust, was ich jetzt von dir verlange.«
Mir traten Tränen in die Augen und ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. »Was willst du von mir?«
Tim lachte zufrieden. »Genau auf diese Frage habe ich gewartet. Wusste ich doch, dass du deine Großmutter niemals im Stich lassen würdest.« Wieder entfuhr ihm ein Lachen. »Wie naiv und treu du doch bist. Dabei hat doch deine Großmutter selbst dich schon einmal im Stich gelassen.«
»Sie hat mich nicht im Stich gelassen«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Doch insgeheim wurde mir nur einen Moment später bewusst, dass er ein Stück weit sogar recht hatte. Großmutter war mir nicht in die Organisation gefolgt und das obwohl ich schon immer schüchtern gewesen war und sie gewusst haben musste, dass es mir schwer fallen würde, Freunde zu finden. Doch ich würde mich hüten, Tim dies zu offenbaren.
»Wenn du meinst«, sagte er nicht gerade überzeugt und lockerte seinen Griff um das Messer etwas, sodass ich besser atmen konnte. Er schien zu wissen, dass ich nicht mehr davonlaufen würde; jetzt, wo ich wusste, dass das Leben meiner Großmutter auf dem Spiel stand.
»Was ich von dir verlange, ist ganz simpel«, erklärte Tim. »Du gehst zu Richard und gestehst ihm, dass du die Verräterin bist.«
Er nahm das Messer von meinem Hals und ich stolperte erleichtert einige Schritte nach vorne und sog die abgestandene Luft der Küche ein. Doch sogleich wandte ich mich wieder zu ihm um. »Ich soll was?«
»Ich bin mir sicher, dass du mich gut verstanden hast«, antwortete Tim kühl und öffnete die Küchentür. »Also los!«
»Aber ich habe doch keine Ahnung, wie ich es ihm sagen soll«, entgegnete ich aufgebracht.
»Das ist dein Problem, nicht meines. Mir ist egal, wie du es ihm beibringst, solange er es schluckt.«
Als ich mich noch immer nicht bewegte, rief er: »Los, geh schon! Und in einer halben Stunde bist du wieder hier!«
Ich zitterte noch immer, als ich Sophies und Roberts Wohnung verlassen hatte, und den Flur in Richtung Richards Büro entlanglief. Ich beschloss, einen Abstecher ins Badezimmer zu machen, bevor ich mich ihm stellen würde. Ich musste runterkommen, meinen Schock verarbeiten. Jedenfalls so gut das in den wenigen Minuten, die mir blieben, möglich war.
Auf jedem Stockwerk der Organisation gab es ein öffentliches Badezimmer mit zwei Waschbecken und zwei Kabinen mit Toiletten. Ich öffnete die Tür zu den Damentoiletten und stütze mich auf dem Waschbecken ab. Meine Hände hinterließen rote Fingerabdrücke darauf und mir war klar, dass ich das Blut an meinen Händen Richard irgendwie erklären müsste. Also schaltete ich den Wasserhahn an und ließ mir für einen Moment das kühle Wasser über Hände und Handgelenke laufen, bis der Großteil des Blutes durch den Abfluss verschwunden war. Dabei starrte ich ununterbrochen mein Spiegelbild an. Mein Haar war von Knoten nur so übersät und am Scheitel etwas fettig. An einigen Strähnen klebte Blut. Es sah aus, als hätte ich sie mir nur gefärbt. Meine Stirn war feucht vom Schweiß und das gesamte Gesicht leichenblass, was die dunklen Ringe unter meinen Augen und die vereinzelten Blutflecken zur Geltung brachte. Was war nur aus mir geworden? Innerhalb weniger Stunden hatte sich mein Leben in einen einzigen Albtraum verwandelt – und allem Anschein nach, hatte ich mich meinem Leben angepasst. Ich wusch alles Blut so gut es ging ab, ehe ich mir Gesicht und Hände mit Papiertüchern abtrocknete. Unter meinen Fingernägeln befanden sich noch immer rote Flecken, doch mir fehlte die Zeit, um mich auch noch darum zu kümmern.
Um mich zu sammeln, schloss ich kurz die Augen und atmete einmal tief ein, bevor ich die Tür öffnete und hinaus in den Flur trat.
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