s e c h z e h n
Sophie brachte Marilyn und mich zurück in unser Zimmer und gab uns die Anweisung, den Raum nicht zu verlassen. Eigentlich hätte das für alle spätestens nach Richards Durchsage, die er vor ein paar Minuten gemacht hatte, klar gewesen sein. Doch mich ließ das Gefühl nicht los, dass Sophie bei uns auf Nummer Sicher gehen wollte. Ich spürte ein leichtes Piksen in der Brust, aber um ehrlich zu sein, konnte ich es ihr nicht verübeln. Schließlich waren Sam und ich noch vor etwa einer Stunde verbotenerweise durch den Notausgang nach draußen entwischt.
»Sophie?«
»Ja?« Sie war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, doch als sie meine Stimme hörte, wandte sich noch einmal zu mir um.
»Ich war das nicht. Wirklich.«
Sophie seufzte tief. »Es tut mir leid, Luna.«
»Aber es stimmt, ich habe die OMF nicht verraten! Irgendjemand muss mein Handy gehackt haben und -«, setzte ich an, doch Sophie hob die Hand und brachte mich mit dieser Geste zum Verstummen. Auf einmal wirkte sie erschöpft, als habe sie soeben einen Tausendmeterlauf hinter sich gebracht. Doch da war noch etwas anderes. Zuerst konnte ich es nicht ganz definieren, doch dann erkannte ich, was es war. Enttäuschung. Sie glaubte tatsächlich, dass ich die Verräterin war. Sie ging fest davon aus, dass ich ihr Vertrauen missbraucht hatte.
»Luna. Alles deutet darauf hin, okay? Geh jetzt bitte schlafen, morgen sehen wir weiter.«
Ehe die Tür hinter mir ins Schloss fiel, nickte ich betrübt und wandte schnell den Kopf ab, um die Verletztheit und die Tränen der Verzweiflung zu verbergen, die in meinen Augen glänzten.
Niemand glaubte mir. Richard nicht, Sophie nicht, Tim nicht und Robert schon gar nicht. Niemand hatte an meiner Schuld gezweifelt. Ausnahmslos alle glaubten, dass ich die Verräterin war. Nur was Marilyn und Sam anging, konnte ich mir nicht ganz sicher sein. Sam hatte von alldem schließlich noch nichts mitbekommen und Marilyn hatte die ganze Zeit über eine unbeteiligte Miene aufgesetzt, die es unmöglich gemachte hatte, sie zu durchschauen.
»Marilyn«, begann ich zögerlich. »Ich weiß, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass ich der Organisation Informationen zukommen lasse. Aber ich bin keine Verräterin. Ich habe rein gar nichts damit zu tun.«
»Ich weiß.« Sie begann, sich das weiße Handtuch, das sie um ihre einst feuchten Haare gewickelt hatte, vom Kopf zu ziehen.
»Was?«, fragte ich verwundert.
»Ich glaube nicht, dass du die Verräterin bist«, stellte Marilyn zu meiner Überraschung richtig und ging dazu über, ihre Haare zu kämmen. »Ich weiß, dass du nicht die Verräterin bist. Du würdest so etwas nie im Leben tun, dafür bist du viel zu nett und besitzt viel zu viel Skrupel.«
»Wirklich?« Die wenn auch leise Hoffnung in meiner Stimme musste unüberhörbar sein.
Marilyn nickte und lächelte zaghaft. »Wirklich.«
»Das heißt, du vertraust mir noch?«
Wieder nickte sie.
Ich seufzte. »Damit bist du wohl die Einzige.« Erschöpft sank ich in die Polster unseres Sofas. »Und du hast keine Angst, dass ich jeden Moment die Leute der Regierung in unser Zimmer lasse und wir dir deine Fantasie entziehen? Du glaubst wirklich, dass ich mit alldem nichts am Hut habe?«
»Natürlich, was denkst du denn? Du bist meine beste Freundin, ich kenne dich doch und weiß ganz genau, dass du keiner Fliege etwas zu leide tun kannst.« Sie zögerte einen Moment, doch dann gab sie sich einen Ruck. »Soll ... soll ich es dir beweisen?«
»Wie willst du mir das beweisen?«
Wortlos legte Marilyn ihre Haarbürste beiseite und ergriff meinen Arm. Sie zog mich auf die Beine und führte mich zu ihrem Bett, dessen unteren Teil sie mit dunkelblauem Stoff verdeckt hatte. Niemandem hatte sie je erzählt, was sich darunter befand. Nicht einmal mir, ihrer besten Freundin, mit der sie sonst immer alle Geheimnisse teilte. Sie hatte es damit begründet, dass manche Dinge so schmerzhaft seien, dass man sie mit niemandem teilen konnte, und ich hatte es akzeptiert. Schließlich hatte auch ich das ein oder andere Geheimnis vor ihr. Jedenfalls was Sam betraf.
Zögerlich zog Marilyn den Stoff etwas zur Seite, sodass ein kleiner Eingang entstand.
Ich starrte sie verblüfft an. »Du willst mir zeigen, was...«
Marilyn blickte mich ernst an und nickte. »Komm.« Sie kniete sich auf den Boden und krabbelte durch den Eingang in die Dunkelheit, die dahinter lag.
Ich zögerte. Was sich unter dem Bett befand, war Marilyns Heiligtum, ihr Rückzugsort, den sonst niemand betreten durfte. Es fühlte sich falsch an, als »Fremder« diesen Ort zu besuchen.
»Na komm schon, Luna«, forderte Marilyn mich lächelnd auf. »Keine Angst, da unten liegen schon keine Skelette.«
Ich nickte nicht sehr überzeugt, jedoch wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich die erste Person – Marilyn ausgenommen – war, die diesen Ort betrat. Eigentlich musste ich dies doch als Ehre empfinden, oder nicht? Es erschien mir als unhöflich, dieses Angebot einfach auszuschlagen. Zudem interessierte es mich insgeheim brennend, was sich unter Marilyns Bett befand.
Also krabbelte ich ebenfalls durch den schmalen Spalt zwischen den dunkelblauen Tüchern hindurch und ließ mich im Schneidersitz auf den von einer alten Matratze gepolsterten Boden sinken. Zuerst nahm ich nichts als Dunkelheit wahr. Der Stoff war hinter mir wieder zugefallen, sodass ich nicht einmal Marilyns Silhouette in der Dunkelheit ausmachen konnte.
Auf einmal entflammte Licht um mich herum. Marilyn hatte die Lichterkette angeschaltet, die einmal rund um die Stoffwand gespannt worden war. Die kleinen Glühbirnen spendeten zwar nur bedingt Licht, doch sie verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre und ich konnte die Umgebung einigermaßen erkennen.
Der Boden war mit Kissen und Wolldecken ausstaffiert worden. In einer Ecke saß ein Teddy mit abgewetztem Fell und nur einem Auge. Sein linkes Ohr war versengt, als wäre es mit Feuer in Kontakt gekommen, aber noch rechtzeitig gerettet worden. Doch am meisten berührten mich die Bilder. Marilyn hatte sie mit dunkelblauen Heftnadeln an den Stoff gehängt. Wenn es ein Schema in der Anordnung der Bilder gab, dann musste dieses so schwer zu entdecken sein, dass es außer Marilyn niemand kannte. Unscharfe Schwarzweißfotos und verblichene, gelbliche Portraits von Menschen, die vor über zweihundert Jahren gelebt haben mussten, wechselten sich mit Farbfotos aus längst vergangenen Zeiten sowie Gruppenfotos, die nur wenige Jahre alt sein konnten, ab. Unter jedem Foto stand das Datum und der Ort, an dem das Bild aufgenommen worden war.
Auf den neueren Fotos erkannte ich einige Menschen, die Marilyn nicht unähnlich sahen. So lag der Verdacht nahe, dass sie Verwandte von ihr waren. Viele hatten blaue Augen oder blonde Locken und nicht wenige waren so zierlich wie Marilyn. Auf anderen Fotos wiederum waren Mädchen in Marilyns Alter zu erkennen. Anscheinend hatte sie sich auch in ihrem alten Leben weniger schwer getan, Freunde zu finden, als ich. Zwischen Fotos und Bildern, die ein kleines Kind gezeichnet haben musste, verbargen sich sogar Pläne von ganzen Stadtteilen und dem Haus, in welchem sie in ihrer Kindheit gelebt haben musste. Zwar war mir bewusst, dass sich hinter Marilyns ach so heiteren und selbstbewussten Fassade weitaus mehr verstecken musste als sie zugab, jedoch hätte ich niemals damit gerechnet, dass sie sich unter ihrem Bett ein Imperium aus Erinnerungen erbaut hatte. All die Fotos und der alte Teddybär ließen keinen Zweifel daran, dass sie keineswegs mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hatte. Dabei konnte sie sonst nicht oft genug betonen, dass sie hier einen Neuanfang gestartet und die Vergangenheit längst hinter sich gelassen hatte.
Schweigen herrschte zwischen uns und ich hatte das drängende Gefühl, etwas sagen zu müssen.
»Ist ... ist das deine Familie?« Ich war mir darüber im Klaren, dass ich schon intelligentere Dinge von mir gegeben hatte, jedoch hörte sich alles andere, das man in einer solchen Situation gesagt hätte, gezwungen an. Ich stand selbst nicht auf leere Worte wie »Alles wird gut« oder »Morgen sieht alles schon ganz anders aus« und deshalb wollte ich auch keine anderen Menschen damit in den Wahnsinn treiben.
Sie nickte. »Und meine Freunde aus meinem alten Leben. Allerdings sind sie schon etwas in Vergessenheit geraten, denn mittlerweile ist mir klar geworden, dass sie keine richtigen Freunde waren. Sie kannten mich gar nicht richtig, weil ich nicht sein konnte wie ich wirklich war. Schließlich musste ich meine Kreativität um jeden Preis vor ihnen verbergen. Bei dir und Chenoa und Galvin und Sam ist das anders. Ihr kennt mich, wie ich wirklich bin und manchmal sogar besser als ich mich selbst. Wen ich wirklich vermisse, das ist meine Familie.« Ihre Stimme brach ab und ihr Kinn zitterte. »Ich fühle mich so schlecht. Ich... ich bin Schuld an ihrem Tod!« Eine Träne bahnte sich ihren Weg über Marilyns Wange und machte erst über ihrer Oberlippe Halt.
»Hey«, flüsterte ich, legte meine Arme um sie und drückte sie sanft an mich. »Was auch immer damals geschehen ist, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du niemals Schuld am Tod von irgendjemandem sein könntest.« Marilyn sprach grundsätzlich nicht über ihre Vergangenheit. Einige Male hatte ich sie zum Erzählen aufgefordert, doch jedes Mal hatte sie den Kopf geschüttelt. Ihrem Blick hatte ich entnommen, dass es sie zu sehr schmerzte, über ihre Vergangenheit zu reden, und ich drängte sie nicht dazu, da ich selbst wusste, dass manche Dinge einfach zu sehr wehtaten, um sie auszusprechen. Dass ihre Familie gestorben war, war bisher alles gewesen, was ich wusste.
»Kann ich es dir erzählen?« Sie hob den Kopf, den sie zuvor an meiner Schulter vergraben hatte. Mein Shirt war durchnässt von ihren stillen Tränen, doch es spielte keine Rolle.
Ich nickte überrascht. »Natürlich. Was denkst du denn? Dafür sind Freundinnen doch da, oder nicht? Zum Dasein und Zuhören.«
Marilyn nickte. Schnell setzte sich wieder auf und wischte sich hastig die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen. Ich bot ihr ein Taschentuch an, doch sie lehnte zaghaft lächelnd ab. »Geht schon.«
Sie starrte für einen Moment die Fotos um uns herum an, als müsse sie sich erst wieder an das längst Vergangene erinnern, da es im Trubel der Organisation bereits allzu oft in Vergessenheit geraten war.
»Ich war elf«, begann sie schließlich mit brüchiger Stimme. »Mein ganzes Leben lang habe ich mit meinen Eltern, meiner kleinen Schwester, meiner Tante und meinem Cousin zusammen in einem kleinen, unscheinbaren Reihenhaus gewohnt.« Marilyn deutete auf ein Foto hinter mir, auf dem ein weißes Endreihenhaus inmitten einer zubetonierten Häuserlandschaft abgebildet war. Davor standen ein kleines Mädchen, ein etwa fünfzehnjähriger Junge und drei Erwachsene, darunter zwei Frauen und ein Mann, die glücklich in die Kamera grinsten. Nur Marilyn fehlte, sie schien das Foto geschossen zu haben.
»Wir alle besaßen noch unsere Fantasie«, fuhr sie fort, nachdem sie sichtlich bemüht ihren Blick von dem Foto gerissen hatte, »und niemand wusste davon. Dachte jedenfalls der Rest meiner Familie. Doch ich hatte es einer Freundin erzählte, ungeachtet der Tatsache, dass ihr Vater einer der Oberen der Regierung war. Zuerst geschah gar nichts. Meine Freundin behandelte mich wie sonst auch und zu Hause bekamen wir ebenfalls keinen unerwünschten Besuch.« Sie machte eine wirkungsvolle Pause und holte einmal tief Luft. Ihre Stimme, ja sogar ihr Atem zitterte und ihre Augen waren glasig. Verständnisvoll legte ich ihr eine Hand auf den Arm.
»Aber eines Tages kam ich aus der Schule und das ganze Haus stand in Flammen. Ich dachte, meine Familie würde sich nicht darin befinden, da sie normalerweise zu dieser Uhrzeit noch bei der Arbeit oder in der Schule waren. Die ganze Zeit lang stand ich da und wusste nicht, was ich tun sollte. Irgendwann ist unsere Nachbarin, die zufällig Roberts Mutter war, auf den Brand aufmerksam geworden und hat die Feuerwehr gerufen. Während sie das Feuer gelöscht haben, hat sie mich zu sich geholt und mir zu Essen und zu Trinken gegeben. Mir war langweilig, da ich auf meine Familie wartete, die doch endlich kommen musste, und so habe ich mir mein Notizbuch und einen Stift genommen und angefangen zu schreiben. Ich habe alles aufgeschrieben. Die Angst, die Trauer um unser Haus, die Panik, den Schock. All meine Gefühle und die Leute, die mir an jenem Tag begegneten. Als die Feuerwehr gerade fertig war mit Löschen, kam die Frau wieder zu mir und sah, was ich tat. Ich weiß noch, wie sie mich mit diesem einen Blick anstarrte. Irgendetwas aus Überraschung, Verständnis und Panik. Sie sagte, ich solle sofort aufhören, da gleich die Regierung kommen würde, um mich in ein Kinderheim zu bringen. Sie dürften nicht sehen, was ich da tat. Doch ich hörte nicht auf sie, schrieb einfach weiter; beschrieb meine Umgebung und alles, was die Frau zu mir sagte. Sogar als die Regierung eintraf, hörte ich nicht auf, und auch nicht, als sie mir erklärten, dass meine gesamte Familie im Haus gewesen war. Irgendjemand musste sie nach Hause gelockt haben, um anschließend das Feuer zu entzünden, denn alle Indizien deuteten auf Brandstiftung hin. Und auch, als mir eine Frau erklärte, dass meine Familie gestorben war, schrieb ich weiter. Ich konnte nicht anders. Ich weinte die ganze Zeit und schrieb wie ein Besessene. Ich brachte alles zu Papier, jede Einzelheit, jedes Gefühl, jeden Satz, den irgendwer von sich gab. Alles. Mein Notizbuch war voller Tränen, die Tinte konnte man kaum mehr lesen, da sie so verschwommen war. Den einzigen Sinn, den ich in meinem Leben noch sah, war das Schreiben. Es war das Einzige, was blieb. Und auf einmal wusste ich, dass ich auch das schon sehr bald verlieren würde, wenn ich mich nicht schleunigst vom Acker machte. Alleine durch meine Dummheit, vor den Augen der Regierung zu schreiben, lief ich Gefahr, dass mir auch da Letzte genommen werden würde, das ich noch besaß.
Und da bin ich plötzlich losgerannt. Die alte Frau ist mir hinterhergelaufen, obwohl sie schon alt und gebrechlich war. Ich wollte zum Auto meiner Eltern gehen, um davonzufahren, obwohl ich nicht einmal einen Führerschein hatte. Doch auf halber Strecke stolperte ich und fiel zu Boden, wodurch die alte Frau mich einholte. Sie versprach mir, dass es einen Ort gab, an dem ich sicher war. Sicherer sei es nirgendwo anders auf der Welt. Und ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie mich auch schon auf die Arme genommen und in ihr Auto getragen, mit dem sie mich zur OMF fuhr. Ich hatte nichts bei mir außer dem Notizbuch, meinem Füller, meinem Rucksack und einem Schuhkarton mit Fotos, den ich zuvor zusammen mit meinem Teddy aus den Flammen gerettet hatte. Die ganze Fahrt über verbrachte ich mit Schreiben und damit, das Notizbuch an meine Brust zu pressen wie einen Schatz.
Als wir bei der Wüste ankamen, gab die Frau mir genaue Anweisungen, wohin ich gehen sollte und so fand ich schnell den Weg zum Eingang der Organisation. Roberts Mutter blieb zurück und ich wusste, dass die Regierung sie finden würde. Ein Pistolenschuss verriet mir, dass sie gestorben war. Gestorben, um mich zu retten.«
Marilyn unterbrach sich und wieder rollten unaufhörlich Tränen über ihre blassen Wangen. Schniefend zog sie ein etwas unter einem der Kissen mit dunkelblauen Samt-Bezügen hervor. Es war ein Notizbuch; ebenfalls dunkelblau, wie der Großteil Marilyns Besitzes. Auf der Vorderseite des Covers prangte ein weißer, von schwarzen Kratern und Furchen durchzogener Mond. Vom Buchrücken zogen sich zu beiden Seiten des Einbands feine, eiserne Beschläge über den Umschlag. Marilyn hielt es mir auffordernd entgegen.
Alles in mir sträubte sich, das Notizbuch in die Hände zu nehmen. Es erschien mir zu intim, zu privat, zu geheim. Doch Marilyns Blick verriet mir, dass sie gekränkt wäre, würde ich es mir nicht ansehen. Also griff ich behutsam nach dem in dunkelblaues Leder gebundenen Notizbuch und schlug vorsichtig die erste Seite auf. Marilyn war das Einzige, was darauf geschrieben stand. Als ich umblätterte, sprangen mir Reihen an tintenblauen Worten entgegen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass sie nach all den Jahren endlich wieder jemand las. Ich tat ihnen den Gefallen und vor Mitgefühl und Verständnis traten mir sogleich Tränen in die Augen. Die ersten zwanzig, dreißig Seiten waren von Kurzgeschichten und Gedichten übersät, die mit der kindlichen Überzeugung und Naivität einer Elfjährigen geschrieben worden waren. Es ging um Einhörner, Elfen und kleine Kobolde, die den Menschen Streiche spielten. Der nächste Eintrag war mit dem Datum 14. September 2179 versehen. Er begann unmittelbar mit einer Beschreibung von Marilyns Angst nach dem Brand in ihrem zu Hause. Was darauf folgte, trieb mir erneut Tränen des Mitgefühls in die Augen.
Ich klappte das Notizbuch zu und gab es Marilyn zurück. Ich konnte das nicht. Ich konnte nicht weiterlesen. Diese ganzen Emotionen, die sie dort beschrieb, übertrugen sich automatisch auf mich und tiefe Trauer übermannte mich. Es brach mir das Herz, mir vorzustellen, was meine Freundin hatte durchmachen müssen.
Auch Marilyn hatte nicht wieder mit dem Weinen aufgehört und nahm mich in den Arm. Vielleicht, weil ich weinte, vielleicht aber auch nur, weil sie dringend Trost brauchte. Vielleicht wegen beidem. Als wir uns beide wieder beruhigt hatten, waren unsere Schultern völlig durchnässt und wir wussten nicht mehr, wessen Tränen von wem stammten.
»Du bist nicht Schuld«, sagte ich schließlich. »Kinder sagen oft Dinge, von denen sie glauben, dass sie ungefährlich sind. Sie sind naiv und meinen, jedem ihre Geheimnisse anvertrauen zu müssen, den sie nett finden. So sind Kinder nun einmal. Ich war in dem Alter in manchen Situationen kaum anders und auch ich hätte mir schließlich beinahe mein eigenes Grab geschaufelt, was meine Fantasie anging.« Ich musste an jenen Tag denken, als Selina mir mal wieder das Leben zur Hölle gemacht und ich ihr in meiner Wut das Wort »Fantasie« förmlich entgegen geschrien hatte. »Das kannst du nicht dir zum Vorwurf machen, Marilyn. Niemand ist Schuld daran, außer dieser scheiß Regierung und dem scheiß System.«
»Danke, dass du das sagst«, flüsterte Marilyn. »Ich bin so froh, dich zu haben, Luna, wirklich. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben. Niemand versteht mich so gut wie du.«
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen, doch diesmal vor Rührung. »Ich bin auch froh, dich zu haben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.« Und für einen Moment, für einen winzigen Moment war ich glücklich. Glücklich, dass ich Marilyn hatte. Glücklich, dass nicht alle den Glauben in mich verloren hatten. Und für einen noch winzigeren Moment verdrängte ich sogar den Gedanken daran, dass noch immer beinahe die ganze Welt gegen mich stand.
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