s e c h s u n d d r e i ß i g
Als ich verschwitzt am Bahnhof ankam, fuhr der Zug gerade ein. Ich hatte mir in aller Eile einen Dutt gemacht, der mich hoffentlich etwas tarnen würde, und außerdem ordentlich von dem Make-Up aufgetragen, das ich auf die Schnelle in der nächsten Drogerie erstanden hatte. Das musste reichen. Und der Schweißgeruch würde auch die letzten Passanten auf Abstand halten, so hoffte ich. Dennoch hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich mich hinter einer alten Frau in den Zug schmuggelte und vorgab, einen Chip an den Sensor zu halten. Die Fahrt von hier nach London dauerte mit dem Schnellzug knapp eine Stunde – für meinen Geschmack eine Stunde zu viel. Eine Stunde, in der man mich ohne Mühe enttarnen konnte.
Ich schob die Gedanken beiseite und drängte mich stattdessen in die Ecke des Zugs mit den meisten Menschen, stets darauf bedacht, mit dem Rücken zur Kamera zu stehen. Schon in der Stadt hatte ich überall auffällig viele Polizisten gesehen und es war denkbar, dass auch die Fahrkartenkontrollen in einem solchen Ausnahmezustand verschärft wurden. Glücklicherweise befand sich mein Sitzplatz nur wenige Schritte von der Toilette entfernt. Im Notfall konnte ich also noch immer vorgeben, mal ganz dringend aufs Klo zu müssen, und dort bis zur nächsten Station ausharren, bei der die Kontrolleure aufgrund ihrer Arbeitspläne gezwungen waren, auszusteigen.
Es wird schon schief gehen, murmelte ich zu mir selbst und seufzte leise. Vergeblich versuchte ich die Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, die mir bösartig lachend antwortete. Ja, das wird es. Dafür wird schon jemand sorgen. Ich wünschte mir sehnlichst, dass sie nicht Recht behalten sollte.
Doch nach nur zehn Minuten Fahrt – wir waren irgendwo in der Nähe von Paris – verpufften all meine Hoffnungen in der Luft und stoben in winzigen Staubkörner auseinander, bis nichts mehr übrig blieb. Zwei uniformierte Männer waren bei der letzten Station zugestiegen, doch trotz meiner geschärften Sinne, die ich dem Adrenalin zu verdanken hatte, das durch meine Adern schoss, hatte ich sie zu spät bemerkt. Gerade hielten sie auf unser Abteil zu; ich konnte sie durch die Glastür sehen, welche die verschiedenen Abteilungen des Zuges voneinander trennten. So gelassen wie möglich, aber dennoch hastig erhob ich mich von meinem Platz und verschwand still und heimlich auf der Damentoilette, die aus einem winzigen Raum mit Waschbecken und einer Kloschüssel bestand. Erleichtert, wenngleich noch immer beunruhigt und verängstigt lehnte ich mich an die Tür und schloss für einen Moment die Augen. Ich hörte, wie die Glastür geöffnet wurde und zwei tiefe Stimmen erklangen, die von jedem Passagier einen Fahrchip verlangten. Fest ballte ich die vor Angst schweißnassen Hände zu Fäusten. Mit Absicht hatte ich die Toilettentür nicht abgeschlossen, damit niemand auf die Idee kommen konnte, dass sich noch eine weitere Person im Wagon befand.
»Wem gehört dieser Rucksack hier?« Die Stimme klang misstrauisch; es war einer der Beamten. In einem Anflug von Verzweiflung schloss ich langsam die Augen und formte mit den Lippen einen Fluch. Sie hatten meinen Rucksack auf der Gepäckablage gefunden. Wie hatte ich nur so dumm sein können, ihn nicht mitzunehmen?
Kollektives Schweigen im gesamten Abteil war die Antwort.
»Niemandem von Ihnen?«
Gemurmel ertönte. Hin und wieder hörte ich ein »Nein, mir nicht« heraus.
»Kennt jemand den Besitzer?« Ein Reißverschluss wurde geöffnet. Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass ein lauter Fluch über meine Lippen purzelte. Auf gar, gar, gar keinen Fall durften sie mein Hab und Gut sehen. Niemals. Denn allein das Notizbuch und der Märchenband waren genügend Beweise für meine Anwesenheit oder zumindest die eines anderen Menschen, der illegalerweise noch seine Fantasie besaß.
»Da war so ein Mädchen«, hörte ich den jungen Mann sagen, der neben mir gesessen hatte.
»Und wo ist sie jetzt?«, fragte der zweite Offizier alarmiert.
»Sie ist auf die Toilette gegangen, glaube ich.« Zustimmendes Gemurmel wurde laut und erfüllte den Wagon, drang durch die winzigen Ritzen der Toilettentür und schmerzte in meinen Ohren. Langsam drehte ich mich zur Tür um und ballte die Hände wieder zu Fäusten, bereit mich jederzeit gegen alles und jeden zu verteidigen, wenn ich denn musste. Für einen kurzen Moment erwog ich, die Tür abzuschließen, doch sogleich verwarf ich den Gedanken wieder, denn eine verschlossene Tür würde den Verdacht der Menschen dort draußen nur bestätigen. Lieber wollte ich Verwirrung stiften, indem ich das Schloss unberührt ließ, nur um dann im passenden Moment zuzuschlagen, meine Sachen zu schnappen und zu flüchten. Wie genau ich letzteres in einer U-Bahn bei Höchstgeschwindigkeit bewerkstelligen sollte, blieb jedoch offen.
Schritte näherten sich meinem Versteck und ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie mich nicht entdecken würden. Ein Gebet, das unerhört blieb, denn schon öffnete sich die Tür schwungvoll. Hätte ich nicht geistesgegenwärtig einen Satz nach hinten gemacht, hätte sie mich erwischt. Ein dicklicher Mann erschien auf der Türschwelle, mit Sonnenbrille und schwarzen Anzug. Ehe er reagieren konnte, war ich auf ihn zu gestürmt und hatte ihm meine Faust in den Magen gerammt. Der Überraschungseffekt war nun mein einziger treuer Freund, der mir aus diesem Schlamassel helfen konnte. Doch auch er war kein Superheld und als ich den zweiten Typ in der Ecke des Abteils stehen sah, musste ich zugeben, dass ich mir meine Chancen, zu entkommen, eindeutig besser ausgemalt hatte.
Der erste Mann keuchte vor Schmerz und Schreck auf und krümmte sich, ehe er langsam zu Boden sackte. Doch ich hatte keine Zeit, mich über meinen Treffer zu freuen. Aus den Augenwinkeln erhaschte ich einen Blick auf seinen Komplizen, der wütend auf mich zu sprang und meinen rechten Oberarm umklammerte. Erschrocken schrie ich auf und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in mein Fleisch und drückten meinen Arm so fest zusammen, dass ich befürchtete, er würde nur noch ein Matsch aus zersplitterten Knochen, Fleisch, Muskeln und zerquetschten Adern sein, sobald der Mann losließ. Trotzdem hörte ich nicht auf, mich zu wehren. So leicht würde ich mich nicht geschlagen geben – erst recht nicht vor den Marionetten der Regierung. Das veranlasste meinen Gegner jedoch nur dazu, auch nach meinem anderen Arm zu greifen.
»Gehört Ihnen dieser Rucksack?«, brüllte er und durchbohrte mich dabei mit seinem stechenden Blick, den ich ebenso wütend erwiderte. Für einen Moment schien der Mann verwundert durch den Blickkontakt, den ich aufgebaut hatte. Diese Geste galt eigentlich als extrem unhöflich. Sein Blick huschte kurz zur Seite, dann fing er sich jedoch wieder. Dennoch triumphierte ich innerlich. Ich hatte ihn verunsichert. Und das Wichtigste: Er hatte den Augenkontakt als Erster unterbrochen.
»Antworten Sie mir!« Seine Stimme wurde lauter, aber nicht gefährlicher. Lautstärke sagte rein gar nichts über die Wut und Bösartigkeit einer Person aus. Oft waren die Stillen gefährlicher. Die, die einem leise Drohungen zuraunten und jede Zweifel beseitigen, dass sie diese wahr machen würden, wenn man sich ihnen nicht fügte.
»Ja, er gehört mir«, presste ich schließlich hervor. Es war besser, zumindest zu Anfang die Wahrheit zu sagen, denn Menschen ohne Fantasie konnten nicht lügen. Und wenn sich meine Aussagen später bewahrheiteten, würde niemand auf die Idee kommen, dass ich durch das Sieb ihres Systems gerutscht war.
»Wie ist Ihr Name?«
Noch immer starrte ich ihm unentwegt in die Augen, um seine Unsicherheit zu steigern.
»Wird's bald?!« Die Ungeduld des Mannes war unüberhörbar. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Julia Müller«, antwortete ich.
Sofort verengten sich seine Augen zu Schlitzen, durch die er mich misstrauisch musterte. »Bist du nicht das Mädchen, das ...« Er hielt inne und für einen Moment glaubte ich, er könnte mein laut pochendes Herz in meiner Brust hören. Ich musste den Drang unterdrücken, die Augen zu schließen – schließlich hatte ich mir vorgenommen, den Blick nicht in naher Zukunft von seinen Augen abzuwenden. Er durfte meine Schwäche nicht sehen.
»... vor drei Jahren von zu Hause abgehauen ist?«, beendete der Beamte seinen Satz. Ein riesiger Steinwall fiel mir vom Herzen und ich war überrascht, dass niemand das Poltern hörte, welches das Gestein verursachte, das bröckelte und nach und nach zu Boden fiel, wie eine Steinlawine.
Ich tat, als würde es mir nicht behagen, diese Frage zu beantworten und täuschte Nervosität vor, indem ich mir mit der Zunge über die Lippen fuhr. »Ja«, gab ich schließlich widerwillig zu.
Er seufzte – ob aus Mitleid mit einem so armseligen Mädchen wie mir, oder aus Selbstmitleid, konnte ich nicht sagen. »Hast du einen Fahrchip?« Ich vermutete Ersteres, denn das erklärte auch, wieso er plötzlich auf das Du umgestiegen war.
»Nein«, entgegnete ich langsam. »Ich habe kein Geld.«
»Und wo wohnst du?«
»Nirgends.« Und das war nicht einmal gelogen. Es gab keinen Platz auf dieser Welt, den ich wirklich als mein Zuhause bezeichnen konnte. »Ich ziehe immer von Ort zu Ort, damit mich niemand bemerkt. Ich will nicht zurück zu meiner Großmutter und meiner alten Schule, wo mich alle gemobbt haben.«
»Dennoch müssen wir dich mitnehmen«, erklärte der Mann. Er hatte sich mittlerweile etwas beruhigt, doch das linderte meine Angst nicht ein winziges Bisschen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendwer meinen Rucksack vollständig entleeren und mein größtes Geheimnis lüften würde.
Der Zug drosselte sein Tempo; eine Idee nistete sich in meinem Kopf ein.
Ich nickte und gab vor, sein Handeln nachvollziehen zu können, woraufhin der Beamte verwundert die Augenbrauen hob, als hätte er nicht mit so viel Einsicht von meiner Seite aus gerechnet. Seine Verwirrung nutzend, rammte ich ihm mein Knie in die Weichteile, schnappte meinen Rucksack und stieß den Mann beiseite, der vor Schmerz in die Knie ging. Schwungvoll riss ich die Tür zum nächsten Abteil auf und stürmte hindurch, um zum Ausgang zu gelangen.
Viel zu spät sah ich den dritten Beamten hinter der Tür und auch die Spritze bemerkte ich erst, als ich den Schmerz in meinem Bauch spürte und realisierte, dass ich ihm direkt ins Messer gelaufen war.
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