f ü n f u n d d r e i ß i g
Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Wir fielen, fielen immer weiter und doch schienen wir an Ort und Stelle zu schweben. Einen Augenblick zog ich in Betracht, dass ich womöglich längst tot war, doch der Junge unter mir befreite mich aus dieser Illusion. Instinktiv streckte er die Arme aus und bekam eine Sprosse der Leiter zu fassen – nur wenige Meter über den Mülltonnen. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihm bei dem plötzlichen Ruck, der durch seinen Körper ging und diesen zu zerreißen drohte. Unsanft landete ich auf ihm, was dieser mit einem weiteren schmerzerfüllten Stöhnen quittierte. Hastig griff ich ebenfalls nach dem rettenden Metall, da ich kurz davor war, erneut hinunterzustürzen. Ich zitterte am ganzen Leib, als ich auch mit den Füßen wieder auf die Leiter kletterte, um nicht auf dem zusammengekauerten Körper des Jungen zu sitzen. Trotz meines Schocks, der mir noch immer in den Gliedern saß und jeden einzelnen Teil meines Körpers erzittern ließ, versuchte ich erneut, die Leiter zu erklimmen. Als ich ein letztes Mal nach unten schaute, wo der Junge sich noch immer an die Sprossen der Feuerleiter klammerte, sah er zu mir auf. Die Haare hingen ihm ins Gesicht; Schrammen zierten seine Haut; und trotz des schummrigen Lichts konnte ich seine Lippen sehen. Sie formten fünf Worte.
»Wer zur Hölle bist du?«
Ich schluckte. »Das willst du lieber nicht wissen.« Damit sah ich auf und setzte meinen Weg nach oben fort. Immer wieder rutschte ich ab, da mir meine zitternden Beine das Klettern beinahe unmöglich machten, also begann ich, mein Tempo zu drosseln. Ein Blick nach unten verriet mir, dass ich mir keine Sorgen mehr wegen meiner Verfolger machen musste. Der Junge, der soeben noch an der Leiter gekauert hatte, stieg nun vorsichtig hinab. Die anderen Jugendlichen kletterten auf die Mülltonnen. Die einen, um ihrem Kumpel behilflich zu sein; die anderen, um mir die schlimmsten Schimpfwörter hinterher zu schreien. Doch ihre Drohungen schienen nur leere Worte zu sein, denn die Jungs folgten mir nicht. Ich hatte mir das erste Mal in meinem Leben Respekt verschafft.
Der Morgen graute bereits, als ich völlig ausgelaugt und noch immer zitternd das Dach erreichte. Die Sterne standen noch hoch am Himmel, doch die abnehmende Dunkelheit der Nacht ließ sie nach und nach verblassen. Ich gab mich einem Moment lang dem Anblick der noch schlafenden, scheinbar so friedlichen Stadt hin, während ich auf dem recht breiten First saß und die Beine baumeln ließ.
Ganz weit hinten am Horizont färbte sich der Himmel langsam rosa und wurde zu den Rändern hin orange. Auch die winzigen, flauschigen Wolken, die nur an manchen Stellen auszumachen waren, glichen rosafarbener Zuckerwatte. Am liebsten hätte ich für immer hier gesessen. Selbstvergessen und zwischenzeitlich so etwas wie glücklich – jedenfalls bis mich wieder die Vergangenheit einholte. Die Vergangenheit, die erst wenige Tage jung war und mir doch unglaublich weit entfernt erschien. Bilder von all den Leuten, die früher mein Leben ausgemacht hatten, schoben sich vor mein Auge und bei jedem Einzelnen kam eine stille Träne – die Lauten waren mir längst ausgegangen.
Sam. Eine Träne.
Marilyn. Eine Träne.
Großmutter. Eine Träne.
Chenoa. Eine Träne.
Jacy. Eine Träne.
Galvin. Eine Träne.
Sophie. Eine Träne. Zwei, drei. Irgendwann zählte ich nicht mehr mit. Sophies Tod machte mir eindeutig am meisten zu schaffen – nicht, weil sie mir von all den Menschen am wichtigsten war, sondern schlicht und ergreifend, da noch Hoffnung bestand, alle anderen wieder zu sehen. Nicht jedoch bei Sophie. Sie war weg. Für immer. Und mit ihr das Baby, das sie hätte zur Welt bringen sollen. Dieser Gedanke stimmte mich von allen am traurigsten. Sophie wäre eine ebenso wunderbare Mutter gewesen, wie Robert einen wunderbaren Vater abgegeben hätte. Doch beide würden dies nie unter Beweis stellen können.
Irgendwann, als die Sonne bereits als kleiner Feuerball am Horizont auftauchte, rappelte ich mich auf. Ich musste weiter. Je schneller ich beim Sitz der Regierung sowie des Geheimdienstes ankam, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass Sam und die Anderen sich tatsächlich noch dort aufhielten. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht schon längst in das nächste Gefängnis verfrachtet worden waren, denn dann waren meine Chancen, sie zu finden, gleich null. Nicht einmal der Hauptsitz der Regierung selbst wurde so gut bewach, wie die Gefängnisse – insbesondere die für Schwerverbrecher oder Staatsfeinde. Unter letztere Kategorie fielen meine Freunde aber nun einmal, auch wenn ich wünschte, es wäre anders.
Langsam setzte ich einen Schritt vor den Anderen. Zwar war der First des Daches recht breit, aber dennoch musste ich vorsichtig und konzentriert bleiben, um nicht aus Fahrlässigkeit hinunter zu fallen. Es ging recht tief runter, das Haus hatte mit Sicherheit zehn Stockwerke. Einmal mehr war ich dankbar, dass ich von Höhenangst verschont geblieben war. Sie wäre mir spätestens jetzt zum Verhängnis geworden. Mit der Zeit wurden meine Schritte sicherer, bis ich mir sogar erlaubte, den Blick von meinen Füßen zu heben und mich umzusehen. Da die Häuser recht nah beieinander standen, stellte es kein Problem dar, die Distanz zwischen zwei Gebäuden zu überbrücken, jedoch bedurfte es zu Anfang Einiges an Mut, wenn man nicht gerade professionell Parcours ausübte – ein Sport der vor einigen Jahren verboten worden war, da er Jugendliche dazu veranlasste, an verbotene Plätze zu gehen, an denen man Dinge sehen sowie hören konnte, die nicht für die Augen beziehungsweise Ohren der Öffentlichkeit bestimmt waren.
Der Himmel über mir wurde langsam heller und nahm ein weniger dunkles Blau an, dem zum Horizont hin von der Sonne ein rosafarbener Stich verliehen wurde Die Farbe wurde nach unten hin im satter und verlief in ein warmes Orange. Ganz langsam schob sich die aufgehende Sonne weiter hinauf und tauchte die gesamte Stadt in ihr warmes Licht. Für eine viel zu kurze Zeit des Tages wirkten die Häuser nicht mehr weiß, trist und trostlos, sondern waren voll Farbe, Licht und Hoffnung. Die Sonne malte die Gebäude mit orangener Farbe an, nur um traurig mit anzusehen, wie der Tag sie ohne Mühe wieder abwusch. Und um ihre Trauer zu vergessen, malte sie jeden Morgen wieder. Immer wieder. Und immer wieder kam der Tag, der die Farbe in dieser Welt nicht zulassen wollte, als steckte er mit der Regierung unter einer Decke, und versetzte die Sonne erneut in Trauer. Ja, der Tag war zu meinem Feind geworden. Er war in dieser Zeit grauer, als die Nacht, und er war zu hell. Nur in der Dunkelheit konnte man unbemerkt seines Weges gehen, verborgen in den schweigsamen Schatten der Nacht. Ich blieb stehen und legte die Hand an die Stirn, um den Himmel genauer zu betrachten. Dort war also Osten. Ich war auf dem richtigen Weg, musste immer nach Norden. Immer weiter.
Als der Bahnhof in Sichtweite kam, erschien wie von selbst ein erleichtertes Lächeln auf meinen Lippen. Längst stand die Sonne hoch am Himmel und brannte mir ins Gesicht, doch das konnte meine Laune nicht trüben. Und so setzte ich meinen Weg fort, hin zum Bahnhof, stets begleitet von der Sonne, die mich beobachtete, dort, auf den Dächern der Stadt.
Nach nicht allzu langer Zeit erreichte ich den Bahnhof. Durch eine Feuerleiter gelang mir der Abstieg von den Häusern kinderleicht und schnell hatte ich den Zug nach London ausfindig gemacht. Er würde in zwei Stunden abfahren. Und ich mittendrin. Ohne zu bezahlen. Schwarz. Ich konnte es mir nicht leisten, einen Fahrchip zu kaufen, er würde nicht nur meinen jetzigen Standort, sondern vor allem mein Reiseziel verraten, das dort automatisch beim Kauf einer Fahrt abgespeichert wurde. Ein einfaches, aber effizientes Mittel der ständigen Überwachung. Niemand durfte erfahren, wohin mein Weg ging.
Die Zeit bis zur Abfahrt überbrückte ich damit, mir Essen zu besorgen. Von dem Geld auf meinem Konto deckte ich mich in der meist überfüllten Filiale einer Fastfood-Kette mit Energie-Riegeln und Kraftbrot ein.
Außerdem musste ich noch immer an die Nachrichten denken, die bei Samira im Fernsehen gekommen waren. Die Anzüge, die unsichtbar machen sollten. Zwar war ich mir nicht sicher, ob diese schon auf dem Markt gebracht worden waren, dennoch versuchte ich mein Glück in der Innenstadt, die nicht weit entfernt vom Bahnhof lag. Und tatsächlich: Überall warben Plakate für den neu entwickelten Stoff, der ein Maximum an Tarnung versprach. Tarnung, die ich mehr als nur brauchen würde, wenn ich vorhatte, bei der Regierung einzubrechen. Doch meine Zuversicht und Freude darüber, dass endlich einmal etwas klappte, wurden schnell von dem Kleingedruckten gedämpft, das ganz unten in Weiß auf den elektronischen Plakaten prangte. Diesen Preis würde ich niemals bezahlen können und die Tatsache, dass die Anzüge erst in einigen Tagen auf den Markt kommen würden, zehrte ebenfalls an meiner Hoffnung. Als letzte Lösung kam mir in den Sinn, bei den Herstellern anzufragen oder zur Not auch einzubrechen, doch als ich den Inhaber eines Modegeschäfts darauf ansprach, erwiderte dieser, dass die Firma der Anzüge ihren Sitz im Norden von Amerika hatte.
Allerdings machte er einen entscheidenden Fehler, der die Hoffnung in meinem Inneren erneut aufkeimen ließ.
»Das heißt, die Anzüge werden hier erst in den nächsten Tagen angeliefert?«, fragte ich.
Daraufhin schwieg der junge Mann. Menschen ohne Fantasie konnten sich keine Lügengeschichten ausdenken und das Lügen durch das Antworten von ja und nein war ihnen unter Strafe verboten. Nur verschweigen konnten und durften sie. Und das hatte er soeben getan.
»Okay, trotzdem vielen Dank«, entgegnete ich, als verstünde ich sein Schweigen als ein eindeutiges Ja. Damit verließ ich den Laden, ein diabolisches Lächeln auf den Lippen, das mir einmal mehr vor Augen hielt, wie sehr mich die Vergangenheit in nur wenigen Tagen verändert hatte.
Es war kein Leichtes, in den Hinterhof des Modegeschäfts zu gelangen. Ich versuchte es durch einen anderen Laden, wo ich jedoch vergeblich nach einer Hintertür suchte. Entweder sie war nicht vorhanden oder so gelegen, dass sie gut vor Blicken geschützt war.
Doch dann entdeckte ich wie durch Zufall eine winzige Gasse zwischen den Häusern, die gerade so breit war, dass ich mich hindurch quetschen konnte.
Auf der anderen Seite angekommen stieg mir zuerst der Geruch nach Abfall und Fäkalien in die Nase und ich musste ein trockenes Würgen unterdrücken. Na lecker. Auf den ersten Blick erkannte ich auch, woher der Gestank rührte. Riesige Mülltonnen reihten sich aneinander – gefüllt mit Abfall, der zwischen den Deckeln herausquoll und längst seine ersten Boten ausgesandt hatte, welche nun als Blechdosen und Essensabfall auf dem Boden gemütlich vor sich hin schimmelten.
Mit Daumen und Zeigefinger hielt ich mir die Nase zu und sah mich weiter auf dem vermüllten Hinterhof um. Ich konnte nur hoffen, dass die Tür zur hauseigenen Lagerhalle nicht verschlossen war, ansonsten war ich wirklich aufgeschmissen.
Mein Blick fiel auf die Wäscheleinen, die in einer Ecke des Hofs vom Wind hin und her geweht wurden. Sie waren leer. Frustriert seufzte ich auf. Es wäre ja auch zu einfach gewesen.
Trotz dem vielen Abfall – den Pizzakartons und elektronischen Geräten, die sich übereinanderstapelten – machte ich recht schnell die Tür zu dem Modegeschäft ausfindig. Sie war grau und unscheinbar, doch genau das unterschied sie von den anderen, glänzend weißen Eingängen und hob sie von ihnen ab. Eine Türklinke gab es nicht, dafür war das Gebäude zu neu. Allerdings entdeckte ich einen winzigen Knopf neben der Tür, auf dem in Großbuchstaben Geöffnet geschrieben stand. Das klang schon mal vielversprechend. Neue Hoffnung schöpfend betätigte ich den Knopf und darunter leuchtete ein rechteckiges Feld auf. Zuvor hatte es noch unscheinbar im Schatten des Wellblechdachs gelegen welches irgendwer lieblos über der Tür errichtet hatte. Vermutlich, damit auch Regen und Unwetter die Mitarbeiter nicht vom regelmäßigen Rauchen abhalten konnten.
Passwort erforderlich.
Augenblicklich sackten meine Schultern nach unten. Wütend starrte ich die Tür an. Dann halt nicht. Ich wusste mir auch anders zu helfen. Jedenfalls versuchte ich, mir das einzureden. Dass dies wirklich stimmte, bezweifelte ich sehr.
Frustriert sah ich mich weiter im Innenhof um und wieder überkam mich diese seltsame Gefühl, dass mir ein wichtiges Detail entging, so wie in Richards Büro. Wie die Tür, zogen nun die Wäscheleinen meinen Blick wie magisch auf mich. Ich runzelte die Stirn und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Doch da war nichts. Ich konnte nichts sehen.
Dieser Satz ließ mich inne halten. »Ich kann nichts sehen«, wiederholte ich murmelnd. Eine Erkenntnis überkam mich. Scharf sog ich die Luft ein und klatschte einmal triumphierend in die Hände, ungeachtet der Tatsache, dass so jemand auf mich aufmerksam werden könnte. »Ich kann nichts sehen, weil die Anzüge unsichtbar machen. Sie sind unsichtbar.« Diese Erkenntnis verlieh mir Flügel. Schnellen Schrittes durchquerte ich den Hof.
Angekommen streckte ich langsam die Hand nach vorne in Richtung der Leinen aus, doch ich spürte nichts. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen machte ich noch einen Schritt auf die Wäscheleine zu, den Arm und meine Finger weit ausgestreckt. Das Bild, das sich mir gab, erinnerte mich an die Hälfte einer Fotografie aus dem zwanzigsten Jahrhundert, in der zwei Hände gezeigt waren, die kurz davor waren, sich zu berühren.
Und dann spürte ich ihn. Ich spürte ganz deutlich, wie der weiche, künstliche Stoff meine Fingerkuppen berührte.
Ich lachte. Lachte, bis mir Tränen kamen.
Und dann weinte ich. Aus Erleichterung.
Immer weiter streckte ich die Hand aus, strich über den Stoff und dann, ganz plötzlich schloss ich meine Hand darum und riss den Anzug mit mir; rannte los, stürmte aus dem Hinterhof, raus auf die überfüllte Straße, wo ich mich zwischen den Passanten hindurch zwängte.
Und ich lachte und weinte und rannte.
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