Feuerzauber
Triin übte Feuerzauber vor dem Schlafengehen. Das war einer der Vorteile dabei, dass die Pritsche über ihrer leer war. So wurde niemand durch das Ruckeln des Bettgestells geweckt, als sie sich weit nach der festgelegten Schlafenszeit aufsetzte und begann sich zu konzentrieren. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie im mondlichtbeschienenen Schlafsaal in die Anderswelt zu sehen.
Auf dem Stützpunkt sah es in der Anderswelt ähnlich aus wie im Diesseits. Und nach ein paar Momenten in denen sie nur ihre graue Decke anstarrte, konnte sie das Gebäude in seinem Umriss erkennen, wie ein Doppelbild über der Realität.
Inzwischen konnte sie recht zuverlässig "ihr Auge von Ahn öffnen", so wie Feldwebel Mari sie alle instruiert hatte, auch wenn sie sich immer noch nicht sicher war, welches ihrer zweifarbigen Augen nun von Ahn stammen sollte. Doch tatsächlich in die Anderswelt einzugreifen war etwas anderes, etwas, was ihr immer noch Schwierigkeiten bereitete. Deswegen war es so wichtig, dass sie übte. Schließlich hinkte sie hinter dem Lehrplan des Feldwebels deutlich hinterher. Außerdem würden sie Morgen die letzte Prüfung machen, ehe sie in ihre Truppen eingeteilt wurden.
Das flaue Gefühl bei dem Gedanken ignorierend griff Triin zu der Ätherlaterne auf ihrem Nachttisch und stellte sie vor sich auf die Pritsche. Die vagen Bewegungen von Feldwebel Mari nachahmend, bewegte sie ihre Hand über der Lampe, ehe ihr einfiel, dass sie zuerst den Ähther aufdrehen musste. Mit einem kleinen Kopfschütteln über ihre eigene Schusseligkeit drehte sie an dem entsprechenden Rädchen und bewegte ihre Hand erneut über den winzigen Öffnungen, aus denen der Äther einströmte. Ohne Erfolg.
Nun gut, es war noch kein Meister vom Himmel gefallen. Vielleicht musste sie mehr an Feuer denken, einen Funken, ein Lagerfeuer, die Ätherflamme mehr aufdrehen, sich warme Gedanken machen, die Augen fest zusammen kneifen bis sie nur noch rot sah, mit den Fingern schnippen – Schlussendlich wurde sie in ihren Bemühungen erst unterbrochen, als Móric sich auf seiner Pritsche zu ihrer herumdrehte und murmelte: "Gott, Triin, willst du uns alle an Äther ersticken?"
Die Angesprochene fuhr ertappt zusammen und drehte erneut an dem kleinen Rädchen, diesmal um es auszustellen. "Entschuldigung", flüsterte sie zurück, in der Annahme, dass er gleich wieder einschlief, doch das tat er nicht. Stattdessen stemmte er sich auf den Ellbogen hoch und fragte sie: "Kannst du nicht schlafen?"
Triin verzog schuldig das Gesicht, was er zum Glück nicht sehen konnte. "Ich übe nur ein bisschen Magie", verkündete sie stattdessen in möglichst unbekümmertem Flüsterton, aber Móric ließ sich davon nicht überreden wieder schlafen zu gehen. Stattdessen richtete er sich ebenfalls auf. "Dann zeig mal, was du bisher hast." Mit einem Seufzen tat sie wie ihr geheißen und drehte den Äther noch einmal an. Sie bewegte die Finger über der ausströmenden Substanz, als würde sie eine kleine Flamme in die Luft malen, doch auch das hatte keine Auswirkungen auf die Anderswelt.
Ihre Augen schlossen sich, diesmal vor Enttäuschung und nicht um sich zu konzentrieren, doch sie flogen wieder auf, als sie eine warme Hand über ihrer spürte. "Konzentriere dich nicht auf die Bewegung deiner Hand, sondern auf deinen Geist. Du zeichnest nichts, du ziehst eher die Energie aus dem Schleier selbst."
Er bewegte seine Hand mit ihrer und tatsächlich sah Triin, wie die Anderswelt beinahe vibrierte, wie wenn ein Wassertropfen auf einen stillen See traf. Mit großen Augen starrte sie auf die kleine Flamme, die im Diesseits über seinem Zeigefinger auftauchte. Sie konnte die Wärme der Flamme auf ihren eigenen Fingern spüren, ein bisschen wärmer als Mórics Hand.
Er senkte den Finger etwas und der Äther in ihrer Lampe fing Feuer.
"Unglaublich", flüsterte sie leise, doch nach dem ersten Moment des Staunens fühlte sie sich fast neidisch auf sein offensichtliches Talent. "Ich will wetten nach dem Test Morgen, nehmen sie dich sogar noch bei den Chimären auf." Sie hatte es als Kompliment gemeint, ein Versuch ihre eigenen Gefühle hinten anzustellen, doch Mórics Gesicht verzog sich, als würde ihm allein die Erwähnung der Einheit Unbehagen bereiten. "Ach, wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Aber in was für eine Einheit willst du dich einteilen lassen, Triin-Triin? Vielleicht zu den Logistikern, weil du so gut mitschreiben kannst?"
Triin lächelte unwillkürlich bei der Erwähnung ihres Spitznamens, wurde dann jedoch wieder ernst, als ihr Blick auf der flackernden Flamme ihrer Ätherlampe hängen blieb. "Ich denke Logistik wäre nicht schlecht, aber ich würde am liebsten Krankenschwester werden. Mein Bruder und mein Vater kämpfen an der Front, weißt du? Ich habe keine Ahnung, ob ich sie hier wiedersehen werde, aber wenn doch möchte ich irgendetwas für sie tun können, auch wenn ich nur ihre Wunden versorgen kann."
Sie sah auf, in Mórics Gesicht, der die Augenbrauen fest zusammen geschoben hatte und fühlte sich auf einmal ein wenig albern. "Damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich hoffe, dass sie verletzt sind, ich hoffe, es geht ihnen gut und sie sind nur so beschäftigt mit kämpfen und allem -" Ihre Stimme kam nicht mehr an dem Kloß vorbei, der sich plötzlich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie dachte wieder an den letzten Brief von ihrem Vater, wie lange es her war, seit er geschrieben hatte.
In Addersfeld war sie zwar abgeschnitten von Nachrichten von der Front gewesen, doch hier in der Hauptstadt fiel auch ihr das Gefühl von grenzenlosem Optimismus auf, das unter den Soldaten herrschte. Wenn man vom Krieg sprach, sprach man direkt vom Sieg, als wäre es selbstverständlich, auch wenn er jetzt schon mehr als zwei Jahre andauerte. Warum fühlte sie sich trotzdem so ängstlich bei dem Gedanken, dass Vater und Helias im Schützengraben hockten?
Mórics Hand drückte ihre. "Hier, Triin, was siehst du, wenn du mich ansiehst?" Sie sah ihn an, unsicher darüber, was er meinte. "Ich weiß nicht, ich sehe dich?" Wollte er etwa von ihr wissen, wie er aussah? Hatte ihm das vorher noch nie jemand gesagt?
"Schau genauer hin, mit deinem zweiten Paar Augen", erklärte er ihr mit dem üblichen leichten Lächeln auf seinen Lippen. Triin versuchte seiner Bitte nachzukommen, doch sie wusste nicht, worauf er hinaus wollte. "Ich sehe deine zerzausten Haare und deine dunkle Haut und ... -", Sie war sich nicht ganz sicher, doch auch nachdem sie geblinzelt hatte, verschwand der Eindruck nicht. "Da ist etwas über deinen Augen. Eine Schrift oder nein, eine Augenbinde." Mórics Lächeln geriet etwas ins Wanken. "Na, meine Augen wirst du nicht so schnell heilen können. Siehst du mein Herz?"
Triin ließ ihren Blick tiefer wandern, über die feinen Stoppeln an seinem Kinn, zu dem Hals mit dem großen Adamsapfel bis hin zu seiner Brust. Sie war sich nicht sicher, was sie sah, doch ihr Blick wurde von einer bestimmten Stelle unter seinem Hemd angezogen wie eine Motte vom Licht. "Ich – ich denke schon." Er legte ihre Hand genau auf die Stelle.
"Spürst du das? Mein Herz schlägt eine Spur zu schnell. Glaubst du, du kannst das heilen?" Triin schluckte und schüttelte den Kopf, schon wieder fiel ihr zu spät auf, dass er das nicht sehen konnte. "Ich weiß nicht wie", antwortete sie schließlich und war sich akut ihres eigenen, schnell schlagenden Herzens bewusst.
"Wenn es einfacher ist, kannst du dir vorstellen, dass du die Finger nach meinem Herzen ausstreckst. Du streckst sie aus und machst mein Herz langsamer." Sie tat genau das. Ihre Finger drückten gegen seine Haut und sie stellte sich vor, dass sie noch tiefer gehen konnten, hinein in die Wärme seines Körpers, dorthin wo sein Herz so heftig pochte. Wenn sie wollte, konnte sie einfach ihre Hand darum schließen und das schnelle Pochen ganz beruhigen, ruhig und immer ruhiger, bis sie spürte, dass es schließlich anhielt.
Eine große Hand schob ihre beiseite und Móric löste sich aus ihrem Griff, indem er hinten überkippte. Mit erschrockenem Blick sah sie auf ihn hinunter, schock starr und blass vor Schreck. Oh nein, was hatte sie getan?!
Móric lag einen Moment lang bewegungslos da und gerade als Triin anfing zu hyperventilieren, hörte sie auf einmal ein Lachen. Mit großen Augen sah sie auf Móric herab, der auf dem Boden lag, die Hand aufs Herz gelegt und sich kugelte vor Lachen! Spontan warf sie ihr Kissen nach ihm. "Das ist nicht lustig! Ich habe mich fast zu Tode erschreckt!"
Doch er schüttelte nur den Kopf und lachte heftiger. "Das erste Mal gelingt dir ein Zauber und du bringst mich direkt um!"
Sie machte Anstalten aufzustehen, um ihr Kissen zurückzuholen, damit sie ihn noch einmal damit hauen konnte, doch da kam es schon ziemlich laut und genervt von der Pritsche neben ihnen: "Ruhe jetzt!" Und Triin beeilte sich die Lampe auszudrehen und sich ins Bett zu legen.
Ein paar Momente später landete ihr Kissen wieder auf ihrem Bett. Bevor sie sich nach Móric umsehen konnte, drang schon seine Stimme im Flüsterton an ihr Ohr, überraschend aufrichtig: "Das heißt du bist ein Naturtalent, Triin-Triin."
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