159.
Ein Röcheln ist hinter uns zu hören.
Ich springe vom Stuhl auf und eile zum Bett.
Jace ist aufgewacht und zerrt an seiner Maske herum, dabei schlagen die Kabel und Schläuche, mit denen er vernetzt ist, gegen das Bettgestell.
"Ganz ruhig! Warte, ich mache das."
Seine Lippen unter dem Plastik sind blau. Vorsichtig ziehe ich das elastische Band über seinen Kopf.
"Da bist du ja wieder", erklingt seine heisere Stimme.
Ich lege meine Hand an seine Wange.
Ein Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht.
"Und dann auch noch in meiner Lieblingsjeans."
Die Röte, die sicherlich noch auf meinen Wangen liegt, nimmt noch einmal Fahrt auf. Ich lasse mich von ihm auf die Bettkante ziehen.
"Ist in der Wohnung alles in Ordnung?"
Als ob ihn das interessieren würde. Ich nicke.
"Komm schon, rede mit mir. Wie sieht es aus? Hast du deine Sachen wieder einfach im Badezimmer liegen lassen?"
Mühsam richtet er sich auf und ich schüttele lächelnd den Kopf. Erst beim zweiten Versuch, schaffen es seine Ellenbogen sein Gewicht aufrecht zu halten.
"Es sieht aus, als wären wir gerade zum Einkaufen aufgebrochen", sage ich mit belegter Stimme, meine Augen ertrinken in seiner Tiefsee. "Deine Mütze lag noch im Wohnzimmer. Und natürlich befinden sich meine dreckigen Klamotten jetzt auf dem Boden vor der Dusche, wenn du wieder nach Hause kommst, musst du sie in die Waschmaschine tun."
Tränen glitzern in seinen Augen, genau wie in meinen.
"Du hast geschlafen wie ein Stein. Hast du uns nicht reden hören?", wechsle ich das Thema und schlucke den Kloß in meinem Hals.
Jetzt schüttelt er den Kopf, streicht sich die Haare aus der Stirn.
"Das sind die Medikamente, die ziehen dir den Boden unter den Füßen weg."
Er spielt an der Maske herum. Eigentlich soll er sie nur absetzen, wenn er sich übergeben muss oder Panik darunter verspürt. Aber daran hat er sich seit der ersten Minute nicht gehalten.
"Wie ist die Luft draußen?", fragt er leise.
"Es riecht nach vermodertem Laub und Abgasen. Und nach Regen. Du weißt schon, diese Art von schwerem Regen, der vom Mendota Lake kommt."
Jace lächelt verschlafen. Er weiß, welchen Regen ich meine.
Stuhlbeine kratzen über den Boden. Ich drehe mich um, um Isabell und Margret zu sehen, die ihre Sachen zusammenpacken.
"Wir machen mal eine Pause", sagt Isabell und legt ihrer Mutter einen Arm um die Schulter, bevor sie die Tür hinter sich schließen.
Jace schaut den beiden hinterher.
"Ich werde sie vermissen ... Eigentlich habe ich sie viel zu lange vermisst."
Meine Hand auf der Bettdecke verkrampft sich.
Grüne Augen wandern von der Tür zu mir. Sein Grübchen unter dem linken Mundwinkel erscheint.
"Dank dir muss ich sie jetzt nicht mehr vermissen. Danke, meine Gewinnerin."
Er betrachtet mein frisch gewaschenes Haar, wie es über meine bebenden Schultern fällt.
Ehe ich mich versehen kann, zieht er mich an sich, mein Gesicht wieder an seine Brust gepresst.
"Soll ich nicht lieber ..."
Ich versuche mich aufzurichten, will ihm das Atmen nicht noch schwerer machen, doch er hält mich fest, lässt seine Finger über meine Kopfhaut gleiten. Er weiß, wo mein Lieblingsplatz ist. Genauso wie er weiß, wie sehr ich diesen vermisst habe, als Margret und Isabell im Raum waren.
So selbstsüchtig und unfair es Margret und Isabell gegenüber auch ist, ich möchte Jace für mich allein haben.
Ich bin es kaum anders gewöhnt, es gab nur ihn und mich. Und ausgerechnet jetzt, zum Abschied, haben wir nicht mehr unsere vertraute Zweisamkeit und Ruhe. Ich hasse mich für diese Gedanken, aber sie sind meine Wahrheit.
"Ist es nicht traurig?", unterbreche ich nach einer Weile die Stille. "Alle die guten Liebesgeschichten enden auf tragische Weise."
Ich schließe die Augen und lausche seinem Herz, mein Zeigefinger malt die Umrisse des Schmetterlings nach.
"Vielleicht ist es das, was sie so besonders macht", flüstert der Junge unter mir andächtig.
"Wie meinst du das?"
Ich richte mich auf, auch wenn ich seine Wärme augenblicklich vermisse, ich muss ihm bei seinen nächsten Worten einfach in die Augen blicken.
Erst jetzt sehe ich, dass auch er seine Augen geschlossen hat.
Sie öffnen sich langsam, finden meine und seine Lippen heben sich.
"Na ja ... Nur die Geschichten mit unbefriedigendem Ende beschäftigen dich über längere Zeit oder sogar für immer. Hinter ein Happy End wird ein Hacken gemacht und die Sache ist erledigt. Ich wette, du könntest mir nicht den kompletten Handlungsablauf einer Geschichte mit einem sie-lebten-glücklich-und-zufrieden-bis-an-ihr-Lebensende-Ende wiedergeben, aber den von einer tragischen."
Ich verdrehe die Augen und sehe in Jaces leuchtendes Gesicht.
Mit einem Mal ist er wieder ganz bei sich, wenn die blauen Lippen und der beunruhigende Hautton nicht wären, könnte man meinen, es geht ihm gut.
Mein Blick bleibt an seinen Lippen hängen und ich lehne mich vor, verbinde meine mit seinen und halte die Luft an.
Unser Kuss hat etwas Verzweifeltes und ist unerträglich sanft. Unsere Lippen erscheinen beinahe schwach, verglichen zu ihrer sonstigen Dringlichkeit.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mich nicht vergessen wirst, Ophelia Rosethorn", haucht er an meine Lippen, als wir nur noch unsere Stirnen gegen einander pressen.
"Wie könnte ich dich je vergessen? So jemand wie Jace Brighton passiert einem nur einmal im Leben."
Mein Lächeln ist in meiner Stimme zu hören und ich frage mich, wo ich die Kraft dazu hernehme. Es passiert einfach, ich muss gar nicht darüber nachdenken.
Ich bin ehrlich.
Und es macht mich glücklich zu wissen, was Jace und ich haben. Etwas Einzigartiges.
"Und ehrlich gesagt, ich bin froh darüber."
Er greift mit seiner linken Hand nach einer Strähne von mir. Der dünne Schlauch vom Tropf schlägt gegen das Metall vom Bett.
"Denn wenn du mich nicht vergisst, dann lebe ich in deinem Kopf immer weiter und erinnere dich daran, dich durchzubeißen und das Leben dabei zu genießen."
Ich schnappe nach Luft und lege meine Hand über seine, fühle den Zugang der Nadel unter seiner dünnen Haut.
"Ich glaube, das ist das Schrecklichste daran, wenn man hier liegt und weiß, dass es nicht mehr rausgeht; du beschäftigst dich mit dem Gedanken, vergessen zu werden", fährt er fort.
Ich setze dazu an, ihm zu widersprechen, doch er entzieht mir seine Hand und legt einen Finger über meinen Mund.
"Das Leben wird ohne mich weitergehen, dein Leben wird ohne mich weitergehen und das muss es auch! Der Gedanke daran ist nur befremdlich. Um auf die Sache mit dem Happy End zurückzukommen ... wir kriegen leider keins, jedenfalls nicht in diesem Leben. Aber dafür wirst du mich nicht vergessen ... das reicht mir fürs erste."
Ich klammere mich an den Arm, an dem kein Tropf angeschlossen ist. Seine nackte Haut ist kühl.
"Kann es eigentlich sein, dass du es drauf anlegst, Tränen zu sehen? Ständig sagst du solche Sachen. Sind das die Glückskekssprüche, die man zusammen mit dem Krankenhausessen serviert bekommt?"
Er knufft meine Schulter.
"Was unterstellst du mir?", bringt er mir mit triumphierender Ironie entgegen, doch dann verrutscht sein Grinsen.
"Das ist alles, was ich euch noch bieten kann. Denn mal herrlich, über meine Witze lacht ihr doch nur auf Verlegenheit."
Ich beiße auf meine Unterlippe. Unser Blick sagt alles.
Jace lässt sich wieder tiefer in die Kissen sinken und rutscht in seine liegende Position zurück.
Er beginnt mir davon zu erzählen, wie er sich vorstellt, seine Beerdigung zu beobachten.
Schon nach den ersten messerscharfen Sätzen gebe ich auf, meine Tränen zurückzuhalten und ihm Stärke vorzugaukeln.
Wenn es nach ihm gehen würde, wäre alles voller Farne.
"Hauptsache grün, Blumen werden überbewertet."
Und er wollte seine Mütze haben, nur für den Fall, dass es kalt wird.
Das Reden macht ihn müde und ich kann zunehmen beobachten, wie sein Blinzeln länger und langsamer wird.
Schließlich bleiben seine Augen geschlossen und er atmet tief und schwer.
Seine spröden Lippen geteilt, ein paar Locken im Gesicht, seine Hand in meiner.
Vorsichtig erhebe ich mich und ziehe ihm die Atemmaske wieder über. Draußen ist es mittlerweile schwarze Nacht.
Ich stehe lange neben ihm und lausche dem Piepen im Rhythmus seines Herzschlags.
Meine Mutter mag sagen, dass ich meine Zeit mit ihm verschwende, doch ich bereue keine Sekunde.
Nicht eine einzige.
Jace hat mir so viel gegeben, dass ich ihm nicht zurückgeben kann.
Doch er sagt immer, dass ich das längst getan habe, denn ich bin da.
Und ich werde immer da sein.
Auch, wenn Jace nicht mehr hier sein wird. In einer kleinen Ecke meines Bewusstseins werde ich immer hier sein.
Ob hier in diesem Krankenzimmer oder unter unserer Eiche mit den Füßen in der Sonne und den Köpfen gegen die Baumrinde gelehnt.
Ich werde immer da sein. Genau wie er immer da sein, immer bei mir sein wird.
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Song: Slip Away - Luke Hemmings
Thank you very much, I know the closing sentence kinda slaps!
Ich war gerade beim Schreiben auch so: OHHH yesyesyes, dass klingt gut, very good! hrhrhr
All my Love,
Lisa xoxo
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