65.
Für eine Zeitspanne, die sich anfühlt wie eine Ewigkeit, stehe ich vor der Zimmertür und starre an die weiße Farbe, bis sich kleine Punkte vor meinen Augen bilden.
Zwei Schwestern passieren mich, bis die Courage finde, Jaces Krankenzimmer zu betreten.
In der Sekunde, in der ich über die Türschwelle trete, höre ich auf zu funktionieren und all die unterdrückten Gefühle brechen erneut über mich herein, als ich Jace erblicke.
Er sitzt aufrecht in einem Bett, die Augen erwartungsvoll auf die Tür, auf mich, gerichtet.
Ein Tropf ist mit seiner rechten Hand verbunden.
"Ich hatte das Gefühl, dass du vor der Tür stehst."
Ich schließe besagte Tür und gehe nicht auf seine Andeutung ein.
Als er bemerkt, dass ich dieses Spiel von Vermutungen und Vorhersagen nicht mehr mitmache, verblasst seine zuversichtliche Miene. Seine Lippen sinken nach unten, werden schmal. Seine Finger verschränken sich ineinander und er senkt sie Augen.
Ich stehe unvermittelt an der Tür, sage kein Wort, schaue Jace einfach nur stumm an.
Seit Benno auf der Intensivstation lag, hasse ich Krankenhäuser wie die Pest.
Ich weiß, sie sind da, um Menschen zu helfen und das Ben ohne ein Krankenhaus jetzt wahrscheinlich nicht in seinem abgedunkelten Zimmer sitzen würde, aber ...
Es macht etwas mit einem, wenn man tagelang auf einem Krankenhausflur zubringen muss, neben seiner völlig aufgelösten Mutter sitzt, die man nicht trösten kann, und ständig nur den Flur herunterschielt, in der Hoffnung seinen Vater an dessen Ende auszumachen.
Eine Gänsehaut breitet sich bei diesen Erinnerungen über meinen Armen und in meinem Nacken aus.
"Du kannst dich setzten, wenn du willst", bietet Jace an und klopft zweimal auf die steril aussehende Bettwäsche.
Ich will den Kopf schüttelt, aber ich kann nicht.
Ich kann gar nichts, außer da zustehen und ihn anzusehen.
Seine braunen Locken liegen plattgedrückt an seinem Kopf.
Seine Augen wirken müde, aber wesentlich klarer als noch vor ein paar Stunden. Dieser Tag kommt mir vor wie eine Unendlichkeit.
Eine schreckliche Unendlichkeit.
"Möchtest du -"
"Du hast gesagt, du möchtest mich sprechen", sage ich gefasst. "Jetzt ist deine Chance dies zu tun, immerhin bin ich extra dafür hierhergefahren."
Jace nickt.
"Und das weiß ich sehr zu schätzen. Es ist nicht ... selbstverständlich, dass du dir hierfür Zeit genommen hast. Denn ..."
Jace Brighton fehlen die Worte.
Wenn wir uns unter anderen Umständen unterhalten würden, würde ich diese Tatsache süß finden. Aber nicht heute.
Wahrscheinlich werde ich ihn nie wieder ansehen können und ihn mit dem Wort 'süß' betiteln.
Mein tödliches Schweigen bringt ihn aus dem Konzept. Seine Augen huschen zum kleinen Fenster von dem aus man auf den Parkplatz und die davor stehenden Bäume blicken kann.
Ihre Blätter haben fast den gleichen Grünton wie seine Augen.
"Wir haben Glück. Mein Zimmergenosse ist gerade zu einer Untersuchung."
Er deutet auf das freie Bett in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, das mir nicht bewusst aufgefallen ist.
Ich schweige.
"Ich bin ziemlich abgefuckt, Ophelia. Und das Letzte, was ich wollte, war, dich da mit reinzuziehen."
"Das hast du aber getan", knurre ich und zerknülle den weißen Stoff seines T-Shrits zwischen meinen Finger.
"Ich weiß. Und dafür gibt es keine Entschuldigung - das weiß ich auch. Nur mit dir ... war plötzlich alles wieder so ... normal. Du hast mich nicht wie den letzten Dreck betrachtet und das tust du sogar jetzt nicht."
Er holt Luft, was ein tiefes Husten auslöst.
"Du bist sauer, wahnsinnig sauer auf mich. Das sehe ich. Aber in deinen Augen ist nicht der gleiche Hass, mit dem mir sonst alle anderen Menschen begegnen. Ich wünschte, ich hätte das nicht zu meinen Gunsten ausgenutzt, aber du ... Wir wissen doch beide, dass da etwas zwischen uns ist. Wenn du jetzt hierherkommen würdest, würde ich dich küssen verdammt. Du machst mich nämlich auch wahnsinnig. Aber darauf will ich nicht hinaus."
Er schüttelt den Kopf, so als wäre das, was er eben gesagt hat, keine große Sache.
"Ich wollte dich die ganze Zeit über schützen. Ich war nicht ehrlich zu dir und du kennst nur einen kleinen Teil meiner Geschichte, den ich dir für den Ganzen verkauft habe. Ich empfinde viel mehr für dich, als mir lieb ist, aber wenn man so jemand ist, wie ich ... dann verletzt man die Menschen um einen herum. Und das wollte ich dir nie antun. Dafür bist du etwas zu Besonderes."
Ich bebe. Innerlich und äußerlich.
Ich will zu ihm gehen und seine Hand nehmen. Die, die nicht an einen Tropf angeschlossen ist.
Aber ich tue es nicht. Wohlwissend, dass, wenn ich ihn berühre, das letzte bisschen meiner Selbstbeherrschung dahin wäre.
Vielleicht würde ich es tun, wenn ich das hier nicht schon einmal durchgestanden hätte.
"In meinem Umfeld richten sich zu viele Menschen zu Grunde, Jace."
Meine Stimme schwankt und bricht bei seinem Namen.
Grüne Augen verlieren sich kurz an meinen spröden Lippen, dann versinken sie wieder in meinen geschwollenen, braunen Augen.
Der Blickkontakt macht es mir nicht gerade leichter, die nächsten Worte auszusprechen, aber ich muss sie dennoch loswerden.
"Ich bin es leid bei so etwas zusehen zu müssen. Ich will nicht wissen, warum du abhängig geworden bist, was deine Geschichte ist, die dich in ein so viel besseres, bemitleidenswertes Licht rücken wird. Ich will es nicht wissen."
Den letzten Satz flüstere ich und als das letzte Wort über meine Lippen gekommen ist, fällt die erste Träne.
"Ich habe dir vertraut. Du hast mich gewarnt und ich habe nicht gehört und du hast mich nicht gerade effektiv von dir ferngehalten. Vielleicht, weil es keinen anderen Weg für uns gegeben hat, als diesen. Aber jetzt muss ich die Starke von uns beiden sein und gehen, Jace."
Ich mache mir nicht die Mühe, den Sturzbach an Tränen von meinen Wangen zu wischen.
Auch Jaces Augen werden von Sekunde zu Sekunde glasiger.
Als er schluckt, tritt sein Adamsapfel hervor.
"Es ist besser, für jeden von uns. Ich kann dir nicht helfen, Jace. Das konnte ich wahrscheinlich wirklich noch nie. Das verstehe ich jetzt."
Es fühlt sich so an, als hätte mir jemand ein Messer in den Hals gerammt.
Ich kann nur kläglich nach Luft schnappen. Aus meiner Kehle kommt ein verzerrter Ton.
Habe ich soeben einen endgültigen Schlussstrich zwischen uns gezogen?
Ist das zwischen uns - sind wir - vorbei? Vorausgesetzt es hat je ein uns gegeben.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten von Moment zu Moment gelebt.
Ich habe zu viel in meinen Taschendieb hineininterpretiert und das hier vor mir ist die traurige Realität.
Das ist der ernüchternden Boden der Tatsachen, auf dem ich angekommen bin, obwohl mich Jace genau hiervor schützen wollte. Er wollte nie, dass ich ihn so sehe, so kennenlerne.
Ich stehe buchstäblich vor einem Scherbenhaufen.
Ich will das Gefühl in meiner Brust nicht fühlen.
Aber es ist präsent und erinnert mich daran, dass ich soeben einen besonderen Menschen mit den schönsten grünen Augen der Welt verloren habe.
Ich schaue auf den grauen Fußboden, auf dem nicht ein sichtbares Stück Schmutz liegt und versuche den unangenehmen Geruch in der Luft nicht zu sehr einzuatmen.
"Es tut mir leid und dieses Mal werde ich diese Entschuldigung nicht zurücknehmen."
Ich blicke auf und treffe seinen warmen Blick.
Er sieht nicht sauber aus, eher akzeptierend. Fast so, als hätte er hiermit gerechnet.
"Das hätte ich auch nicht von dir verlangt", sagt er nun. "Danke."
Ich schaue ihn unverwandt an und beiße auf meine Unterlippe.
Ein Schweigen breitet sich im Raum aus und ich höre leise Stimme auf dem Flur hinter mir.
"Darf ich dir dennoch die ganze -"
"Nein!"
Ich hebe abwehrend die Hand und bringe ihn tatsächlich zum Schweigen. Ich könnte seine Worte nicht ertragen, dass weiß ich.
"Ich werde die Rechnung deines Aufenthalts hier begleichen. Aber das ist alles, was ich noch für dich tun kann und werde", sagt ich und fahre über mein nasses Kinn.
"Mach's gut, Jace."
Beinahe hätte ich noch seinen Nachnamen hinzugefügt, doch ich ersticke beinahe daran.
Ohne ein weiteres seiner Wort abzuwarten, drehe ich mich um und umfange das kühle Metall der Klinke.
Mein Herz ist taub. Ich spüre es nicht mehr. Und in diesem Moment ist das auch gut so.
Hinter mir höre ich das Bett knarren, gefolgt von einem schmerzerfüllten Laut.
"Ophelia, bitte!"
__________________________
Song: Fine Line - Harry Styles (eigentlich wollte ich diesen Song nicht - noch nicht - verwenden. Aber ich habe ihn beim Schreiben gehört und er passt einfach so, so sehr!)
Heyheyhey :)
Ich liebe es solche Szenen zu schreiben. Die Hälfte von euch möchte mir - oder den Charakteren - wahrscheinlich gerade an die Gurgel gehen xD
Meine Nase bringt mich gerade fast um xD Aber dafür habe ich mich heute gesonnt, also das war es mir wert :)
AND BTW HOLY HELL WE HIT 10K! Ich weiß auch nicht, aber diese Zahl zu sehen, hat mich eben umgehaun. DANKE <3
Ich werde jetzt Abendbrot essen gehen, see ya tomorrow
All my Love,
Lisa xoxo
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro