Rats In The Attic
"Wo fahren wir nochmal hin?", fragt Joe, als wir wenig später in der Straßenbahn sitzen.
"Keine Angst. Ich sage euch, wenn wir aussteigen müssen", erwidert Birdie, die sich ganz dreist an meinem Kleiderschrank bedient hat.
Allerdings nicht, ohne meinen Modegeschmack zu zerreißen, als wäre ich eine Kandidatin bei Project Runway.
Nach langer Suche und vielen gemeinen Kommentaren hat sie sich schließlich für eine Jeans und das Toga-ähnliche Oberteil entschieden, das ich seit unserer Griechenland-Party in der elften Klasse nicht mehr anhatte. Dazu trägt sie Ballerinas, meine Lieblingssonnenbrille und einen bunten Seidenschal von Mom als Kopftuch, um ihre Verletzung zu verbergen. Irgendwie schafft sie es, damit wie eine Filmdiva von früher auszusehen.
"Wieso dürfen wir nicht wissen, wo es hingeht?", hake ich nach. Es gefällt mir nicht, Birdie das Ruder zu überlassen. Andererseits ist ihr so genannter Plan vielleicht die einzige Chance, die wir haben, um unsere Hälse zu retten und Rayner endlich loszuwerden.
Birdie dreht sich zu uns um und hebt ihre (das heißt: meine) Brille ein Stück an. "Weil ich nicht weiß, ob ich euch trauen kann."
"Aber wir sollen dir einfach so vertrauen?"
Birdie lässt die Brille wieder zurücksinken und lächelt selbstzufrieden. "Ganz genau."
Frustriert verschränke ich die Arme vor dem Körper und sehe aus dem Fenster.
Wir fahren den New Church Boulevard hinauf. Wie der Name schon andeutet, reiht sich hier ein Gotteshaus an das nächste. Dabei ist die einzige Religion, die in dieser Stadt wirklich intensiv praktiziert wird, das Heuchlertum. Eigentlich müssten Kaufhäuser, Tankstellen und die Firmenzentralen von Tesla, Google, Microsoft und Apple die Straße flankieren.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Joe mir einen Blick zuwirft. Er trägt seine alte Cordjacke und wirkt schuldbewusst. Kein Wunder. Wenn er Birdie einfach verbuddelt hätte, säßen wir jetzt nicht in dieser Scheiße. Andererseits kann ich ihm schlecht zum Vorwurf machen, dass er nicht zum Mörder werden wollte. Ich hätte an seiner Stelle vermutlich nicht anders gehandelt. Und trotzdem würde ich mir wünschen, dass alles anders gelaufen wäre.
Langsam schiebt sich die Straßenbahn durch die Stadt. Von der Innenstadt ins Bankenviertel, zum Bahnhof und schließlich zum Industriegebiet. Hier gibt es nicht viel außer ein paar Elektronik-Firmen, einem Autoverleih, einem 24-h-Baumarkt und mehreren Lagerhallen. Ich komme nicht oft hierher. Und jetzt ist es schon das zweite Mal innerhalb eines Tages. Gestern um Schaufeln und Taschenlampen zu kaufen und heute ...
Die Bahn steuert eine Haltestelle an. Ich rechne damit, dass Birdie etwas sagt, aber sie sitzt nur da, wippt mit dem Fuß und scheint im Kopf ein Liedchen zu summen.
Joe und ich tauschen Blicke. Wenn wir hier nicht aussteigen, fahren wir wieder in die Stadt zurück.
Ich will mich gerade nach Birdies Schulter strecken, da springt sie plötzlich auf. "Oh, mein Gott! Wir müssen hier raus! Kommt!" Sie drängt sich an ihrem Sitznachbarn vorbei, betätigt den Türknopf und springt aus der Bahn.
Joe und ich müssen uns beeilen, um es noch ins Freie zu schaffen.
"Huh, das war knapp", kommentiert Birdie unser Beinahe-Missgeschick. "Da wären wir doch fast vorbeigefahren."
"Woran vorbei?", will ich wissen.
Birdie sieht sich um, als wüsste sie selbst nicht, wo wir sind. So langsam kann ich verstehen, wieso Rayner ihr den Schädel mit einem Queue spalten wollte.
"Na ja ... hier irgendwo sollte dieser ..." Birdie lässt den Blick schweifen. "... dieser Ort sein."
"Welcher Ort?"
"Ray und ich waren mal hier."
"Wo hier?"
Birdie deutet in Richtung einer Lagerhalle mit blauen Wänden und Wellblechdach. Der Schriftzug an der Fassade ist bereits verblasst und nicht lesbar. Auf dem Asphaltplatz, von dem das Lager umgeben ist, stehen ein paar weiße LKWs und mehrere Paletten mit Kisten. Dazwischen lauern einige Gabelstapler auf ihren Einsatz. Menschen sind keine zu sehen. Die Sonne scheint und vermutlich zwitschern auch irgendwo die Vögel und summen die Bienen - nur eben hier nicht, weil hier alles in Beton gegossen ist.
"Da hin?", frage ich. "Was wollen wir denn da?"
"Sagt euch Bandy-Bandy etwas?", erwidert Birdie, während sie dem Weg zur Lagerhalle folgt.
Bandy-Bandy sagt mir tatsächlich etwas. Ich erinnere mich vage daran, dass Birdie bei ihrem Streit mit Rayner davon gesprochen hat.
"Ist das nicht der Typ mit dem Schwanzvergleich?", fragt Joe.
Ich werfe meinem Bruder einen bösen Blick zu. Das hat er sich natürlich gemerkt.
Birdie lacht. "Hab ich das gesagt?"
"Wer sonst?", brumme ich missmutig.
Birdie lacht noch lauter. "Das klingt ganz nach mir." Sie zupft ihr Kopftuch zurecht. "Aber es ist wahr. Mein Gatte hat sich auf einen Schwanzvergleich eingelassen. Und das ausgerechnet mit Bandy-Bandy."
"Was ist das überhaupt für ein Name?"
"Bescheuert, nicht wahr?"
"Und wie."
"Das solltet ihr ihn nur besser nicht hören lassen. Bandy-Bandy ist nämlich ziemlich durchgeknallt."
"Ist er ein Verbrecher?", murmelt Joe.
Birdie tippt sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. "Hm ... wie sag ich das jetzt am besten?" Sie nickt nachdrücklich. "Ja. Ja. Auf jeden Fall ja."
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. "Du schleppst uns zu irgendeinem Gangster?"
Birdie vollführt eine elegante Drehung um die eigene Achse und wirft mir einen schnippischen Blick zu. "Was denn? Erst letzte Nacht habt ihr für einen Gangster eine Leiche entsorgt."
"Haben wir nicht", halte ich dagegen. "Du lebst ja noch."
"Aber das wusstet ihr nicht."
"Ist dieser Bandy-Bandy so schlimm wie Rayner?", mischt Joe sich ein.
"Schlimmer", erwidert Birdie mit einem steifen Lächeln. "Wisst ihr, in dieser Stadt kontrolliert Ray das Nachtleben. Das bedeutet ... die Clubs ... die Stripperinnen ... die Nu-"
"Und du bist okay damit?", falle ich ihr ins Wort.
"Schätzchen ... ich war selbst mal Teil dieser Welt und wenn es etwas gibt, das ich damals gelernt habe, dann, dass man sich zuerst um sich selbst kümmern muss."
Ich schnaube. Wenn Joe und ich uns nur um uns selbst gekümmert hätten, läge Birdie jetzt sechs Fuß tief unter der Erde.
"Doch was ist ein Nachtclub ohne Drogen?", fährt Birdie versonnen fort.
Ich hoffe, dass sie darauf keine Antwort erwartet.
Meine eigene Drogenerfahrung beschränkt sich auf ein einmaliges Ziehen am Joint eines Klassenkameraden und ein mehrstündiges Benebelt-sein im Unterricht, das mir beinahe ein noch längeres Nachsitzen eingebracht hätte.
"Na, wie auch immer ..." Birdie wedelt mit der Hand als wollte sie ihre Drogenerinnerungen verscheuchen. "Ray hat keine Ahnung von Drogen. Er bezieht sie von einem Händler. Von ..." Sie macht eine dramatische Pause.
"Bandy-Bandy?", rate ich.
Birdie klatscht affektiert in die Hände. "Bravo."
"Dieser Bandy-Bandy ist also ein Drogenhändler?"
"Drogenbaron nennt er sich selbst." Birdie nickt. "Aber ja. Er ist ein Drogenhändler. Und Ray will ihn hintergehen. Will selbst ins Drogengeschäft einsteigen."
"Aber wenn Bandy-Bandy das erfährt ..."
"Wird er nicht sehr erfreut sein."
Birdie grinst wie ein Honigkuchenpferd und mir dämmert so langsam, was ihr ominöser Plan ist.
"Du willst Rayner verpfeifen?"
Birdie klimpert mit den Wimpern und beißt sich auf die Unterlippe wie ein kleines Mädchen, das beim Schummeln erwischt worden ist. "Ich war dabei, als er sich mit seinen neuen Zulieferern getroffen hat, und eventuell habe ich ein bisschen gelauscht."
"Und dieser Bandy-Bandy wird Rayner dann umbringen?", haucht Joe.
"Na, hoffen wir's doch", erwidert Birdie naserümpfend.
"Ist er dir denn vollkommen egal?"
Birdie setzt sich wieder in Bewegung und antwortet ohne uns anzusehen: "Ray ist ein Trottel. Er will Bandy-Bandy übers Ohr hauen und hat versucht, mich umzubringen. Mit einem davon wäre er vielleicht durchgekommen - aber nicht mit beidem."
Joe und ich tauschen Blicke.
Wir hätten sie einfach verbuddeln sollen, denke ich. Gleichzeitig klingt Birdies Plan nicht unplausibel. Wenn ein durchgeknallter Drogenbaron erfährt, dass sein Geschäftspartner ihn ausbooten will, hetzt er ihm seine Sicarios auf den Hals. So kenne ich es jedenfalls aus dem Fernsehen. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich will einfach nicht in noch mehr kriminellen Scheiß verwickelt werden. Erst Rayner und jetzt auch noch ein Drogenhändler? Was kommt als nächstes? Der Pate?
Die Sonne brennt mir unangenehm auf den Hinterkopf, als wir die niedrige Böschung zum Lager hinuntersteigen. Erst beim Näherkommen entdecke ich die Männer, die die Eingänge zur Wellblechhalle bewachen. Sie tragen keine Maschinengewehre, aber das ist auch so ziemlich das einzige Beruhigende, das ich über sie berichten kann. Wegen ihrer schwarzen Funktionskleidung, mit der sie sich bei dieser Hitze bestimmt ins Koma schwitzen, und der steinernen Gesichter muss ich sofort an Ex-Militärs denken. Bestimmt stehen die nicht nur zum Spaß hier herum und bewachen eine heruntergekommene Lagerhalle.
Birdie scheinen sie jedenfalls nicht besonders viel Respekt einzuflößen. Sie marschiert einfach über das Betonfeld und nähert sich dem hinteren Teil der Halle, wo eine Metalltreppe ins obere Stockwerk eines Anbaus hinaufführt. Dort werden wir zum ersten Mal aufgehalten.
"Hey", sagt einer der Wächter und macht eine unmissverständliche Geste, die man beim Türsteher-Workshop bestimmt als erstes lernt. Bedeutung: Du kommst hier nicht rein.
Auch das scheint Birdie nicht zu beeindrucken. Sie setzt ein unverbindliches Lächeln auf. "Hallo, mein Schöner."
Der Mann verzieht keine Miene.
Birdie mustert ihn von Kopf bis Fuß, wobei sie seinem strammen Bizeps besondere Aufmerksamkeit widmet. Dann kommt sie glücklicherweise gleich zum Thema. "Ich will zu Bandy-Bandy. Es geht um seinen Freund Rayner. Und es ist dringend."
Der Mann mustert Joe und mich.
"Die beiden gehören zu mir", sagt Birdie.
"Bist du die Hohepriesterin?", fragt der Mann schroff. "Und sind die beiden die zwei Narren?"
Mir liegt eine bissige Erwiderung auf der Zunge, aber Birdie kommt mir zuvor.
"Ganz genau. Die Hohepriesterin und ihre zwei Narren."
Der Mann mustert uns noch einmal, als könnte er es selbst nicht glauben. Dann deutet er einladend die Treppe hinauf und sagt etwas, das ich wiederum nicht richtig glauben kann. "Ihr werdet erwartet."
"Danke", flötet Birdie, tätschelt seinen Oberarm und huscht die knarrenden Stufen hinauf.
Ich laufe ihr nach. "Was war das denn?"
"Ich sagte es doch schon", antwortet Birdie mit gesenkter Stimme. "Dieser Bandy-Bandy ist nicht ganz dicht. Am besten haltet ihr die Klappe und überlasst das Reden mir. Kapiert?"
Nichts lieber als das, denke ich.
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