3 Mike
Als ich einige Stunden später wieder erwache sind meine Kopfschmerzen verschwunden, was auch daran liegen könnte, dass Mara mir eine Kopfschmerztablette und ein Glas Wasser ans Bett gestellt hatte.
Ich habe sie vor dem Schlafen genommen und jetzt fühle ich mich fast wie neu geboren.
Nachdem ich mich angezogen habe, gehe ich nach unten ins Wohnzimmer, wo ich lediglich Pascal antreffe, der auf dem Sofa seine Zeitung studiert.
"Na? Wo ist der Schreihals?", frage ich grinsend und setzte mich neben ihn. Er sieht mich feixend an und hebt belustigt eine Augenbraue.
"Welchen meinst du? Den Großen oder den Kleinen?"
"Eigentlich Charlie, aber du darfst mir auch gern sagen, wo Mara ist.", gehe ich mit einem belustigtem Schnauben auf seinen Spaß ein.
"Sie gehen spazieren. Die Kleine ist so durch den Wind, dass sie nur noch am Brüllen ist. Gott! Ich wünschte Mia wäre hier und könnte ihr etwas auf dem Klavier vorstielen. Das hat früher immer geholfen.", seufzt er erschlagen und bekommt gar nicht mit, wie ich schmerzvoll das Gesicht verziehe.
"Ähm...ja...wo du Mia erwähnst...Kann ich eines der Autos haben? Mein Motorrad steht noch vor dem 'Mc Finleys'.", frage ich zögerlich.
Pascal sieht mich fragend an, dann nickt er zustimmend.
"Sicher.", beginnt er nachdenklich, dann überlegt er es sich anders, "Ach weißt du was...Ich fahr dich eben hin, dann kannst du deine Maschine gleich abholen. Ich hab gerade Zeit.", sagt er zuvorkommend und klappt seine Zeitung zu.
"Das ist doch nicht nötig.", versuche ich ihn aufzuhalten, "Ich kann sie morgen holen, wenn ich vom Krankenhaus komme."
"Ach was. Komm schon Ian. Lass mich mal was für dich tun, du hilfst uns immer so viel.", wehrt er meinen Vorschlag ab und erhebt sich. Auffordernd sieht er mich an.
"Ich wünschte, es wäre so.", seufze ich und stehe auf, "Aber ich scheine irgendwie alles nur schlimmer zu machen.", sage ich resigniert und folge ihm in den Flur, wo wir uns die Schuhe anziehen. Ich nehme den Helm von der Garderobe und folge ihm nach draußen.
"Mia kommt schon noch zur Vernunft, aber ich meine nicht nur unser großes Sorgenkind. Du weißt nicht, wie sehr du uns auch mit der Kleinen hilfst. Denkst du uns ist nicht aufgefallen, wie oft du sie nachts mit dir herumschleppst?"
Verlegen schaue ich zur Seite und gehe ums Auto herum zur Beifahrerseite.
"Ach, das ist doch nichts. Warum sollte ich die Maus auch nicht betüddeln, wenn ich eh nicht schlafen kann."
"Sag ich doch. Du bist uns eine große Hilfe.", sagt er bestimmt und fährt los.
Ich schweige. Weiß sowieso nicht, was ich dazu sagen soll. Für mich ist es kein Problem. Finde es sogar schön im Dunkeln mit Charlie durchs Haus zu wandern und mit ihr zu reden. Sie hört einfach zu...also, wenn sie nicht gerade schreit, aber in der Regel ergänzen wir uns sehr gut.
Entweder erzählt sie mir etwas oder ich ihr, wobei wir uns gleichmäßig abwechseln.
In Gedanken versunken denke ich an meine letzte Nacht mit ihr zurück. Ich bin sicher in dieser habe ich mehr geweint als sie, doch war ich lange nicht so laut.
Manchmal fressen mich die Sorgen um Mia einfach auf und da ist Charlie mir eine willkommene Gesellschaft.
"Wir sind da.", reißt Pascale mich aus meinen Gedanken. Als ich den Blick hebe, von ihm nach draußen schaue, sehe ich neben dem Auto meine weiß, rote Yamaha YzF-R125 stehen.
"Danke.", wende ich mich an Pascal und steige dann aus. Bevor ich jedoch die Tür schließe beuge ich mich noch mal zu ihm ins Auto. "Danke und bis nachher. Ach...und sag Charlie, wenn sie artig ist, gehen wir noch ne Runde Schaukeln.", versuche ich zu scherzen, was zumindest Pascal zum Lachen bringt.
"Mach ich. Ich hoffe, sie hört auf mich.", grinst er mir zu, bevor ich die Tür zuschlage und er davon fährt.
Auch ich fahre. Mit leichtem Herzklopfen zu Mia ins Krankenhaus. Ich bin nervös. Wie so oft in letzter Zeit. Jeden Tag, den ich zu ihr fahre hoffe ich, dass sie wie durch ein Wunder, ihre Erinnerungen wieder gefunden hat, oder aber das sie zumindest gut gelaunt ist.
Doch bis auf das ihre Laune Tag für Tag sinkt und sie mich eigentlich nur noch genervt anschaut, hat sich nichts verändert, weshalb ich schon mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend das Krankenhaus betrete.
Den Helm über dem Arm steige ich im siebten Stock aus dem Fahrstuhl und bleibe wie angewurzelt stehen.
Schon auf den ersten Blick kann ich Mia in ihrem Rollstuhl sehen. Sie steht vor einer der Wände. Die Hände hat sie um den Handlauf gelegt und zieht sich hoch. Leider hat sie vergessen die Bremsen anzuziehen und der Stuhl rollt nach hinten Weg.
Hilflos blickt sie sich um. Schwankt leicht, als sie eine Hand vom Geländer nimmt und sich danach umdreht.
Schon will ich ihr zu Hilfe eilen, als ich mitten in der Bewegung verharre.
Ein Mann kommt den Flur hinunter geschlendert. Ich erkenne ihn schon von weitem. Seine blonden Haare sind wild zerzaust, seine blauen Augen blitzen spitzbübisch und ein breites Lächeln tritt auf sein Gesicht, als er seine Schritte beschleunigt und auf Mia zueilt. Gerade noch rechtzeitig bevor ihre Beine nachgeben ist er bei ihr und fängt sie auf.
Nimmt sie fürsorglich in den Arm und hält sie fest. Viel zu lange für meinen Geschmack.
"Hoppla!", kann ich seine grinsende Stimme bis hier her hören und bei dem Klang verkrampft sich mein Magen, "Alles in Ordnung?"
"Ja. Geht schon. Kannst du mich absetzen?", fragt Mia recht verhalten, doch ich höre die Leichtigkeit in ihrer Stimme, die ich schon so lange nicht mehr gehört habe.
"Sicher?", fragt Mike fixend, "Ich trag dich auch gern irgendwo hin, wenn du willst.", er lächelt sie warmherzig an. Und was das schlimmste ist...sie erwidert es. Warum?! Frage ich mich. Warum Lächelt sie IHN an? Erkennt sie ihn etwa? Fassungslos stehe ich vor dem Fahrstuhl und rühre mich nicht von der Stelle. Bisher haben sie mich nicht bemerkt. Weder Mia, noch Mike.
MIKE! Was zur Hölle hat er hier zu suchen?! Seit einem Monat war er nicht mehr hier. Also warum taucht er ausgerechnet jetzt wieder auf? Und dann kommt mir ein erhellender, aber auch empörter Gedanke. MEL! JASON! Einer von ihnen muss es ihm gesteckt haben, dass sie wieder wach ist. Sicher ist er nur deswegen wieder aufgetaucht.
Jetzt, wo sie wieder wach ist, denkt er sicher, er könnte wieder bei ihr landen, doch so einfach lasse ich mich nicht abservieren. Sie wird schon merken, dass er nicht der Richtige ist. Spätestens, wenn er ihr sagt, dass sie ihn kennen müsste.
Doch...
"Wie heißt du?", fragt er sie doch tatsächlich, als er sie in ihren Rollstuhl gesetzt hat.
"Marie. Und du?", kann ich ihre fröhliche Stimme vernehmen, die mich ganz weich werden lässt. Wie lange habe ich sie nicht mehr so unbeschwert reden hören. Immer wenn ich da bin ist sie nur noch gereizt.
Angespannt balle ich die Hand zur Faust und weiche einen Schritt vor den Beiden zurück, als sie sich abwenden und nebeneinander her den Gang entlang gehen. Oder in Mias Falle rollen.
"Ich heiße Mike. Schön dich kennenzulernen.", stellt er sich doch tatsächlich vor, als wüsste er, dass sie ihn nicht kennt.
Doch vielleicht weiß er es ja tatsächlich. Vielleicht haben Mel und Jason ihm ja gesagt, dass sie sich nicht erinnern kann.
Nur wie kann er damit so locker umgehen? Oder freut es ihn eventuell sogar, dass sie sich nicht erinnert? Mich würde mal interessieren, was zwischen den beiden wirklich gewesen ist, als sie sich geküsst haben. Denn bis heute weiß ich es noch immer nicht genau.
Mir blieb keine Zeit sie zu fragen und er hielt es nie für nötig, mir die Wahrheit zu sagen.
"Kann sie dir selbst sagen, wenn sie wieder aufwacht.", hatte er mich immer vertröstet. Doch wer hätte denn ahnen können, dass sie sich nicht mehr würde erinnern können.
Doch so war es. Und solange sie sich nicht erinnerte, würde ich wohl nie erfahren, warum Mia Mike geküsst hatte.
Leicht geschockt stehe ich da und werde erst aus meinen Gedanken gerissen, als Mias fröhliches Lachen über den Flur hallt.
Bei diesem Klang geht mir das Herz auf, doch friert es schon im nächsten Moment ein, als ich sehe, wie Mike sich zu ihr runter beugt und ihr einen Kuss auf die Wange gibt, dann verbeugt er sich verspielt vor ihr und dreht sich zu mir um.
Als er mich sieht weiten sich seine Augen leicht, doch bleibt dieses breite Grinsen auf seinem Gesicht, als er auf mich zu kommt.
"Ian.", sagt er fröhlich und nickt mir zu, während er an mir vorbei geht und in den Fahrstuhl steigt.
"Mike.", erwidere ich leicht geschockt seinen Gruß und sehe gerade noch, wie Mias Blick sich verdunkelt, als sie mich bemerkt. Mit einem Ruck dreht sie den Rollstuhl von uns Weg und rollt zu ihrem Zimmer.
Ich stehe noch wie angewurzelt auf meinem Platz, bis Mike mit dem Fahrstuhl nach unten fährt. Erst dann löse ich mich aus meiner Starre und folge meiner Freundin in ihr Zimmer.
"Hallo Mia. Darf ich reinkommen?", frage ich beherrscht und zucke beinahe zurück, als sie mich wütend anmacht.
"Was willst du schon wieder hier?! Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Oder hörst du schlecht?", faucht sie mich an, als ich das Zimmer betrete.
"Ich habe gesagt, du sollst verschwinden. Und die Bilder, kannst du auch gleich mit nehmen!", damit wischt sie mit einer wütenden Geste über den Tisch und lässt einen kleinen Stapel Fotos auf den Boden regnen.
Mit gerunzelter Stirn hebe ich sie auf, doch schon das erste, was mir in die Hände fällt, lässt mich sehnsüchtig lächeln. Es ist das erste, was wir damals im Krankenhaus aufgenommen haben. Ich halte Charlie im Arm und Mia lehnt glücklich lächelnd an meiner Schulter. Wir sehen beide überglücklich aus. Und das waren wir damals auch.
Auf dem nächsten Bild sind wieder wir beide zu sehen, doch dieses Mal trage ich einen Anzug und sie ein wunderschönes Kleid. Es ist das Bild, das Felix von uns gemacht hat, als sie im letzten Jahr zu ihrem ersten Konzert gegangen ist. Es folgen viele weitere Bilder. Bilder von ihr und ihren Eltern. Bilder von ihr und mir und eines von ihr und Mel. Von Mike ist keines dabei.
Ich hoffe nur, dass sie Mel nicht so abweisend behandelt wie mich. Das würde ihr das Herz brechen und Jason auf die Palme bringen.
"Willst du gar nicht wissen, wann die Bilder gemacht wurden, oder wer die Menschen sind, die darauf sind?", ich deute auf Mel und sehe unbehaglich zu ihr auf.
Ihre Mine ist verschlossen; die Arme hat sie vor der Brust gekreuzt.
"Ich wüsste nicht, was das bringen sollte!", sagt sie wütend, "Ich erinnere mich eh nicht! Ich habe mir die Bilder angesehen. Den ganzen Abend. Aber nichts! Gar nichts! Nicht das kleinste bisschen!"
"Ich könnte dir von den Bildern erzählen...", beginne ich hoffnungsvoll. Ich will ihre abweisende Haltung einfach nicht hinnehmen. Irgendwie muss sie doch verstehen, dass ich ihr nur helfen will.
"Das will ich aber nicht! Warum kapierst du das nicht?! Ich hab die Schnauze voll! Immer soll ich alles versuchen, mich erinnern! Laufen! Nachdenken! Menschen die ich nicht kenne verstehen! Warum versteht IHR MICH denn nicht?!", schreit sie beinahe auf und rollt mich mit ihrem Stuhl fast über den Haufen. "Wenn ihr mich so gut kennt, dann müsst ihr doch wissen, wie ich ticke und dass ich keinen Bock auf diesen Stress habe! Lasst mich einfach in Ruhe!"
"Dann gibst du also einfach auf?", frage ich resigniert und lege die Bilder auf den Tisch zurück. Nachdenklich fahre ich mit dem Finger über das von mir und ihr und wende mich ihr dann zu.
"Und wenn schon?!", bleibt sie bissig, "Macht doch keinen Unterschied!"
"Doch.", sage ich seufzend, "Einen gravierenden. Denn die Mia, die ich kenne, gibt nicht auf. Niemals. Die Mia, die ich liebe hat sich immer den Schwierigkeiten gestellt, die sich ihr in den Weg gestellt haben. Meine Mia gibt nicht auf.", zähle ich auf und spüre, wie mir ein Kloß in den Hals steigt. Noch schlimmer wird der Druck, als ich in ihre abweisenden Augen blicke, die zwar etwas erstaunt aber gänzlich kalt und emotionslos sind.
"Dann bin ich eben nicht die Mia, die du kennst.", sagt sie giftig, "Finde dich damit ab. Ich bin Marie. Und ich habe keine Lust mehr mich an die Vergangenheit zu klammern. Das hier ist jetzt mein Leben!", wütend haut sie auf die Lehne ihres Stuhls und sieht regelrecht verzweifelt aus. Doch als ich einen Schritt auf sie zumache, ihr die Hand auf die Schulter legen will, fährt sie mich wütend, mit zitternder Stimme an.
"Fass mich nicht an! Nie wieder! Das da ist vorbei!", dabei deutet sie auf den Tisch. Auf die Bilder, die ich dort wieder hingelegt habe und dann zur Tür, "Und jetzt geh. Lass mich in Ruhe!", schreit sie auf und ich sehe die Tränen, die ihr aus den Augen laufen und mir das Herz brechen.
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht sollte ich gehen. Ich tue ihr nicht gut. Ich ziehe sie nur immer weiter runter. Anders als Mike, der sie seit langer Zeit mal wieder zum Lachen gebracht hat. Vielleicht hat Mia wirklich recht und ich sollte sie in Ruhe lassen, damit sie endlich zur Ruhe kommen kann.
Innerlich frisst mich der Schmerz auf, doch versuche ich diesen vor ihr zu verbergen. Dass meine Stimme jedoch beinahe bricht, kann ich nicht verhindern, als ich ihr schließlich leise zustimme.
"Also schön. Wenn du das wirklich willst. Wenn du nicht wissen willst, was diese Bilder zu bedeuten haben, dann werde ich gehen.", sage ich leise. Trete langsam einen Schritt zurück. Hoffe, dass sie mich aufhalten wird, doch alles was sie sagt ist eher mehr der Rausschmiss, den sie ohnehin schon die ganze Zeit gewollt hat.
"Ja. Geh. Verschwinde endlich! Und komm nicht wieder her.", sagt sie bestimmt und bricht mir damit endgültig das Herz.
Ich wollte Mike nicht das Feld räumen, doch dagegen, dass Mia mich eigenhändig runter wirft, komme ich nicht an.
Ein letztes Mal sehe ich sie an. Ich kann nichts mehr sagen. Würde vor Schmerz wohl nur in Tränen ausbrechen und so wende ich mich einfach von ihr ab. Verlasse das Zimmer. Steige in den Fahrstuhl und auf mein Motorrad.
Röhrend erwacht es zum Leben, als ich den Schlüssel drehe und mit heulendem Motor das Gelände verlasse.
Unaufhörlich laufen mir jetzt doch die Tränen übers Gesicht. Benetzten meine Wangen und das Futter des Helms. Laufen auch in den Kragen meiner Jacke und tränken das dünne T-Shirt darunter mit meiner Trauer.
Ich fahre bestimmt eine Stunde einfach durch die Gegend, bis ich schließlich wieder an dem Feldweg ankomme, wo ich schon am Abend zuvor gestanden habe.
In verzweifelter Trauer gefangen, steige ich ab. Gehe zu einem nahegelegenen Baum und lasse mich kraftlos darunter nieder, den Helm achtlos auf dem Boden vor meinen Füßen.
Von Schluchzern geschüttelt vergrabe ich den Kopf in Händen und versinke in dem schwarzen Loch, aus dem Mia mich erst vor so kurzer Zeit gezogen hat.
Ich verstehe es einfach nicht! Kann es nicht verstehen, wie sie jedes Gefühl für mich vergessen konnte. Ich liebe sie so abgöttisch, dass mich der Schmerz beinahe umbringt.
Meine Emotionen überschwemmen mich. Reißen mich immer wieder mit, bis ich mich nur noch ausgetrocknet und leer fühle. Der Himmel verdunkelt sich langsam und mal wieder sitze ich einsam unter einem Baum. Wie früher. Wie damals, als mich der Tod meiner Mutter an den Rand des Wahnsinns gebracht hat. Nur damals graste ganz in der Nähe ein Pferd. Spendete mir mit seiner Anwesenheit Trost und Ruhe. Ich war nicht ganz allein. Nicht so wie jetzt, wo nur ein stilles, lebloses Objekt in meiner Nähe steht.
Doch diese Erinnerung, die mich überkommt, zeigt mir den einzigen Weg, der mir derzeit offen steht. Und so krame ich aus meiner Tasche mein Handy hervor und schreibe Mara und Pascale eine Nachricht.
Zum Anrufen fehlt mir die Kraft. Ich würde nur wieder zu heulen anfangen, wenn ich ihnen meinen Entschluss mitteilen würde. Einen Entschluss der mir so unendlich sinnlos und schmerzhaft erscheint, dass ich es fast nicht über mich bringe.
Ich werde sie so wahnsinnig vermissen. Einfach alles an ihr. Ihre Stimme, so wütend und abweisend sie auch war. Ihr Anblick, der mich jedes Mal aufs Neue an den Rand der Verzweiflung trieb, weil ich sie nicht berühren konnte und ihre funkelnden braunen Augen, die so voller Zorn blitzen können. Mich aber auch mit einer Wärme erfüllten die noch den heißesten Sommertag in den Schatten stellte.
Dennoch muss ich es tun. Und so schreibe ich Mara eine kurze, entschuldigende Nachricht. Auch Charlie tut mir leid, jetzt, wo ich mein Versprechen brechen muss. Sie wird es vermutlich nicht bemerken, aber ich werde es wissen, dass ich sie enttäuscht habe und das macht die Sache nicht gerade leichter für mich.
Mit zitternden Fingern tippe ich auf dem Display herum und muss die Worte immer wieder korrigieren, weil mein verschleierter Blick keine Präzision zulässt, doch schließlich habe ich es geschafft und sende die Nachricht ab.
-Es tut mir leid Mara. Ich werde für eine Weile nach Hause fahren. Warte nicht auf mich.
Grüß Charlie von mir.
Mehr bringe ich nicht zustande. Selbst diese wenigen Worte fallen mir schon schwer, doch bin ich es ihnen schuldig. Seit Monaten haben sie mich bei sich wohnen lassen. Haben mich mit allem versorgt und sich nicht nur um Mia sondern auch um mich gesorgt. Damit ist jetzt Schluss.
Ich werde nach über einem Viertel Jahr nach Hause zurückkehren und wie es dann nächste Woche weitergeht wird sich zeigen. Fürs Erste muss ich hier weg!
Ich halte es in ihrer Nähe nicht mehr aus. Halte ihre Zurückweisung nicht mehr aus. Vielleicht hat Mara ja recht und wir brauchen diese Pause.
Und wenn nicht? Was, wenn sie sich anstatt in mich jetzt in Mike verliebt? Was? Wenn es zwischen uns nie mehr so wird, wie es einmal war?
Von meinen eigenen Gedanken regelrecht zerfressen raufe ich mir die Haare und seufze tief auf, dann schiebe ich sie beiseite.
Ich denke, was auch immer kommen soll, wird passieren. Und wenn ihre Erinnerungen nicht wieder zurückkehren, dann ist es eben so. Vermutlich wird sie mich dann hassen. Hassen dafür, dass ich ihr habe helfen wollen und sie damit an den Rand der Verzweiflung getrieben habe. Und wenn sie sich doch erinnert?
Vielleicht habe ich dann ja Glück und sie steht eines Tages vor meiner Tür und fällt mir um den Hals.
Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, aber einen Funken Hoffnung schaffe ich zu bewahren, ohne den ich vermutlich verzweifeln würde.
Und so raffe ich mich schließlich wieder auf und mache mich auf den Heimweg.
Ich weiß, die Zwillinge werden sich freuen. Und Page auch. Und auch mir wird ein bisschen Abstand sicher gut tun. Versuche ich mir einzureden, auch wenn ich nicht wirklich daran glauben kann.
Der Weg ist weit. Und es ist bereits spät, als ich so leise wie möglich auf dem Hof ankomme und mein Motorrad in die Garage bringe. Dann schleiche ich mich in mein Zimmer und verkrieche mich mit einem Knoten im Bauch in meinem Bett.
Noch lange liege ich wach und grübele darüber nach, was ich falsch gemacht habe, dass Mia so auf mich reagiert, doch egal wie lange ich diese Gedanken auch hin und her wälze, ich komme zu keiner schlüssigen Antwort, außer der, dass ich mir ihre Liebe nur eingebildet habe. Wie könnte sie sonst so abweisend auf mich reagieren und Mike mit offenen Armen empfangen.
Doch macht mich diese Erkenntnis so sauer, dass ich mir selbst eine Verpassen könnte. Wie konnte ich nur so dumm sein?!
Die Anzeichen waren doch schon länger da! Sie hat IHN geküsst, obwohl wir verabredet waren. Und sie ist mir nur hinterher gelaufen, weil sie mir sagen wollte, dass sie sich geirrt hat.
Es kann gar nicht anders sein. Es gibt auch keine andere, logischere Erklärung dafür, warum sie sich scheinbar vom ersten Augenblick an wieder zu ihm hingezogen gefühlt hat. Nur deshalb hat sie mit ihm gelacht und nicht mit mir.
Ich war so dämlich! Mara hatte recht. Ich hätte viel früher gehen sollen. Hätte ihr Zeit geben sollen sich dessen klar zu werden. Wobei...nicht Mia musste sich dessen klar werden, sondern ich.
Ob Mara es wohl gewusst hat? Ob sie wusste, dass Mia Mike liebt und nicht mich? Wollte sie deshalb, dass ich etwas Abstand suche, damit mir das klar werden konnte?
Ich weiß es nicht? Kann es auch nicht herausfinden, doch wie auch immer ich alles drehe und wende, ich komme zu keinem endgültigen Schluss.
Mühsam versuche ich meinen Kopf zum Schweigen zu bringen, doch immer wieder lodern die Gedanken auf, die ich zu ersticken versuche. Und erst am frühen Morgen, als der Mond schon tief am Himmel steht, schlafe ich endlich doch ein.
Lange schlafe ich allerdings nicht. Vielleicht sind drei oder vier Stunden vergangen, als ich plötzlich hellwach in meinem Bett sitze und mich augenblicklich wieder diese Tretmühle zu fassen hat.
Resigniert stehe ich auf. Ziehe eine meiner Reithosen an und schleiche mich aus dem Haus.
Im Stall haben die Helfer schon das Kraftfutter verteilt und sind gerade dabei die Boxen zu misten, als ich den Trakt betrete.
Ein junger Mann kommt auf mich zu und sieht mich fragend an.
"Kann ich ihnen helfen?" Die Forke in seiner Hand, seine Reithose und die Schubkarre, die er vor eine geschlossene Box geschoben hat, sagen mir nur allzu deutlich, dass er hier wohl arbeitet, doch gesehen habe ich ihn bisher noch nicht. Er muss also neu sein.
Sein Ton ist ziemlich forsch, was ich für einen Neuling recht unangebracht finde, weshalb ich ihm auch geradezu ruppig antworte.
"Ja. Du kannst Aristas Box vernünftig sauber machen und mir sagen, wo ich Steffen finde.", mit verengten Augen sehe ich ihn finster an, was er mit skeptischer Mine zur Kenntnis nimmt.
"Und wer will das wissen?", wagt er doch tatsächlich frech zu fragen, was meine Laune deutlich verschlechtert, doch ehe ich dazu komme ihm die Meinung zu geigen, kommt Merle Winterbeck aus Gigolos Box und beginnt zu grinsen. Bevor sie sich jedoch an mich wendet, schickt sie den Möchtegernchef zurück an seine Arbeit.
"Steh da nicht rum. Die Boxen machen sich nicht von allein.", brummend wendet er sich von uns ab, doch kann ich nicht verstehen was er murmelt, dafür ist Merle's Stimme viel zu laut: "Mensch Ian! Schön dass du wieder da bist! Wann bist du denn zurückgekommen? Weiß dein Vater schon dass du wieder hier bist?", plappert sie munter drauf los und nimmt mich zur Begrüßung kurz in den Arm.
"Gestern Abend.", sage ich knapp und sehe mich nach Steffen unserem Pferdewirtschaftsmeister um, "Und...Nein. Sie wissen es noch nicht. Geht's meinem alten Herrn denn gut? Oder warum ist er nicht hier?"
"Gestern war er etwas angeschlagen. Hat sich für heute frei genommen. Magenverstimmung oder so. Nichts Ernstes. Der Wird schon wieder. Ich bin sicher, wenn seine Frau ihn ließe, wäre er im Stall.", sagt sie leichthin und lacht belustigt auf. Auch mir wird ein bisschen leichter ums Herz, als ich mich so ungezwungen mit ihr unterhalte. Wir reden noch eine Weile über die Fohlen und Stuten, doch dann komme ich auf den eigentlichen Grund meines Besuches zurück.
"Ist Pellegrino eigentlich fit? Ich würde gern ausreiten.", frage ich locker, während wir Richtung Sattelkammer schlendern.
"Sicher. Der freut sich sicher, wenn du seinen Trainingsplan etwas durcheinander bringst. Ist in letzter Zeit etwas müde wie mir scheint.", sagt sie seufzend und streicht sich ihre kurzen, lockigen Fransen aus der Stirn.
"Dann reitest du ihn?"
"Irgendwer musste ja, wo du nicht mehr da warst.", sagt sie achselzuckend und grinst mich leicht verlegen an.
"Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast. Aber diese Woche kann ich ihn dir abnehmen.", brumme ich verhalten und raufe mir beinahe verzweifelt die Haare. Merle sieht mich mit gerunzelter Stirn an, dann fragt sie blinzelnd: "Alles klar bei dir Ian. Oder..."
"Ja. Alles bestens.", würge ich sie ab, "Ich muss mich nur mal wieder hier sehen lassen. Kennst doch die Zwillinge. Die drehen mir den Hals um, wenn ich zu lange weg bin. Na und Mom...", den Rest spreche ich nicht aus. Zucke nur gleichgültig mit der Schulter.
Merle scheint die Lüge nicht zu wittern und lacht belustigt auf.
"Das die kleinen Monster dich überhaupt weglassen...Ich bin sicher, sie zerren dich gleich nach dem Frühstück wieder in den Stall.", sagt sie kichernd, dann legt sie glücklich lächelnd ihre Hand auf meinen Arm.
"Schön dass du wieder da bist. Ohne dich fehlt hier was.", sagt sie recht locker, aber ich spüre wie ernst sie ihre Worte meint und winke achselzuckend ab.
"Ach was. Ihr habt doch jetzt ihn da.", deute ich grinsend auf den neuen Stallhelfer, dessen gespitzte Ohren ich bis hier her sehen kann.
"Ach, mach dir wegen Marc mal keinen Kopf. Der spielt sich ein bisschen auf, dabei ist er gerade mal eine Woche hier.", sagt sie recht laut, damit er es auch hört, bevor sie leise hinzufügt, "Leider kann er echt gut reiten. Ich wüsste sonst keinen vernünftigen Grund, warum dein Vater ihn eingestellt hätte."
Ihre Hand liegt noch immer auf meinem Arm, doch als ich mich den Trensen zuwende lässt sie mich los und reicht mir etwas Putzzeug, mit dem ich zur Box meines Schimmels gehe und die Tür aufschiebe.
"Wo ist eigentlich Steffen?", halte ich sie kurz auf, bevor sie wieder an die Arbeit geht.
"Der kommt heute erst später. Hatte einen Termin beim Arzt. Aber gegen neun wollte er wieder hier sein.
Nickend nehme ich ihre Worte zur Kenntnis und wende mich dann meinem Pferd zu, das sich bei seinem Frühstück nicht stören lässt.
Während ich sein Fell vom Dreck befreie spüre ich, wie mich langsam diese Anspannung verlässt, doch leider drängen sich immer wieder Bilder von Mia in meinen Kopf, die mich wahnsinnig machen.
Weshalb ich dann doch beinahe wütend das Putzzeug wieder wegbringe. Ich greife mir dir Trense von der Boxentür und will den Schimmel auftrensen, doch bin ich so geladen, dass er abrupt seinen Kopf in die Höhe reißt und empört schnaubt.
"Tut mir leid großer.", murmel ich entschuldigend und klopfe seinen Hals, dann streife ich ihm die Trense über, wobei ich diesmal weitaus vorsichtiger vorgehe.
Es tut mir gut, mich mit ihm zu befassen, denn er fordert meine volle Aufmerksamkeit und bringt mich endlich auf andere Gedanken.
Er tänzelt unruhig hin und her, als ich ihn nach draußen führe und mich ohne Sattel auf seinen Rücken schwinge, dann verlasse ich in gemäßigtem Tempo das Gelände.
Noch ist es recht frisch, doch genieße ich die klare, etwas feuchte Luft, die sicher bald von der Sonne in einen Backofen verwandelt wird. Wir haben Sommer und in diesem Jahr strengt er sich wirklich an. Es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht mindestens dreißig Grad sind. Und wenn es nicht so diesig wäre, wäre es wohl auch jetzt schon deutlich wärmer.
In lockerem Trab reite ich einen der Feldwege hinter unserem Hof entlang und genieße die unbeschwerte Ruhe. Über den Wiesen hängt dichter Nebel und taucht alles in ein undurchdringliches grau.
In der Ferne kann ich einige Rehe entdecken und auf einer der Wiesen kommen mir einige Pferde entgegen.
Pelegrino macht einen leichten Schlenker zur Seite, als die Stutenherde mit ihren Fohlen an den Zaun kommen, doch dann trabt er artig weiter.
Auf der linken Seite breitet sich ein kleines Waldstück aus, dass ich durchquere und nach rund einer halben Stunde an einen See komme, an dessen Ufer ich anhalte und absteige.
Pelegrino grast entspannt, während ich mich auf einen umgestürzten Baumstamm setze und meine Gedanken schweifen lasse.
Ich versuche nicht an Mia zu denken, doch ist der Versuch nicht gerade von Erfolg gekrönt. Ihre Zurückweisung schmerzt, doch viel mehr als das macht mich dieses Bild wahnsinnig, dass sich immer wieder in meinen Kopf schleicht.
Sie in Mikes Armen, als er sie in ihren Rollstuhl zurückgetragen hat. Ich meine, ich bin ja froh, dass sie alles versucht, um schnell wieder auf die Beine zu kommen, aber warum musste denn unbedingt dieser Idiot, im für ihn richtigen Moment, zur Stelle sein?! Hätte er nicht zehn Minuten Später oder so auftauchen können? Nachdem ICH Mia in den Armen gehalten hätte.
Doch wer weiß. Vermutlich wäre sie lieber auf dem Boden gelandet, als sich von mir helfen zu lassen.
Nein. Ich denke, es wurde Zeit, dass ich da weg kam. Ich bin sicher, ohne mich wird es ihr besser gehen. Im Grunde bin ich ja froh, dass sie ihre Beine wenigstens spüren kann.
Bei den Verletzungen, die sie bei dem Unfall erlitten hat, hätte es auch anders ausgehen können. Ich mag gar nicht daran denken, aber es hätte durchaus sein können, dass sie hätte im Rollstuhl sitzen müssen.
Gottseidank ist es nicht so gekommen. Und das andere...Ich habe mir doch gewünscht, dass sie aufwacht. Und es war mir egal, was danach ist.
Ich habe mir gewünscht, dass sie lebt. Und das tut sie. Vielleicht ist es einfach meine Strafe, dass sie sich nicht mehr an mich erinnert. Meine Strafe dafür, dass sie wegen mir diesen Unfall hatte.
Traurig lasse ich den Kopf hängen. Höre dem Froschkonzert am Teich und dem Wind zu, der leise durch die Bäume streicht.
Langsam verzieht sich der Nebel und die Sonne erhitzt mit ihren Strahlen die Luft. Doch auch die Mücken werden immer aufdringlicher und beginnen mich zu nerven. Auch der Schimmel scheint genervt zu sein. Immer wieder peitscht er den Schweif hin und her und schüttelt den Kopf.
Doch erst, als er versucht wegzulaufen, stehe ich auf und schwinge mich wieder auf seinen Rücken. Meine Grübelei bringt einfach nichts. Und sie hilft mir auch nicht weiter. Macht mich nur traurig und wütend.
Wütend auf mich, weil ich vor Mia weggelaufen bin. Wütend auf sie, weil sie mich so wegstößt, dabei will ich doch nur helfen. Aber sie macht mich auch wütend auf Mike, weil er, wie es scheint mal wieder alles richtig macht. Er hat es geschafft sie zum Lachen zu bringen, wohingegen sie wegen mir nur schlechte Laune bekommt.
Nein. Ich denke, es ist richtig, dass ich gegangen bin. So schmerzhaft es für mich auch ist. Ohne mich ist sie einfach besser dran.
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5032 Worte
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