12 Von Engeln und Teufeln
Der Abend verstreicht viel zu schnell. Haarklein muss ich Page erzählen, wie der erste Tag war. Peters Stimme, aus dem Hintergrund, kann ich entnehmen, dass er sich nach der Wohnung erkundigt, ob sie irgendwelche Mängel hat.
Typisch mein Vater! Tja und selbst die Fragen der Zwillinge sind nicht zu überhören.
"Ja!", brumme ich grinsend, bevor Page ihre Worte wiederholen kann, "Aber sag ihnen, sie sollen, sich anständig die Finger waschen und nicht so auf den Tasten herumhacken!"
Leicht um mein Erbstück besorgt lehne ich mich, auf meinem Liegestuhl auf der Dachterrasse, zurück und lasse mir gemütlich die Abendsonne auf den bloßen Oberkörper scheinen und warte auf mein Abendbrot.
Langsam sollte meine Pizza aber mal kommen. Denke ich noch, als es auch schon an der Tür klingelt.
Schnell beende ich das Gespräch und mache auf.
"GANZ OBEN!", schreie ich die Treppe nach unten und versuche das hungrige Brummen in meiner Magengegend zu ignorieren. Ich höre die Schritte in gleichmäßigem, lockeren Trab die Treppe herauf sprinten und sehe mich, statt einem Mann mit Wohlfühlbauch, einer vollbusigen, Frau gegenüber. Kurz werden ihre Schritte ungleichmäßig, als sie den Kopf von den Stufen hebt und ihr Blick auf mich fällt.
Ich spüre, wie sie mich ab scannt, doch sieht sie mir recht schnell wieder ins Gesicht und sagt ohne jede Spur von Atemnot oder Verlegenheit: "Sind sie Herr Jähn?", nicken meinerseits. Das Geld habe ich schon parat und nehme den Pizzakarton von ihr entgegen. Ein herrlicher Duft steigt mir in die Nase, den ich nur zu gern in meine Lungen sauge.
"Macht 7,20€.", erklärt sie noch schnell, während sie auch schon beginnt das Wechselgeld heraus zu kramen, doch halte ich sie auf.
"Passt schon. Den Rest können sie behalten."
"Vielen Dank! Und guten Appetit.", lächelnd sieht sie mich an, dann dreht sie sich um und tänzelt die Stufen wieder hinunter. Mein Blick folgt ihr flüchtig, doch dann schließe ich die Tür hinter ihr und ziehe mich mit meiner Pizza auf den Balkon zurück. Das heißt! Ich will mich dorthin zurückziehen, doch ich habe mich kaum umgedreht, da klingelt es erneut an der Tür.
Ob sie was vergessen hat? Wieder drücke ich auf den Summer vor der Tür. Die Videoüberwachung zeigt allerdings Niemanden. Was seltsam ist.
Lässig an den Türrahmen gelehnt warte ich darauf, dass sie wieder auftaucht und rufe schon auf halbem Weg nach unten: "Na? Noch was vergessen?"
Eine Antwort bekomme ich jedoch nicht. Auch dauert es diesmal etwas länger bis sie auftaucht. Schnell wird mir jedoch klar, dass es nicht der Pizzaengel ist, die mich erneut besuchen kommt.
"Hast wohl die Pizza gerochen was?!"
Ich stoße mich vom Türrahmen ab und remple Jason freundschaftlich mit der Schulter an. Er grinst. Auch Mel strahlt übers ganze Gesicht, als ich ihr meine Aufmerksamkeit schenke, doch schnürt sich mir bei ihrem Anblick der Magen zu.
Ihre Umarmung ist voller Wärme. Wie immer. Ihr Blick frei von jeglichen Fragen. Ihre Haut schimmert in einem faszinierendem dunklen Braun, der nur zu deutlich beweist, dass sie gerade aus dem Urlaub kommt.
"Hi Ian.", grüßt sie mich locker und geht an mir vorbei in die Wohnung, "Schön hast du's hier." Sie ist kaum drin. Hat kaum was gesehen, anders als Jason, der sich einfach den Karton mit der Pizza geschnappt hat und selbstbewusst durch meine Wohnung tigert.
"Geiler Balkon!", kann ich ihn von draußen rufen hören, während ich seiner Freundin den Weg weise. Dieser ist zwar nicht zu übersehen...die Wohnung ist ja nun wirklich nicht gigantisch... doch hat sie deutlich bessere Manieren als mein Freund.
Draußen angekommen, steht Jason mit meiner Pizza im Mund an der Brüstung und schaut sich begeistert um.
"Hier werden wir definitiv eine Grillparty schmeißen!", verkündet er kauend und dreht sich zu mir um, "Hast du eine vernünftige Soundanlage?", will er wissen.
Als ich darauf den Kopf schüttel, mich mit einem Stück Pizza wieder auf meinen Stuhl sinken lasse überlegt er kurz, schluckt und macht dann eine abwinkende Geste.
"Macht nichts. Ich besorg dir eine! Und ne XBOX muss ja wohl auch her! Nicht mal richtig was zum Zocken hast du hier! Oder hast du die in einem deiner scheiß Schränke versteckt?", will er wissen und setzt sich neben Mel auf einen Stuhl. Zieht sie kurzerhand auf seinen Schoß und legt ihr die Arme um die Hüften.
"Willst du auch?", biete ich der rothaarigen Schönheit ein Stück von der Pizza an, das sie verlegen lächelnd ablehnt. Dann beantworte ich Jasons Frage mit einem "Nein."
Nach einem empörten Blick und der Zusicherung, dass er das ändern würde, wird der Abend dann doch noch ganz nett.
Ich hatte zwar befürchtet, dass Mel die ganze Zeit über Mia reden würde, doch fällt ihr Name kein einziges Mal.
Und so entspanne ich mich immer mehr, bis die zwei kurz vor elf wieder verschwinden. Nicht jedoch ohne Zeit und Ort...wobei der Ort wohl für mich klar sein sollte! ...meiner Grillparty vorgegeben bekommen zu haben.
"Das wird geil! Dann bis Samstag.", begeistert von seinem Plan schlägt Jason mir auf den Rücken, bevor ich mich von Mel verabschiede, "Party! 22.00Uhr auf deinem Dach!", wiederholt er seine Worte. Als hätte ich sie nicht gehört. Doch bin ich mir sicher, dass selbst meine Nachbarin es gehört haben muss, so laut, wie er es vom Dach geschrien hat.
Mit der Zusicherung, das ich ja nicht Taub bin, ich für das Fleisch sorgen würde, wenn er die Getränke mitbringt, lassen mich die Beiden schließlich allein. Todmüde sinke ich dann nur noch ins Bett und schließe die Augen.
Es war ein langer Tag. Mit vielen neuen Eindrücken und belastenden Gefühlen, die mich auch in meinen Träumen nicht wirklich loslassen.
Immer wieder läuft mir Mia in leeren Krankenhausgängen über den Weg. Fährt mich in Fahrstühlen über den Haufen oder springt mir an die Gurgel. In einem ganz verwegenen Traum steht sie aus ihrem Rolli auf und fällt mir um den Hals. Das, was sie mir ins Ohrflüstert, bekomme ich jedoch nicht mehr mit, da mich mein beschissener Wecker aus dem Schlaft reiß.
"Klappe!", fauche ich das Teil an und knalle meine Hand verschlafen auf den Knopf, bevor ich mich schlaftrunken ins Bad schleppe.
Auf dem Weg zur Uni, mal wieder fahre ich mit dem Auto, dabei wollte ich dieses eigentlich ja stehen lassen, besorge ich mir in der gleichen Bäckerei wie gestern ein Brötchen und einen Energie Drink. Das Zeug ist zwar widerlich süß, doch befürchte ich, dass ich den Tag ansonsten nicht überstehen werde. Ich bin hundemüde! Warum auch immer.
Die Vorlesungen sind wenn möglich noch anstrengender als am Tag davor. Nur Kiran sitzt unbeteiligt auf seinem Platz und quatscht auf Liandra ein, die ihn kurz vor Ende der Stunde ungehalten anfährt.
"Halt doch mal die Klappe! Ich habe nicht vor, diesen Kurs zu wiederholen! Anders, als andere Leute, die sich scheinbar nichts besseres vorstellen können, als das erste Semester immer und immer wieder zu machen!"
Ihre Stimme ist genervt. Ebenso ihr Gesichtsausdruck. Doch lässt sich der langhaarige Typ von ihren nicht beeindrucken.
Gespielt getroffen fasst er sich an die Brust und mimt den Schwerverletzten, was das Mädel zwischen uns seufzend die Augen verdrehen lässt. Dann schreibt sie was auf ihren Block, was uns Professor Winkler gerade erzählt. Scheinbar sitzt sie heute auf ihren Ohren, denn sie lässt Kiran ungerührt vor sich hin flüstern.
Wir sitzen in etwa Mittig, doch obwohl ich Ricardo mit Blicken versucht habe zu uns einzuladen, zog er es vor, sich in die erste Reihe zu setzten. Wie es aussieht scheint er kein Interesse daran zu haben, sich mit uns, beziehungsweise sonst jemandem anzufreunden.
Stur schaut er nach vorne und scheint der Vorlesung zu lauschen, doch auch in den Pausen geht er jeder Annäherung aus dem Weg.
Der Idiot, der ihn gestern jedoch als mein Haustier bezeichnet hat baut sich nach der ersten Stunde breitschultrig vor ihm auf und drängt ihn leicht an die Wand zurück. Allerdings nur bildlich gesprochen, denn er fasst ihn nicht an. Irgendwas scheint er mit ihm zu besprechen, woraufhin Ricardo schließlich das Weite sucht. In der Nächsten Vorlesung fehlt er dann auch prompt, was mich stutzig macht.
"Was hast du zu ihm gesagt?", stelle ich den großkotzigen Chirurgen in Spee nach dem Block zur Rede, doch lässt er mich auflaufen.
"Redest du von dem Breitmaulfrosch?" Er scheint sofort zu wissen, wovon ich rede, doch wird das Grinsen in seinem Gesicht nur breiter als ich nicke, "Geht dich gar nichts an!" Ist jedoch alles, was ich von ihm zu hören bekomme, bevor er sich locker von der Wand abstößt und zur nächsten Vorlesung geht.
Diese Woche haben wir noch alle die gleichen Kurse. Erst ab der Nächsten haben wir dann die freie Wahl, wie wir unsere Stunden legen. Welche Kurse wir besuchen und welche nicht. Doch wurden uns einige, schon jetzt, von gleich mehreren Seiten ans Herz gelegt.
Nicht zuletzt von Kiran, der seine Meinung zu den Professoren zum Besten gibt. Ich kann nur hoffen, dass dieser Pisser möglichst viele Vorlesungen wählt, die ich nicht habe, denn schon jetzt habe ich eine gewaltige Abneigung gegen ihn. Also nicht gegen Kiran!
Muskelprotze und Idioten im Allgemeinen konnte ich noch nie leiden und dieses durchtrainierte Unterwäschemodel scheint leider beides zu sein! Muskelprotz und Idiot! Das er modelt konnte ich leider nicht überhören, als er es im Vorbeigehen zwei unserer Kommilitoninnen erzählt hat, die wie zwei quietschende Teenager an seinen Lippen klebten.
Das Klischee passt nur auf eine der beiden, doch die andere ist brünett. Schlank und sportlich. Etwas zu billig angezogen sind allerdings beide. Zu stark geschminkt ebenso. Da haben sich wohl zwei gefunden; schießt es mir kurzfristig durch den Kopf, als ich sehe, wie sie...ich glaube er heißt Jean-Paul...sowieso... mit klimpernden Augen anschauen.
Voller Unverständnis über so viel charakterliche Blindheit betrete ich den nächsten und für heute auch letzten Vorlesungssahl und stutze kurz, als ich Ricardo mal wieder in der ersten Reihe sitzen sehe.
Kurz kreuzen sich unsere Blicke, dann dreht er sich demonstrativ von mir weg und starrt nach vorne auf die Leinwand, die noch in reinstem Weiß erstrahlt. Es ist nicht einmal ein Professor anwesend, doch scheint er sich nichts schöneres vorstellen zu können, als auf diesen Fleck zu schauen und so steige ich zu meinen derzeit "neuen" Freunden nach hinten und lasse mich mit nachdenklicher Mine neben ihnen nieder.
Unbeteiligt höre ich den beiden zu, wie sie sich kabbeln. Mal wieder. Und hänge meinen Gedanken nach, bis mir Kiran schmerzhaft den Ellenbogen ins Gesicht haut.
"Scheiße! Tut mir leid!", entschuldigt er sich eilig. Setzt sich dann lachend auf seinen Platz neben mir zurück
"Man!", fauche ich mit schmerzverzerrtem Gesicht, "Sucht euch doch ein Zimmer! Und treibt es nicht hier vor allen Leuten!"
Liandra plustert sich empört auf, fragt dann aber nur belustigt: "Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?"
An Kiran vorbei stupst sie mich an und folgt meinem Blick, der noch immer auf Ricardo liegt.
"Was hast du eigentlich mit dem Kleinen? Hat er dir was getan?"
"Was? Wieso?", frage ich verwirrt und wende ihr jetzt doch meine ganze Aufmerksamkeit zu. Skeptisch hebt sich ihre wohlgeformte Augenbraue, als sie meint: "Du starrst ihn die ganze Zeit an, als würdest du ihn umbringen wollen."
Gleichgültig, als würde sie meinen...mach, wenn es dich glücklich macht... zuckt sie mit den Schultern, doch versichere ich ihr, das ich nichts dergleichen im Sinn habe. Da ich jedoch selbst nicht weiß, warum Ricardo mich so nachdenklich macht, wende ich mich demonstrativ einer anderen Richtung zu. Leider Gottes sitzt dort Jean-Paul ...wie auch immer... und hat in je einem Arm eines der Mädchen. Auch dieser Anblick lässt meine Laune nicht gerade steigen und so beginne ich mit den Finger auf den Tisch zu trommeln, was mich tatsächlich etwas beruhigt. Wie von allein fliegen sie in einem Takt über das Holz, der mich in eine verträumte Stimmung versetzt.
"Was machst du eigentlich dieses Wochenende?"
Kiran rempelt mich an und wiederholt seine Worte.
"Wann?"
"Na dieses Wochenende. Am Samstag. Kommst du mit? Wir wollen unsere erste Woche gebührend feiern.", schlägt er vor und deutet auf Liandra und ein zwei Andere im Raum, die ich noch nicht kenne.
"Da bin ich zu hause. Grillparty.", sage ich noch immer in Gedanken vertieft und mit einem wohligen Gefühl in der Brust.
"Und das sagst du erst jetzt?! Da kommen wir natürlich auch!", lädt er sich kurzerhand ein. Auf meinen Einwand, dass ich nicht so viel Platz habe, geht er gar nicht ein. Und um noch lange zu wiedersprechen, fehlt mir die Zeit, denn Professor Sontner betritt mit hochrotem Kopf und einer Laune, die schon jetzt irgendwo im Untergeschoss zu finden ist, den Saal.
In dem Moment, wo die Tür donnernd hinter ihm zufällt herrscht Stille. Sein Blick schweift wie von allein zu uns und fixiert uns drohend.
Jupp! Denke ich nur! Hier habe ich einen Freund auf Lebenszeit! Oder zumindest für die Studienzeit! Seufzend verdrehe ich die Augen und konzentriere mich die nächsten eineinhalb Stunden nur auf ihn. Wie jeder im Raum. Nur Ricardo scheint ab und an abzuschweifen.
Der Sontner bombardiert uns mit allen möglichen Zetteln und Folien, die so schnell wieder verschwinden, wie sie Aufgetaucht sind. Ich habe Mühe, sie auch nur zu überfliegen, da sind sie schon wieder weg. Und so versuche ich es nach der zwanzigsten nicht einmal mehr und nehme mir vor mir im Anschluss an die Vorlesung die Unterlagen im Sekretariat abzuholen.
Was anderes bleibt mir wohl nicht übrig. Doch trotz meines verzweifelten Versuchs, jedes Wort dieses aufgeblasenen Zettelschwingers aufzusaugen, entgeht mir nicht, wie Ricardo nur einen Blick auf die Zettel wirft und sich dann wieder seinem Block zuwendet.
Das einzige, was mir dazu einfällt, ist, das er, wie ich aufgegeben haben muss, die Zettel zu studieren. Auch Kiran lehnt sich zurück und lauscht mit ruhigem Atem den Worten des Mannes. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er würde versuchen sich zu Hypnotisieren. Wobei...vielleicht gelingt es ihm ja sogar. Ich würde mich nicht wundern.
Doch nach geschlagenen eineinhalb Stunden haben wir es endlich geschafft. Liandra rauft sich verzweifelt die Haare, stupst Kiran an, der Herzhaft gähnt und zwängt sich dann an ihm Vorbei.
"Wo willst du denn so schnell hin?", ruft er ihr nach, bevor er seine Tasche nimmt, die er nicht einmal ausgepackt hat.
"Ich hab noch was vor!", ruft sie winkend zurück, "Bis morgen!" und dann ist sie weg. Auch Kiran steht auf und verlässt den Saal.
Vor der Tür wartet er auf mich.
"Kannst du mich heute mit zur Klinik nehmen?", fragt er gelassen, was mich zum Grinsen bringt.
"Was?!", frage ich entsetzt. Zumindest tue ich so. "Was ist denn mit deiner geliebten 'Rosa'? Wird sie nicht eifersüchtig?"
Lachend fahre ich mir durch die Haare und gehe zügig Richtung Sekretariat, wo ich mir und auch Kiran die Zettel des Unterrichts besorge. Während wir gehen erklärt er mir ehrlich besorgt, dass sein Baby einen Anflug von Altersschwäche hat. Und er nicht weiß, wann sie aus dem 'Krankenhaus' zurück ist. Was wohl so viel heißt, dass sein Auto den Geist aufgegeben hat und in der Werkstatt ist.
Und so sitzen wir wenig später in meinem Sportwagen auf dem Weg zur Uniklinik.
"Nicht übel dein fahrbarer Untersatz!", versichert er mir begeistert, als wir ausgestiegen sind und mit dem Fahrstuhl in den Keller fahren, wo wir uns unsere Arbeitskleidung besorgen. Es hat schon etwas für sich jemanden zu kennen, der sich auskennt, sonst wäre ich wohl trotz massig Zeit zu spät gekommen.
Der Keller ist ein Wirrwarr aus Gängen, in dem Kiran sich prächtig auszukennen scheint. Zielstrebig leitet er mich durch Türen, Gänge, Passagen und Räume, bis wir schließlich vollbeladen wieder im Fahrstuhl stehen.
Während der ganzen Zeit ist Kiran am reden. Er macht es mir leicht, nicht zuviel nachzudenken, was mir geradezu gelegen kommt. Und erst, als ich ihm nachsehe, wie er im Erdgeschoss den Fahrstuhl verlässt, setzt dieses unangenehme Flattern in meiner Magengegend wieder ein. Es wird noch schlimmer, als sich der Fahrstuhl nach oben in Bewegung setzt.
Die zweite Etage zieht Ereignislos an mir vorbei. Also wenn man mal davon absieht, dass ich gleich einen Herzkasper kriege, aber bis auf, dass der Fahrstuhl hält, einige Menschen ein und aus steigen passiert nichts Weltbewegendes.
Erst als ich mit meinem Stapel weißer Wäsche die Gynäkologie betrete, werde ich aus meiner verzweifelten Anspannung gerissen.
Die Tür in meinem Rücken ist noch nicht einmal ganz geschlossen, als die keifende Stimme von Schwester Nicole meine Trommelfelle zerreißt.
"Sie!" Mit energischen Schritten rast sie auf mich zu und blickt an mir auf und ab. Nimmt meine noch immer verfärbte Wange zur Kenntnis und stößt dann einen missbilligenden Laut aus. "Warum sind sie noch nicht umgezogen!!" Ich versuche mich an einer Antwort, immerhin ist es erstens noch viertel vor drei und zweitens bin ich gerade erst gekommen, da fährt sie mir auch schon über den Mund.
"Sparen sie sich ihre fadenscheinigen Ausreden! Umziehen!", befiehlt sie und deutet auf eine Tür mit der Aufschrift 'Personal', dann fügt sie gehetzt hinzu: "In drei Minuten melden sie sich dann bei mir im Schwersternzimmer!" Auf dem Absatz macht sie kehrt und lässt mich sprachlos zurück.
Ich glaube ich brauche fast eine Minute, bis ich diesen Wirbelsturm verdaut habe und mich abwenden kann, doch dann sehe ich zu, dass ich fertig werde.
Zum umziehen brauche ich nicht lange und lege meine Sachen einfach in einen der Schränke, der leer aussieht und mache mich dann zu ihr auf den Weg.
Vor dem Schwesternzimmer treffe ich eine meiner 'Kolleginnen', die mich zwar freundlich anlächelt und mir im vorbeigehen erzählt, das sie Ali-ce, nicht Alice heißt, ansonsten aber keine Zeit zu haben scheint. Und so gehe ich leicht nervös weiter. Komme jedoch nicht weit. Erschreckt weiche ich zurück, als die Oberschwerster wie ein Schachtelteufel aus ihrem Büro gestürmt kommt und mir befiehlt mitzukommen.
Von ihrer unfreundlichen Art überfahren dackele ich ihr hinterher, wobei ich beinahe renne, und werde von ihr in einen Raum dirigiert. Geschubst hätte auch gepasst, doch...ach ist ja auch egal...nun bin ich drin.
Vor mir ein Bett. Darin eine Frau. Daneben ein Mann. Er hält ihre Hand. Ihr Gesicht ist von Schweiß bedeckt, ihre Atmung unregelmäßig. Der deutlich gerundete Bauch ist mit Kabeln an ein Gerät angeschlossen, das ich für einen Wehenschreiber halte.
Ich hätte Frau Fröhlich ja gefragt, was genau ich hier tun soll, doch hat sie die Tür bereits hinter mir wieder geschlossen und ist gegangen.
Wirklich nett die Frau denke ich sarkastisch und nähere mich mit, wie ich hoffe zuversichtlichem Lächeln den beiden Menschen, in diesem Raum.
"Hallo.", grüße ich den Mann und nehme seine Hand entgegen, die er mir reicht und stelle mich vor. Wobei ich nicht verschweige, das heute mein erster Tag ist. Er lächelt gutmütig. Scheint sogar irgendwie erleichtert zu sein. Zumindest kommt es mir so vor.
"Jack und meine Frau heißt Giulia.", teilt er mir freundlich mit, bevor sich sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzieht.
"Schon wieder?", presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und streichelt Giulia über die Schulter.
Völlig überfordert, hilflos aber auch fasziniert stehe ich da. Lausche dem angespannten Atem von Giulia und kann den Blick nicht von dem Apparat wenden, der die Wehen aufschreibt.
Erst als leises Stöhnen, das schnell zu einem lauten Schrei mutiert, den Raum erfüllt, wende ich meine volle Aufmerksamkeit wieder den werdenden Eltern zu.
Hilflos wirft Jack mir einen Blick zu. Er sieht vollkommen fertig aus. So, als würde nicht nur seine Frau von den Schmerzen gequält, sondern auch er. Es ist, als würde ich neben mir stehen. Ich nehme die Situation in mich auf und bin nur froh, dass Mi...das nicht ich an seiner Stelle bin. Und das Giulia nicht die Frau ist, die ich liebe.
Ich kann nur zu gut verstehen, was er fühlt. Helfen kann ich ihm oder ihr jedoch nicht. Schwerster Giftzahn, die bei Giulias nächstem, langgezogenen Schrei in den Raum gestürmt kommt jedoch auch nicht.
"Jetzt schreien sie hier mal nicht so rum!", fährt sie Giulia an, der schon jetzt Tränen über die Wangen rollen. Sie kontrolliert flüchtig den Wehenschreiber und ist im nächsten Moment auch schon wieder verschwunden und lässt zwei vollkommen fassungslose Menschen zurück!
Und ich meine nicht Giulia, die krampfhaft damit beschäftigt ist nicht zu schreien, sondern Jack und mich.
Ich kann ihn nur ansehen. Sprachlos. Nehme Giulias Hand, die sie mir schluchzend entgegen streckt und muss nun am eigenen Leib erfahren, was sie gerade durchmacht.
Als die Wehe langsam nachlässt, fühlt sich meine Hand an wie Brei. Vollkommen zermatscht lässt sie sie los und fällt erschöpft in die Kissen zurück. Ihre tiefen Atemzüge sind trügerisch. Ich weiß, dass dies nicht die letzte Anstrengung für sie gewesen ist und auch sie scheint dies zu wissen, als sie mit heiserer und inbrünstiger Stimme verlangt: "Bekommen sie bloß keine Kinder!"
Okay! In anbetracht ihrer derzeitigen Situation gehe ich mal davon aus, dass sie wohl meint, dass ich nicht Vater werden soll, um meiner 'Frau in Spee' diese Schmerzen zu ersparen, doch weiß ich nicht, ob ich ihr diesen Wunsch erfüllen kann.
Ich liebe Kinder! Ganz gleich ob groß oder klein. Und ich bin mir sicher...eines Tages muss meine Frau wohl diese Schmerzen ertragen. Weshalb ich sie nur zuversichtlich anlächele.
Einen Moment herrscht entspanntes Schweigen, in der sie sich erholt, dann bittet sie um ein Glas Wasser, das ich ihr nur zu gerne reiche. So kann ich wenigstens IRGENDETWAS tun und stehe nicht vollkommen sinnlos in der Gegen herum. Als nächstes reicht Jack mir einen Waschlappen, den ich mit kühlem Wasser tränke.
Zärtlich wischt er ihr damit über die Stirn und den Hals. Er tut wirklich alles um ihr zu helfen. Die nächste Welle, die jedoch schon bald auf sie zurollt kann auch er nicht aufhalten.
Wieder beginnt Giulia zu Stöhnen. Wird lauter und lauter, bis ihr schmerzerfüllter Schrei das Zimmer flutet. Und wieder geht die Tür auf. Ich fürchte schon, Schwester Giftzahn kommt zurück, als ich in das freundlich lächelnde Gesicht von Schwester Alice blicke. Ruhig kommt sie auf uns zu. Plaudert locker mit Giulia und beginnt ruhig mit ihr zu Atmen, was ihre Schreie verstummen lässt.
Sie hat nicht viel Zeit. Entschuldigt sich gleich nachdem die Wehe vorbei ist und huscht aus dem Raum.
So sollte eine Schwester oder Hebamme sein, denn dass Alice eine solche ist, hast sie mich kurzerhand aufgeklärt, doch schon bei der nächsten Wehe hat Giulia Alices Worte vergessen, weshalb ich sie ihr unsicher ins Gedächtnis rufe.
Jack schaut mich nur dankbar an, als ich mit ruhiger Stimme sage: "Durch die Nase einatmen.", ich mache es ihr vor. Halte ihren Blick fest und warte darauf, dass sie mich nachahmt, dann spreche ich weiter, "Und durch den Mund aus. Ein...Aus...", wiederhole ich leise und bin erstaunt, das Giulia tut, was ich sage.
Sie konzentriert sich auf mich. Vergisst den Schmerz und obwohl ich mir jetzt nicht mehr so nutzlos vorkomme bin ich regelrecht erleichtert, als Alice zurückkommt. Diesmal bleibt sie. Und ich denke schon, dass sie mich jetzt aus dem Raum schicken wird, als sie beginnt Giulia zu untersuchen, doch sie tut es nicht.
Rücksichtsvoll ziehe ich mich etwas zurück. Gebe dem Paar Raum mit sich allein zu sein und setzte mich auf einen Stuhl an die Seite. Alice verlässt kurz den Raum, kommt aber schon bald wieder. Sie bereitet alles Mögliche vor.
Kramt aus Schubladen, Handschuhe hervor. Nadeln, ein Skalpell, Handtücher, eine wasserdichte Unterlage und noch weitere Sachen, die ich nur am Rande wahrnehme. Und jedes Mal, wenn die werdende Mutter wieder von einer Wehe überrollt wird unterbricht sie ihr tun und nimmt sich Zeit für sie.
So! Denke ich sollte eine Oberschwester handeln und nicht wie die Furie, die sich 'Fröhlich' nennt.
Wieder untersucht sie sie und jetzt fordert sie Giulia auf, zu pressen und mich, auf einen Knopf an der Wand zu drücken.
Es dauert nicht lange und das Zimmer ist um einen Mann reicher. Dr. Drea kommt zur Geburt und schon bald erblickt Kjell-Noah das Licht der Welt.
Es ist überwältigend. Selbst für mich, und das, obwohl ich nur als unbeteiligter Zuschauer im Raum bin.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit dem Augenblick, an dem mich Schwester Nicole in diesen Raum geschickt hat, doch als ich dem Fenster in meinem Rücken einen Blick zuwerfe, stelle ich erstaunt fest, dass es draußen bereits dunkel geworden ist.
Der U1 folge ich interessiert, auch dem Messen und Wiegen. Lausche den Erklärungen der Hebamme ebenso wie Jack. Er kann den Blick nicht von dem Kleinen wenden, der laut seinen Protest herausschreit, als der Kinderatzt zur Untersuchung kommt.
Als Kjell jedoch warm verpackt in den Armen seiner Mutter liegt herrscht einträchtige Ruhe und wir lassen die frisch gebackenen Eltern allein.
Ich komme jedoch nicht umhin mir einen Haufen von 'Dankes' anhören zu müssen, die ich aus meiner Sicht nicht verdient habe.
"Ich habe doch gar nichts gemacht!", wiederhole ich immer wieder, bis ich ein Einsehen habe. Mein anhaltender Protest, der deutlich leiser als der Kjells ist, wird schlicht vom Tisch gewischt und so ziehe ich mich schließlich zurück ohne weiter zu wiedersprechen.
Der Tag war lang. So lang wie das Gesicht, das mich im Schwesternzimmer erwartet.
"Was machen sie denn noch hier?!", will Nicole Fröhlich mit einem donnergrummeln in der Stimme wissen. Sie klingt erschöpft. Ihre Augen sind es auch. Die Worte, mit denen sie durchblicken lässt, dass der Tag scheiße war sind niederschmetternd. Notkaiserschnitt, eine Schwester ist krank geworden und zu allem Unglück wurde im Zimmer, neben dem von Jack und Giulia, ein totes Kind geboren. Ein Mädchen, wie sie mir erzählt, bevor sie mich auch schon mit strenger Stimme ermahnt Stillschweigen darüber zu bewahren.
Als würde ich so etwas weitererzählen!
Nur ein gutes hatte dieser Anstrengende und lange Tag!
Ich habe nicht eine Sekunde an Mia gedacht. Auch nicht, als ich in meiner kurzen Hose und T-Shirt das Krankenhaus verlasse. Meine Beine tragen mich ganz von allein zu meinem Auto. Die Räder rollen wie von selbst zu meiner Wohnung und es kommt mir vor, als würden sich meine Augen ohne Zutun schließen, kaum dass mein Kopf das Kissen berührt.
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4310 Worte
2.7.17
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