Kapitel 6
Knapp fünfzehn Minuten später saß Dean in einem Krankenwagen und fuhr in schnellem Tempo die Kentucky Street entlang.
Zum Glück war alles wahnsinnig schnell gegangen. Er hatte Castiel ins Krankenzimmer gebracht, der Arzt dort hatte einen Krankenwagen gerufen und Dean, den sie für einen Freund gehalten hatten, war gebeten worden, mitzukommen.
Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, seinen Vater zu informieren, dass er Sammy nach der Schule nicht würde nach Hause fahren können. Das würde er nachher erledigen müssen. Im Moment jedoch saß er nur stocksteif auf dem kleinen Sitz an der Innenwand des Krankenwagens und sah auf den ohnmächtigen Castiel hinab, der auf die Liege gebunden war und noch blasser aussah als sonst.
Kein Wunder, Dean konnte förmlich sehen, wie Castiels dunkelblauer Strickpullover sich im Bauchbereich immer dunkler färbte. Er wusste, dass er es sich nur einbildete, das erste, was die Ärzte vom Krankenhaus getan hatten, als sie angekommen waren, war, Castiels Blutung vorerst zu stoppen.
Dennoch sah Dean immer noch den blutdurchtränkten Hausverband vor sich und der Blutfleck auf Castiels Shirt an der Stelle, an der die rote Flüssigkeit langsam durchgesickert war, erschien ihm immer noch bedrohlich.
Der Weg zum Lawrence Memorial Hospital war nun wirklich nicht weit, und so konnte Dean schon nach wenigen Minuten aus der drückenden Enge und Stille des Krankenwagens entweichen. Vorsichtig folgte er der jungen Ärztin die mit ihm hinten gesessen hatte aus dem Wagen und sah von dort aus zu, wie Castiel ins Krankenhaus geschoben wurde.
Er wusste nicht recht, was er tun sollte und so stand er einfach neben dem Wagen, starrte ziellos umher. Sollte er einfach gehen? Wohl kaum, wenn sie ihn schon mitgenommen hatten.
Aber war es richtig für ihn, hier zu sein? Er war nicht mit Castiel befreundet, hatte in den letzten paar Wochen kein einziges Wort mit ihm gewechselt und kannte ihn eigentlich gar nicht.
Mit welchem Recht blieb er hier?
"Halte das bitte mal fest", die junge Ärztin drückte ihm Castiels Schultasche in die Hand, dann musterte sie ihn kurz, "Das Wartezimmer für Angehörige befindet sich im Erdgeschoss rechts, bitte warte dort."
Dean wollte protestieren, dass er kein Angehöriger sei und wieder in die Schule müsse, überlegte es sich dann aber anders. Er wollte wissen, was hier eigentlich los war, wie es Castiel ging und weshalb er überhaupt eine Wunde gehabt hatte, und wenn er für einen engen Freund gehalten wurde, war das seine beste Chance an Informationen zu kommen oder sich später vielleicht sogar mit Castiel unterhalten zu dürfen.
Also nickte er nur und schulterte Castiels Tasche, als er zum Eingang des Krankenhauses ging und sich in das Wartezimmer setzte, das sich tatsächlich rechts neben dem Empfangsbereich befand.
Er war hier noch nie gewesen. In seiner Familie war es üblich, kleinere Verletzungen selbst zu behandelt. Eine größere Schnittwunde, ein verstauchter Knöchel oder ein gebrochener Finger war nichts, was sein Vater nicht wieder selbst richten konnte. Zumindest sah er das so.
Entsprechend war es das erste Mal, dass Dean ein Krankenhaus betreten hatte, einmal abgesehen vermutlich von seiner Geburt.
Die Plastikstühle im Wartezimmer waren hart und kalt, die hellgrauen Wände trostlos und die Klatschmagazine, die neben Deans Stuhl auf einem kleinen Tischchen lagen, langweilig.
Er schielte auf Castiels Rucksack, den er auf seinem Schoß deponiert hatte, hinab.
Er konnte nicht leugnen, dass der Gedanke, sich ein wenig darin umzuschauen, verlockend war. Vielleicht würde er dann endlich mal etwas über seinen Sitznachbarn erfahren. Bisher wusste er schließlich nichts. Er könnte es einfach als Dank dafür sehen, dass er Castiel gefunden hatte, nur, dass Letzterer eben nichts von diesem Dank wusste. Was war schon dabei? Also, abgesehen davon, dass er in Castiels Privatsphäre eindrang.
Fast schon verstohlen sah er sich im Wartezimmer um in dem außer ihm nur ein älterer Mann mit leerem Blick saß, ein vielleicht zehnjähriger Junge mit seinem Vater und eine Frau mittleren Alters die in einer Zeitschrift blätterte.
Es gab eigentlich keinen Grund, sich Gedanken zu machen, erstens schienen diese Leute alle mit sich selbst beschäftigt und zweitens hatten sie keine Ahnung, dass diese Schultasche nicht ihm gehörte.
Also gut, wenn er schon einmal hier war, würde er seinen Vorteil daraus ziehen. Der Entschluss war gefasst und er entschied sich dafür, zuerst einmal das vordere Fach zu öffnen.
Was er darin fand war zwar genau das, was er erwartet hatte, aber dennoch eine Enttäuschung: Eine Geldbörse, eine Busfahrkarte und ein Notizzettel mit einer Telefonnummer, bei der nicht stand, zu wem sie gehörte. Außerdem ein Smartphone, das zu Deans Enttäuschung jedoch gesperrt war und nur einen neutralen Bildschirmhintergrund hatte. Nichts Besonderes war dabei.
Er steckte das Handy wieder zu dem Rest in die Tasche, schloss das kleine Fach und öffnete dann das größere. Darin befanden sich, wie er auf den ersten Blick feststellen konnte, zwei Schulbücher, ein Block, ein Notizbuch, ein Federmäppchen und ein weiteres Buch mit schwarzem Einband. Vorsichtig zog er es hinaus, nur um festzustellen, dass es sich um eine Bibel handelte, in der verschiedene Seiten mit Post-Its markiert waren. Wahllos schlug Dean eine der markierten Seiten auf und kniff angesichts der winzigen Schrift die Augen zusammen.
Levitikus, Kapitel 18 stand oben an der Seite in noch kleinerer Schrift vermerkt als der Rest.
Dean hatte sich noch nie wirklich für Religion interessiert, für ihn war das alles kompletter Mist. Seine Mutter war gläubig, jedoch zwang sie das ihren Söhnen zum Glück nicht auf. Dean hob das Buch dennoch etwas höher, schließlich hatte Castiel die Seite sicher nicht ohne Grund markiert.
Der Herr sprach zu Mose: Rede zu den Israeliten und sag zu ihnen: Ich bin der Herr, euer Gott. Ihr sollt nicht tun, was man in Ägypten tut, wo ihr gewohnt habt; ihr sollt nicht tun, was man in Kanaan tut, wohin ich euch führe. Ihre Bräuche sollt ihr nicht befolgen. Meine Vorschriften sollt ihr einhalten und meine Satzungen sollt ihr beachten und befolgen. Ich bin der Herr, euer Gott.Ihr sollt auf meine Satzungen und meine Vorschriften achten. Wer sie einhält, wird durch sie leben. Ich bin der Herr.
Dean brach ab und klappte das Buch wieder zu, stopfte es zurück in die Tasche. Nichts Interessantes, nur irgendeine Bibelstelle. Himmel, was musste Castiel für ein Fanatiker sein, dass er in dem Buch auch noch Stellen markierte, die er scheinbar besonders gerne las.
Er schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich dem Notizbuch zu, in dem aber sehr zu seiner Enttäuschung lediglich organisatorische Kleinigkeiten für die Schule niedergeschrieben waren.
Bei dem zweiten Block hatte er nicht mehr Glück, und auch im Mäppchen befand sich nichts Aussagekräftiges. Gut, nun wusste er, dass Castiel offensichtlich an seinen Stiften kaute, aber sonst war er um kein Stück schlauer.
Er entschloss sich, tiefer in der Tasche zu graben, und tatsächlich, das brachte ihm sowohl einen irritierten Blick des alten Mannes ein, als auch zwei weitere Kleinigkeiten zum Vorschein:
Eine fast leere Dose mit Pillen, Schmerzmitteln wie das Etikett ihm verriet. Das erklärte wohl, dass Castiel den ganzen Tag über so benebelt gewirkt hatte, er hatte vermutlich haufenweise Schmerzmittel gegen die Verletzung intus. Warum der Idiot nicht gleich ins Krankenhaus gefahren war und sich stattdessen in die Schule geschleppt hatte ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, war ihm ein Rätsel.
Der zweite Gegenstand war prinzipiell gesehen weit unspektakulärer, dennoch überraschte dieser Fund Dean wohl am meisten. Es war nur ein Stück Papier, und Dean fiel es zuerst schwer, zu erkennen, was es war, es war ramponiert und es sah nicht so aus, als wisse Castiel überhaupt, dass es in seiner Schultasche war.
Dean glättete das Foto, versuchte etwas darauf zu erkennen, und tatsächlich, trotz der eingerissenen Seiten und obwohl die Farben verblichen waren, war er sich ziemlich sicher, auf dem Bild Castiel zu sehen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, mit deutlich helleren Haaren, aber dennoch gut zu erkennen. Hinter ihm in der Hocke war ein älterer Junge, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, sofern Dean das richtig erkannte.
Er musste lächeln bei dem Gedanken, dass bei ihnen auf dem Kamin ein ähnliches Bild von ihm und Sam stand.
Dennoch, in Dean machte sich das ungute Gefühl breit, zu weit in Castiels Privatsphäre vorgedrungen zu sein, vielleicht hätte er den Rucksack doch nicht durchsuchen sollen. Er hatte nichts allzu Privates gefunden, nichts, was Castiel ihm nicht gesagt hätte, hätte er ihn direkt danach gefragt, ob er gläubig war, ob er Bus fuhr, ob er Geschwister habe. Dennoch gehörte es sich nicht, und Dean fühlte sich überraschend schuldig.
Schnell schloss er den Reisverschluss des Schulrucksacks, vergewisserte sich, dass er nichts vergessen hatte, hineinzuräumen, und setzte sich dann noch ein Stück aufrechter hin.
Er schrieb eine schnelle Nachricht an seinen Vater in der er erklärte, wo er war und weshalb, danach verfiel er darin, immer wieder die Uhrzeit zu überprüfen, ansonsten aber nur ins Leere zu starren.
Es verging nicht viel Zeit, aber Dean kam es wie eine langweilige Ewigkeit vor, bis eine Krankenschwester ihm sagte, sein 'Freund' sei bei Bewusstsein und habe nach ihm gefragt.
Selten bisher war Dean so schnell von seinem Stuhl aufgesprungen und einer Autoritätsperson gefolgt.
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Ja, schon wieder mehr als eine Woche, obwohl ich vorhatte, schon unter der Woche das Kapitel hochzuladen. Allerdings war ich unzufrieden und habe es nochmal komplett verworfen und neu geschrieben. Die Verbesserung ist nicht so groß wie erhofft, aber besser als vorher. Ich hoffe einfach mal, das hier ist jetzt okay.
Wer weiß, was es mit der Bibelstelle auf sich hat, ohne es zu googlen oder nachzusehen bekommt einen Keks von mir und ein Post-It mit der Aufschrift 'Bibelkenner' an die Stirn geklebt.
Ja...Was auch immer, danke für's Lesen.
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