Kapitel 54
,,Ich verstehe den Boss nicht", sagte der alte Mann und putzte sein Monokel. Als der Mafiaboss davon sprach, mich unter seine Fittiche zu nehmen, hatte ich ganz und gar nicht damit gerechnet, bei der schwarzen Echse zu landen und sie offenbar genauso wenig.
,,Du stinkst nach Schwäche", sagte Akutagawa und starrte mich von der anderen Seite des Raumes finster an. Er war auch nur eine dieser armen Seelen, die ein Zeichen der Anerkennung von irgendjemandem wollten, in seinem Fall von Dazai. Nach außen hin wirkte er selbst sehr zerbrechlich, aber aus Erfahrung wusste ich es besser. Nicht nur einmal hatte er Atsushi schwer verletzt und in Gefahr gebracht. Akutagawa strahlte eine Aura aus, die ich unbewusst wahrnahm und auch riechen konnte. Der Geruch war nicht genau zu beschreiben, aber ich verband ihn mit der Leichenspur, die seinen kurzen Lebensweg pflasterte, und dieser Weg sollte noch länger werden. Anders als er, rieb ich ihm seinen Geruch, der mir genauso wenig gefiel, nicht unter die Nase und kaute stattdessen nervös auf der Innenseite meiner Wange.
Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Von der Mafia ging eine Aura aus, die mir eine unangenehme, permanente Gänsehaut bescherte und mir das Gefühl gab, ständig auf der Hut sein zu müssen. Woher sollte ich schließlich so viel Vertrauen in diese Männer haben, dass sie mich nicht doch umbringen würden? >>Mori wäre nicht böse, wenn ich sterben würde.<<
,,Feigling", flüsterte Akutagawa verächtlich und stieß sich von der Wand ab. ,,Ein Toter ist nicht das Ende der Welt", sagte er und lief zur Tür.
,,Kein Leben ist wertlos", sagte ich und folgte ihm mit den Augen. Sein Rashomon schnappte nach mir und ich sprang instinktiv zur Seite. Die Wand, an der ich gerade noch gestanden hatte, löste sich auf und stürzte ein. Ich drohte ihm mit der Faust und wusste, wie lächerlich ich aussah. Gegen das Rashomon konnte ich nichts ausrichten. Ich konnte ihm nichts vormachen. Wir sind beide als Streuner in den Slums geboren worden. Er wusste, was es bedeutete, sich seinen Wert erkämpfen zu müssen. Wäre sein Leben anders verlaufen, wenn er in einem behüteten Zuhause aufgewachsen wäre? Oder hätte er dann seine eigenen Eltern mit seinem Rashomon verschlungen? Vielleicht hätte nur ein wenig Liebe aus ihm einen guten Menschen gemacht.
,,Ich habe keine Zeit, zum Babysitten. Du übernimmst Hirotsu", sagte er und knallte beim Hinausgehen die Tür zu.
,,Ein Rat, von jemandem der schon sehr lange im Geschäft ist, Kleine. Verärgere keine anderen Mafiosi, wenn du allein bist", sagte Hirotsu und setzte sich sein Monokel wieder auf die Nase.
>>Allein...<<, wiederholte ich in Gedanken und ballte meine Hände fest zusammen. Der Schmerz, den meine Fingernägel verursachten, als sie sich in meine Handfläche gruben, erinnerte mich daran, dass ich sehr wohl Gesellschaft hatte. Ich hatte wunderbare Kollegen, die alles opfern würden, um auch nur einen von ihnen zu retten.
,,Akutagawa tut mir leid."
Wie einsam musste er tief im Inneren sein?
,,Du bist einfach zu weich und das sage ich nicht, weil du eine Frau bist. Du bist ein Gutmensch und das habt ihr einfach so an euch. Ihr verletzt jemanden, um euer Leben zu retten und ihr bereut es so sehr, dass ihr euch eine Bestrafung wünscht. Sollen wir dich vielleicht dafür bestrafen, was du dem Kerl angetan hast?" Ich starrte ihn perplex an und öffnete sprachlos den Mund.
,,Es wird ihn nicht zurückbringen", sagte er mit einer Endgültigkeit in seiner Stimme, die mir durch Mark und Bein ging. Ich spürte diese Worte wie einen Schlag in die Magengrube.
,,Willst du dich trotzdem selbst dafür foltern, dass du beinahe selbst gestorben wärst?"
,,Ich..." Was sollte ich sagen? Mein Kopf war wie leergefegt. Er hatte Recht, ich wäre selbst gestorben. Dieser Mann hätte sich erneut in meinen Verstand geschlichen und dann hätte ich vielleicht nicht mehr zwischen Realität und Illusion unterscheiden können. Wahrscheinlich hätte ich mich dann wirklich umgebracht, aber es war keine Notwehr. Er hat mich nicht angegriffen.
Ich konnte es nicht genau sagen. Meine Wut war mir zuvorgekommen. Wären wir beide noch am Leben, hätte ich ihm einfach den Rücken gekehrt? Konnte ich das wirklich sagen?
,,Das wirst du nie erfahren", sagte Hirotsu nur und zündete sich eine Zigarre an. ,,Ich habe einen kleinen Auftrag für dich. Du gehst mit Michizō, er erklärt dir alles weitere."
,,Schon?", schnappte ich und erntete einen spöttischen Blick.
,,Er wartet im Lager auf dich", hatte er gesagt und da stand ich nun und suchte den Rotschopf. Überall standen riesige Holzkisten und kleinere Container. Und dann ging das verdammte Licht nicht mehr an. Die Glühbirne war zerbrochen, als ich das Licht einschalten wollte.
,,Michizō, bist du da? Hirotsu sagte, du würdest hier auf mich warten. Warum bist du denn im Dunkeln?", rief ich in die Finsternis, ohne eine Antwort zu erhalten. Hinter mir flog eine Kiste herunter und zerschellte krachend auf dem Boden. Ich kämpfte mich durch den Lagerraum, während mich die Geräusche zu verfolgen schienen. Von allen Seiten waren Schritte zu hören, die von den Wänden zurückgeworfen wurden.
,,Das ist nicht lustig!", schrie ich und sah, wie sich direkt vor mir das Tor öffnete und rannte Michizō direkt in die Arme.
,,Hey!", beschwerte er sich und hielt mich fest, als ich an ihm vorbei stürmen wollte.
,,Da ist jemand im Lagerraum!"
,,Von außen kommt hier keiner rein", sagte er und blickte in den dunklen Raum.
,,Du bist ein Feigling", lachte er und gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. Ich hasste ihn für seine Grobheit, aber ich wagte nicht, mich weiter zu beschweren.
,,Lass uns gehen, wir liefern was aus."
,,Bestimmt kein Essen."
Aus dem Augenwinkel strafte er mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen und seine Hand zuckte gefährlich nahe an seiner Pistole. Mit ihm bewegte ich mich auf sehr dünnem Eis, das merkte ich schnell.
Seine Haltung wurde immer steifer und ich beschloss, so zu tun, als wäre ich gar nicht da. Mit einem Meter Abstand folgte ich ihm durch den Hinterausgang.
Ein neuer Tag ging zu Ende und tauchte Yokohama in das Zwielicht, das ich einst so romantisch fand, um es mit jemandem zu genießen.
Aber jetzt ging ich mit einem Mann durch dieses geheimnisvolle Licht, mit dem mich nichts verband.
Wir folgten dem Wasser und liefen die Küste entlang.
,,Hirotsu sagte, du würdest mir mehr über den Auftrag erzählen", nahm ich all meinen Mut zusammen, um meine Neugier zu stillen.
Michizō sagte lange kein Wort. Eine Viertelstunde ging er schweigend vor mir her.
Vor einer großen rostigen Stahlluke, die in einen Hügel ragte, blieb er plötzlich stehen.
,,Wir liefern etwas aus", wiederholte er, was er mir im Lager gesagt hatte. ,,Und was?", wollte ich wissen und sah mich um.
Hinter mir war das Meer, rechts ein Weg der in den Wald führte und vor mir befand sich eine Luke.
Es schien, als wären wir allein hier.
Ich rieb mir nervös über die Arme.
,,Dich", ertönte es.
Jemand trat aus dem Schatten der Bäume. Zuerst war es nur eine verschwommene Silhouette, bis Jōnos vertrautes Gesicht vom Mondlicht erhellt wurde. Sein weißes Haar reflektierte das helle Licht und glänzte wie Metall in der Dunkelheit der Nacht.
,,Du... Ich verstehe nicht", flüsterte ich und trat einen Schritt zurück.
,,Ich verhafte dich, ganz einfach."
Dabei lächelte er unschuldig und unnatürlich. Was ging nur vor sich? Warum plötzlich das Ganze hier?
Hatte Mori nicht gesagt, ich könne bleiben? Bekam er denn wirklich nichts hiervon mit?
,,Michizō, du gehörst zu denen?"
,,Du stehst uns im Weg", antwortete er und trat beiseite, um Jōno Platz zu machen.
,,Wehr dich nicht, dann tu ich dir auch nicht weh", flüsterte er mir mit seiner sanften Stimme ins Ohr und legte mir Handschellen an.
>>Ich bin im Weg?<<
,,Das war alles geplant, oder? Der Mann, den ich verletzt habe, das habt ihr geplant, oder?", wollte ich wissen und war außer mir. Jōno zog die Handschellen gleich noch ein wenig fester an.
,,Hier endet meine Freundlichkeit."
Ich sah ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu kämpfen. Die Jagdhunde hatten den Ruf, blutrünstig zu sein. Sie machten keine halben Sachen, wenn sie einmal zuschlugen. Ich ließ mich festnehmen und folgte dem Jagdhund durch den Wald.
>>Ist es wegen des Mannes?<<
Ein ungutes Gefühl beschlich mich.
Was sollte ich nur tun?
Wir kamen zu einem Parkplatz und er führte mich zu seinem Auto, in das er mich sogleich verfrachtete.
,,Eine Sache noch", sagte er und hielt inne, als er gerade losfahren wollte. Verwirrt sah ich ihn im Rückspiegel an und schrie auf, weil er mir etwas ins Bein rammte.
,,Scheiße!", fluchte ich. Mir wurde schwindelig und bald konnte ich von der Fahrt nichts mehr mitbekommen.
Erst, als ich aus dem Auto gezerrt wurde, kam ich wieder zu mir. Bewaffnete Polizisten zerrten mich in ein Gebäude und durchsuchten mich.
Ich musste mich umziehen, wurde in eine Zwangsjacke gesteckt und mit dem Aufzug nach oben gebracht. Der Aufzug hielt auf Ebene 15.
Hinter den Türen befand sich zuerst eine Kommandozentrale mit Polizisten, die hinter Computern saßen.
Ich wurde einen Raum weiter gebracht und blickte in eine tiefe Halle, in der gläserne Zellen von der Decke hingen.
,,Dazai!", rief ich und sah ihn weit oben an der Decke, in der Zelle neben ihm saß Fyodor.
Alarmiert schaute Dazai nach unten und ich glaubte ihn etwas rufen zu hören, aber ich konnte nichts verstehen. Ich sah nur, wie er seine Lippen bewegte und gegen die Scheibe klopfte.
,,Rein da!", befahl der Polizist und schubste mich in die leere Zelle. Es gab kein Bett und keine Toilette, nur den Fußboden und die Scheibe.
Hinter mir schlossen sie die Tür, und meine Zelle wurde nach oben gezogen, bis ich ein paar Meter unter der Decke hing, etwa drei Meter von Dazai und fünf von Fyodor entfernt.
"Was ist hier los?", fragte ich und verstand die Zusammenhänge nicht. Was machte Dazai hier?
,,Alles wird gut!", rief er mir zu.
,,Was meinst du damit?"
Dazai fasste mit beiden Händen an die Scheibe seiner Zelle und blickte ernst in meine Richtung. Er antwortete mir nicht mehr.
Es war Fyodor, der Dazai etwas in einer Sprache zurief, die ich nicht verstand. Es war keine Sprache, die ich je gehört hatte, aber Dazai antwortete ihm in derselben Sprache.
Mein einziger Zeitvertreib bestand nun darin, mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen und Dazai und Fyodor dabei zu beobachten, wie sie sich in einer verschlüsselten Sprache unterhielten.
>>Worüber reden die wohl?<<, dachte ich und lehnte mich zurück.
Das helle Licht von der Decke blendete mich, sodass ich irgendwann die Augen schloss und Dazai und Fyodor lauschte.
>>Was ist mit den anderen?<<
Ich hoffte, ihnen ging es gut, aber so wie ich die Situation sah, saßen wir tief in der Scheiße.
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