Kapitel 42
Es war etwas schwierig, die anderen, besonders Ranpo, davon zu überzeugen das es mir gut ging. Meine Wunden Wangen und meine roten Augen sprachen natürlich für sich, doch wir hatten alle zu tun. Wir mussten das Büro wieder herrichten und uns um unsere Klienten Kümmern, die zumindest per Anruf unsere Dienste erbaten.
„Du wirst später kommen, nimm den Ersatzschlüssel.“
Ranpo brauchte wohl nicht einmal seine Brille, um zu wissen, was ich gleich nach der Arbeit vor hatte. Das war es, was ich an ihm besonders mochte. Er stellte mir keine Fragen und vertraute mir. Ich lächelte ihn bloß müde an. Er nahm es mir nicht krumm. Das ich von den letzten Wochen noch sehr erschöpft war, schien man mir noch deutlich ansehen zu können.
Es war, als hätte sich all die Müdigkeit angestaut, nur um wie ein Wall aus Wasser über mir einzubrechen. Außerdem machte mir mein Traum zu schaffen.
Fyodor war ein Gefangener der Sonderabteilung, also gab es für mich auch keinen Grund zu glauben, dass er entkommen wäre. Vorallem gab es keinen Grund, Fyodors Befreiung mit der Nacht in Verbindung zu bringen, in der sich der Nebel über Yokohama ausgebreitet hatte. Er saß sicher noch in seiner Zelle.
Mein Traum war bloß ein Gespinst meiner Angst. Ranpo musste bemerkt haben, dass ich von vergangener Nacht noch ziemlich müde war und er hat es mir sicher angesehen, dass ich dem ständigen Geschrei im Schlaf auf den Grund gehen wollte.
„Ich versuche dich nicht zu wecken.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Das wird schwer, wenn du trinken gehst.“ Ich konnte nicht sagen, ob er vorwurfsvoll, oder eher amüsiert klang.
„Ich möchte einfach nur etwas herausfinden.“
Er seufzte und sah mich unsicher an. „Chūya ist der Einzige, der vielleicht mehr weiß“, erklärte ich ihm, verschwieg ihm aber bewusst, dass auch Dazai irgendwie mit drin zu hängen schien. Er wusste das ich damals dort war. Ranpo würde diese Informationen höchstens an Dazai ablesen können, doch er war nicht mehr der korrupte Teenager von damals. Auch wenn mich der Gedanke schmerzte, stellte ich fest, dass Chūya hervorragend in die Mafia passte und gerade dieser Gedanke bereitete mir Sorgen. Ich stockte und wandte den Blick von Ranpo ab, bevor er es mir wieder von den Augen würde ablesen können. „Mir behagt es nicht, dass du allein in einer Bar herum lungerst.“ Ich konnte es mir nicht verkneifen zu lachen.
„Herumlungern? Ich bin nicht Dazai. Ich werde mich nur unterhalten.“
Er sah mich skeptisch an.
„Es geht nicht darum, dass ich dir nicht vertraue. Wie willst du später nach Hause kommen?“
Da war was dran. Chūya wusste zwar, wo ich wohnte, aber nach Hause bringen würde er mich sicher nicht.
„Ich rufe mir ein Taxi.“ Damit schien das Thema beendet zu sein, denn er nickte einverstanden. Ich erwartete, dass er zu seinem Schreibtisch zurück gehen würde, aber er blieb bei mir, als läge ihm noch etwas Anderes auf dem Herzen.
„Es ist immer noch so, wie es vorher war.“ Er musste wohl von unserer Beziehung sprechen, denn die Arbeit war noch nie gleich. Wir waren immer auf Achse und stürzten uns auf den nächsten Feind, der versuchte Yokohama zu vernichten.
„Ich bin nicht gut in sowas“, gab ich zu und legte eine Hand in meinen heißen Nacken. „Lass uns ausgehen.“
Ich nickte langsam, wusste nicht so richtig, wie ich das interpretieren sollte. „Ich weiß, du versuchst romantisch zu sein, aber ich bin zufrieden, so wie es ist.“ Ein trauriger Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. Ich war wirklich schlecht sowas.
„Du bist gut, so wie du bist. Ich brauche keine Dates oder sowas. Sei einfach nur bei mir.“ Ich lächelte ihn an. Sein Ausdruck erhellte sich.
„Ich werde jetzt gehen. Bis später.“
Mit einem Kuss, obwohl ein paar unserer Kollegen noch anwesend waren, verabschiedete ich mich von ihm.
Eilig lief ich die Stufen hinunter und machte mich auf den Weg zur Bar. Es war halb acht und ich hatte nur einen groben Plan von Chūya bekommen, wo sich die Bar Lupin befinden sollte. Ungefähr auf halben Weg, ich konnte es auf dieser Lachnummer von Karte, die von Chūya gezeichnet wurde, so gut wie nichts erkennen, sah ich einen bekannten braunen Schopf und einen Sand farbenen Mantel vor mir. Dazai drehte sich zu mir um, als hätte er meine Anwesenheit gespürt. Wir schwiegen uns an. Dann drehte er sich um und lief weiter.
Ich folgte ihm.
„Ich wusste nicht, dass du seit neustem unter die Alkoholiker gehst“, hörte ich ihn witzeln, doch es schwang kein Funke von Freude in seiner Stimme mit.
„Ich treffe mich mit Chūya. Alkoholiker bin ich nicht, aber zu einem Glas Wein, sag ich nicht nein.“
Sein Rücken spannte sich an. Er mochte Chūya wohl immer noch nicht. Ich folgte ihm in eine Seitengasse und fand mich vor einem leuchtenden Schild, mit der Aufschrift ,Bar Lupin‘, wieder.
Unaufgefordert öffnete Dazai mir die Tür und ließ mich zuerst eintreten. Die Bar überraschte mich. Sie war wirklich stylisch. Ich habe eine heruntergekommene Bar, mit kratzigen dunklen Tischen und Männern vom Hafen erwartet, als wir in diese Seitengasse kamen. Hingegen fand ich einen polierten Tresen aus Echtholz wieder und Nischen, ebenfalls aus Echtholz, mit weinroten Polstern aus Samt.
Chūya war noch nicht da. Ob er vielleicht doch nicht kam und mich einfach nur abwimmeln wollte?
„Er ist nicht der pünktlichste. Wenn er sagt, dass er um eine gewisse Uhrzeit kommt, rechne fünf Minuten dazu, mindestens.“
Dazai setzte sich auf einen der Hocker an der Bar. Ich setzte mich links von ihm und warf einen neugierigen Blick zu den Spirituosen. Mit Alkohol kannte ich mich nicht besonders aus.
„Ein Bourbon. Für die Dame einen Wein ihrer Wahl.“ Der Barkeeper sah mich fragend an, während er Dazai einschenkte, nachdem er eine Eiskugel in seinem Glas positioniert hatte.
„Ich warte bis mein Bruder hier ist.“ Dazai schmunzelte.
„Was ist so lustig?“, fragte ich ihn und drehte mich zu ihm um. Unsere Beine berührten sich.
„Wieso magst du Chūya, nach all der Zeit, immer noch so gern?“, hörte ich ihn fragen und drehte mich grübelnd wieder nach vorn. Ja warum eigentlich? Ich war da, als Chūya mich brauchte, aber er hat nichts für mich getan.
>>Nein, dass stimmt nicht.<<
Er hat mich von der Einsamkeit befreit. Ohne Chūya wäre ich sicher in meiner Einsamkeit ertrunken. Ich hatte nicht die Gelegenheit, ihm zu antworten, da sich just in diesem Moment die Tür öffnete und der Rotschopf hereinspaziert kam.
Zuerst war er noch entspannt, doch als er Dazai sah, wurde seine Miene misslaunig. Die beiden hatten definitiv ein Problem.
„Was macht der Freak hier?“, fauchte er und zeigte auf die düstere Gestalt neben mir. „Wenn du deine Schwester schon zum trinken einlädst, solltest du nicht meine Lieblingsbar wählen“, sagte Dazai ruhig und schnippste gegen sein Glas. „Verschwinde!“, feixte Chūya weiter. Ich wunderte mich gar nicht mehr, warum Dazai ihn ständig als Kläffer bezeichnette. Chūya benahm sich wie ein Pinscher, der ständig um einen herum wuselte und sein Territorium mit lautem Gekläffe verteidigte.
„Es ist doch ganz gut, dass er auch hier ist. Er hängt doch auch mit drin, oder bringe ich da etwas durcheinander?“ Chūya lief an mir vorbei, setzte sich an den hintersten Platz an der Bar. Außer uns war niemand hier. Er war kindisch. „Nicht so sehr, wie du vielleicht denkst.“ Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Die beiden waren schon seltsam.
„Jetzt hätte ich gern meinen Wein. Irgendeinen süßen. Ich hasse es saures..“ Noch während ich das sagte verzog ich das Gesicht bei dem Gedanken an einen sauren Wein. Der Barkeeper nickte bloß und angelte nach einer Flasche und füllte mir ein Glas mit der blutroten Flüssigkeit.
„Wein?“, fragte Chūya überrascht. Ich mochte nicht viel von Alkohol halten, aber eine Schwäche hatte ich dann doch, vorausgesetzt es war süß.
„Du trinkst doch auch lieber Wein. Du warst doch auf dem Weg zum Weingeschäft, als ich dich fast umgerannt habe.“ Er schnaubte bloß und bestellte sich das gleiche wie ich. Schließlich rang er sich dann doch dazu durch, sich näher zu setzen, auch wenn der Platz links von mir immer noch frei blieb. So mussten wir wenigstens nicht über den ganzen Tisch hinweg reden. Ich nahm einen vorsichtigen Schluck von meinem Wein und schloss die Augen. Er war fast so süß wie Traubensaft, wenn ich von dem Geschmack des Alkohols absah, der unterschwellig anwesend war.
„Du hast gesagt, du willst über Früher reden.“ Chūya schwenkte sein Weinglas umher. „Du hast gesagt, du wüsstest wer der Typ damals war.“ Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Dazai gab einen Laut der Überraschung von sich. „Ich dachte du erinnerst dich nicht mehr, an die Zeit vor der Kraft?“ Chūya zuckte mit den Schultern.
„Es ist alles wieder da. Ich kann es mir nicht erklären.“ Während er sprach, fischte er etwas aus der Innentasche seiner Jacke. Dann schob er mir ein paar Papiere rüber, ohne mich anzusehen. Ich war überrascht. Er hat also nachgeforscht? Ich schob mein Glas beiseite und blätterte in den wenigen Unterlagen.
„Schwarz…“, murmelte ich und legte den Kopf schief.
„Schwarz?“, echote Dazai neben mir und linste mir über die Schulter.
„Ich bin damals, als ich acht war, von jemandem mitgenommen worden. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, ein Trauma vielleicht. Das Einzige, woran ich mich seit Jahren erinnern konnte, bis jetzt, war Schwärze.“
Eine finstere Gestalt blickte mir von dem Tisch aus entgegen. Ein Foto des Mannes, der mir damals einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Er war zwei Meter groß, wie ich dem Polizeifoto entnahm. Er hatte langes graues Haar und war inzwischen fünfzig Jahre alt. Er hatte das typische aussehen eines Schwerverbrechers. Obwohl er eine hagere Gestalt war, war er ebenfalls muskulös. Der Mann hatte ein finsteres Lächeln, auf seinen spröden Lippen. Vor allem waren es seine Augen, die mir damals Angst gemacht hatten. Finstere schwarze Augen eines Toten.
Mich fröstelte es.
Ein unangenehmer Schauer jagde mir über den Rücken.
„Und was ist dann passiert?“, fragte der Braunhaarige. Ich überlegte, da es schon lange her war, seit ich mich an damals erinnern konnte. Mein Kopf schmerzte höllisch, als ich in meinem Gehirn nach Erinnerungen suchte.
„Danach kam ich in eine Einrichtung.“ Chūya versteifte sich. Langsam drehte er den Kopf in meine Richtung. „In welche Einrichtung?“, fragte er böse. Ich konnte spüren, wie Zorn ihn einhullte.
„Ich weiß es nicht genau. Da waren noch so viele andere Kinder, aber ein Waisenhaus war es nicht. Die Kinder waren alle so verstört und ruhig.“ Ich fasste mir mit der Hand an meine Stirn, als meine Sicht schwammig wurde.
„Das war wirklich kein Waisenhaus“, hörte ich Chūyas zerknirschte Stimme. Seine Hand ballte sich auf dem dunklem Holz des Tresens zur Faust.
„Es war ein Labor“, erinnerte ich mich wieder an den Stuhl, auf den ich so oft gefesselt wurde und geschrien und geweint hatte, bis ich irgendwann nur noch dalag und mich nicht mehr rührte. „Ich dachte, du bist bei einer netten Familie untergekommen?“, fragte Dazai überrascht und fasste mich an der Schulter. Vermutlich aus Sorge, dass ich vom Stuhl fallen würde.
„Bin ich auch… Aber erst mit 12, schätze ich.“ Meine Stimme zitterte. Der Schmerz überrollte mich, als plötzlich viele Erinnerungen auf mich einbrachen. Ich fühlte mich wie erschlagen. Wie so oft, in letzter Zeit, konnte ich nicht richtig atmen.
„Hör auf sie weiter auszufragen! Du siehst doch, wie es ihr geht!“ Chūyas Stimme schmerzte in meinen Ohren. Seine Hand schlug Dazais weg. Dann drehte er mich zu sich.
„Wieso wolltest du herkommen, wenn du ohnehin schon alles weißt?“
Ich schüttelte den Kopf. Erst jetzt, wo ich die beiden in meiner Nähe hatte, erinnerte ich mich. Als hätte Dazai mich wach gerüttelt. Ich erinnerte mich an die Gestalt, die mich so lange in meinen Albträumen verfolgt hatte. Der Grund, weshalb ich die Dunkelheit scheute. „Erst weil ihr Beide da seid, fällt es mir ein. Es ist eure Aura, die mich an die Zeit von damals erinnert.“ Er sah mich wütend an, aber diese Wut galt nicht mir.
„Ich brauche bloß ein wenig frische Luft, dann kann ich euch fragen, was passiert ist, als ich wieder zurück war.“ Er ließ mich los und ich trat nach draußen. Die kalte Nachtluft traf mich wie Eiswasser an einem heißen Sommertag. Ich fühlte mich gleich besser und atmete tief durch, obwohl die Luft in Yokohama alles andere als frisch zu bezeichnen war. Sie war dreckig und angenehm roch es nur dort, wo Essen verkauft wurde. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Schmerz abebbte und ich mich wieder in das Innere der Bar begab. Die beiden saßen noch genauso weit von einander entfernt, wie zuvor.
„Mir geht es wieder besser.“
Gleichzeitig sahen sie mich an. Ich verkniff mir ein Grinsen darüber, wie niedlich ich das fand, sie unisono den Kopf drehen zu sehen.
„Dazai, du sagtest, du wusstest das ich damals dort war.“ Er nickte und sah nach vorn, als würde er sich an die Zeit von damals zurück erinnern.
Dazais Sicht :
Ich suchte nach den Schafen, doch es schien keine Spur zu geben, solange ich auch suchte. Meinen Mantel enger um meine Schultern ziehend, lief ich weiter. Als ich eine kleine Treppe hoch stieg, stürzte eine junge Frau an mir vorbei. Sie war ein paar Jahre älter als ich. Ihr grünes langes Haar streifte meine Wange. Desinteressiert folgte ich ihr mit meinen Augen. Sie verfolgte offensichtlich jemanden. >>Vielleicht weiß sie ja, wo die Schafe sind.<< Meine Vermutung wurde bestätigt, als ich sie in einer Gasse verschwinden sah. Ich lief eine Feuertreppe hoch und kletterte auf das Dach. Die Frau folgte einem Jungen mit rotem Haar. Entweder war er blöd, oder ignorierte die Tatsache, dass ihn jemand verfolgte. Ich schätzte auf ersteres. Ihre Spur führte mich zu einem abgelegenen Ort, doch die Frau war verschwunden. Stattdessen sah ich nur diesen Rotschopf, den ich schließlich über die Schafe ausfragte. Mit seiner Fähigkeit hatte er die Frau sicher verjagt, die ich weder spüren noch sehen konnte. Erst später traf ich sie erneut. Der Rothaarige war in den Boden eingebrochen und in der Bucht gelandet. Ich sollte ihn anwerben, für Mori. Er war sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst, aber sie hat im Wald auf der Lauer gelegen. Dann…
Rückblende Ende
,,Ich habe auf dich geschossen“, sagte er und machte plötzlich große Augen. Wir hatten diese Tatsache beide längst vergessen. „Heute zielst du besser, als früher“, antwortete ich und setzte mich wieder neben ihn. „Ich war damals auf der Suche nach Chūya, aber als ich von dir verfolgt wurde, fühlte ich mich wie von einem Dämon gejagt.“ So fühlte ich mich eigentlich immer noch, wenn ich mich in seiner Nähe befand. Seine Aura war beängstigend. Mit leuchtenden Augen sah mich Dazai an. „Du bist wirklich eine Person voll Lebenslust.“ Chūya verzog angewidert das Gesicht. Er sah das wohl anders. „Was ist in dem Labor geschehen?“ Nun verzog ich das Gesicht. „Wenn du Schmerzen hast-.“
Ich schüttelte wieder Kopf. „Es tut nicht mehr so weh. Nur die Erinnerung… Dieses Labor war nur eines, von vielen in denen man versuchte Kindern, künstlich, eine Fähigkeit zu übertragen. Jedes Kind hatte seine eigene, individuelle Behandlung, da jedes Gehirn anders funktioniert. Die Neurologen gehen davon aus, dass Befähigte ihr Gehirn weit mehr ausschöpfen, als Unbefähigte“, erklärte ich ihm das, was ich damals von den Ärzten hatte aufschnappen können. „Willst du damit sagen, dass deine Fähigkeit nicht angeboren ist?“, fragte Chūya wieder aufgebracht. Ich verstand seine Wut nicht. Immerhin hat er ein sattes plus durch diesen Dämon bekommen, der auch nicht von Geburt an in ihm wohnte.
„Das würde ich nicht behaupten. Ich bin der Auffassung, dass unsere Fähigkeiten mit unseren Vorlieben und unserem Charakter zu tun haben. Befähigte entdecken ihre Fähigkeiten meist erst im Teenager Alter. Das bedeutet, dass wir erst eine Fähigkeit entwickeln, wenn sich ein Charakter gebildet hat. Bei Q bin ich nicht sicher. Es ist fast schon illustriel, dass er in so jungem Alter so geworden ist.“ Chūya zog die Brauen zusammen. Dazai und ich tranken unisono von unseren Getränken. Ich leerte meines, so wie er, in einem Zug. „Meine Fähigkeit muss sich entwickelt haben, während ich im Labor war. Ich war, wie die anderen auch, einsam. Mir blieb nur meine Fantasie, in die ich mich zurückgezogen habe, um mich zu schützen.“ Wir schwiegen eine Weile. Ich musste an die Zeit vor dem Unglück denken, als Chūya und ich noch zusammen waren. Wir waren gar nicht von Anfang an zusammen, wie ich einige Zeit lang dachte.
„Chūya?“
„Hm?“, brummte er.
„Erinnerst du dich? An den See?“
„Wir waren nie am See.“ Nein, das waren wir tatsächlich nicht. „Du hast es aber See genannt, als wir uns begegneten. Ich wollte dich nach Hause bringen und du hast es See genannt.“ Ein verächtliches Schnauben verließ seine Kehle. Er sprach offenbar nicht gern über seine Kindheit. Dazai kicherte. „Dieses Loch? Ein See?“, prustete er. Ich fühlte es ihm nach. Eine Masse von verwinkelten Häusern, in einem Krater, als Meer zu bezeichnen, war schon ulkig. Aber es war die süße Beschreibung eines Kindes. „Du weißt aber immer noch nicht, woher du kommst?“ Ich lächelte nur.
„Es reicht mir, wenn ich sagen kann, dass ich von dort komme, wo Chūya war.“
„Ist mein Ansehen in deinen Augen so hoch?“ Ich nickte. Chūya verstand meine Gefühle für ihn wohl immer noch nicht. Ich konnte es ihm nicht verübeln, da ich ihn allein gelassen habe.
„Für mich bleibst du mein Bruder. Es ist mir egal, wie du darüber denkst.“
Er musterte mich einen Moment lang. „Wie bist du da raus gekommen?“
Mir wurde ein weiteres Glas Wein hin gestellt. Der Barkeeper nickte auf meinen fragenden Blick in Chūyas Richtung.
„Ich glaube das irgendwann das Militär Wind davon bekam. An einem Morgen stürmten bewaffnete Männer die Einrichtung, danach kamen einige in Familien.“ Die einzige Erinnerung, die immer noch so verschwommen war. Vielleicht weil ich es immer noch nicht fassen konnte. Im Augenwinkel sah ich, wie Chūya aufstand und bereits auf dem Weg zur Tür war.
„Wir haben genug über alte Lamellen gesprochen. Ich habe noch zu tun. Lass dich nicht überfahren“, sagte er noch, bevor er mich mit Dazai allein ließ. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gerade erst kurz vor neun war. Er hatte offenbar genug geredet und selbst der Wein konnte es ihm nicht schmackhaft machen.
„Was sagt Ranpo eigentlich dazu, dass du hier bist?“ Dazai wollte wohl lieber allein seinen Whiskey trinken.
„Er will nur, dass ich sicher nach Hause komme. Ich werde mir ein Taxi rufen“, erklärte ich und trank mein zweites Glas leer. Ich fühlte mich vom ersten Glas schon etwas benommen, doch nach den ganzen Erinnerungen brauchte ich den Alkohol.
„Ich trinke noch mein Glas, dann begleite ich dich.“ Darauf erwiderte ich nichts. Wenn er das tun wollte, dann konnte er das auch gern machen. Nach zehn Minuten hatte er sein Glas auch endlich leer und erhob sich. Er schlenderte gelassen zur Tür und ich folgte ihm. Die Nacht war kalt, aber füllte meinen Körper wieder mit Leben. „Du bist mir immer noch ein Rätsel. Heute, wie damals.“ Er sah mich von der Seite an, die Hände in seinen Taschen vergraben. Heute sah er viel freundlicher aus, als der düstere Teenager von damals. „Kannst du eigentlich in die Zukunft sehen? Es scheint mir, als könntest du jede neue Bedrohung voraus ahnen.“ Er lachte mich aus. Dieser Gedanke schien mir dennoch nicht abwegig. „Ich habe nur ein gutes Gespür. Das solltest du doch auch haben, immerhin hast du Psychologie studiert.“ Was hat denn das eine mit dem Anderen zu tun?
„Ich kann aber nicht sagen, was in deinem Kopf vorgeht. Das macht mir Angst.“
Er grinste schief und lief ein Stück rückwärts, um mich weiter ansehen zu können, während wir miteinander sprachen.
„Dann wirst du damit leben müssen.“
Ich runzelte die Stirn. Es verhieß nie etwas Gutes, wenn man jemanden nicht durchschauen konnte, selbst wenn man sich mit der Psyche des Menschen auseinander gesetzt hat. Es behagte mir nicht. Ganz und gar nicht.
Er brachte mich zum Wohnheim, ging aber direkt in seine Wohnung, anstatt mich bei Ranpo abzusetzen. Es machte mir nichts, es waren ja nur ein paar Stufen weiter und auf diesem kurzen Weg konnte mir ja nichts passieren.
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