Kapitel 22
"Okay, machen wir einem kurzen Check, bevor sich jemand beschwert", schlug ich vor und stellte die Tüten neben Ranpos Wohnzimmertisch ab.
"Also: Wir haben gebratene Nudeln mit Sojasauce, du hast Chips, Donuts, Pockys, Bonbons und Kuchen da und ich habe vorhin noch grünen Tee in einer Flasche gekauft. Haben wir alles?", hakte ich nach und sah, wie er aufstand und in die Küche lief. Als er zurück kam hatte er einen Eispott dabei.
"Jetzt haben wir alles", nuschelte er und hatte sich bereits den ersten Löffel in den Mund gesteckt, einen weiteren hielt er mir entgegen. Schweigend nahm ich ihn entgegen, nahm mir aber nichts.
"Wo kommst du her?"
Er wollte also ganz am Anfang beginnen. Nicht das, womit ich gerechnet habe.
"Ich komme aus der Cone Street, den Slums im Krater wie ich vorher schon erwähnt hatte. Du weißt, dass Chūya mein Bruder ist. Damals, als ich entführt wurde, bin ich öfters zurück gekommen, um meinen Bruder zu finden."
Schwer schluckend senkte ich den Kopf. "Ich habe allerdings jemand anderen gefunden, als meinen Bruder. Es hat nicht lange gedauert, bis ich erkannte, dass Chūya nicht mehr er selbst war. Er konnte sich nicht an mich erinnern und ich bin sicher, dass er es noch immer nicht kann, außer an Bruchstücke."
Ranpo aß unbekümmert weiter.
Irgendwie machte mir das Mut. "Irgendwann, als ich noch einmal zurück kam, war er eine Bestie geworden. Du hast ihn gesehen, Ranpo. Er war als Kind nicht so grausam. Obwohl wir in den Slums gelebt haben, war er ein lieber Junge."
Ich schüttelte mich.
"Was ist mit euren Eltern?", stellte Ranpo zum ersten Mal eine direkte Frage. Unwissend hob ich die Schultern.
"Ich kann mich nicht erinnern. Seit ich denken kann, waren wir immer schon allein. Die Zeit war einsam und schrecklich. Ich war sogar froh, dass ich dort wegkam, auch wenn es mir um Chūya leidtat", erklärte ich und schenkte mir etwas von dem Tee ein.
"Als wir uns kennengelernt haben, wurdest du von einem Mann verfolgt. Du hast nie erzählt, wer dieser Mann war."
Ich machte eine Pause, in der ich aus meinem Glas trank und mich dann etwas sammelte.
"Er war mein früherer Arbeitgeber. Einige Leute sind seinetwegen gestorben, auch welche die mir wichtig waren."
Ich sah auf meine Hände, die das Glas fest umgriffen. Wie eine Rettungsleine, an der ich versuchte mich aus dem Wasser zu ziehen.
"Ich habe es schon länger gewusst, aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr."
Meine Stimme zitterte.
Mir war plötzlich so kalt, obwohl die Nächte so warm waren.
Es war Sommer.
"Ranpo, der Grund warum ich mein Leid nicht teile ist nicht, weil ich kein Vertrauen habe, sondern, weil es Dinge gibt, an die ich mich nicht erinnern will. Worte können nicht immer helfen, etwas einfacher zu machen."
Geradewegs sah er mir in die Augen.
Ohne Mitleid. Er sah einfach mich. Doyle Yanagi. Seine Kollegin und so wie ich hoffte, seine Freundin.
"Ich verstehe schon, Doyle. Verzeih mir", sprach er mit ruhiger Stimme und schloss seine Augen.
"Alles was ich will ist, dir das ganze etwas leichter zu machen. Ist das falsch?" Ich schüttelte den Kopf, erinnerte mich aber dann wieder daran, dass er das gar nicht sehen konnte.
"Allein deine Anwesenheit erleichtert mir einiges. Ich brauche kein Mitleid. Was ich will ist, einfach nur als ich gesehen zu werden."
"Ich sehe dich. Wenn ich dich ansehe, sehe ich nur dich. Deine Art, wie du dich verhälst, wie du lachst und wie du dich bewegst. Ich sehe nur dich, Doyle. Nicht das Leid, dass du mit dir herum schleppst. Mir wäre nur wohler, wenn die Trauer auf deinem Gesicht auch verschwinden würde."
Verwirrt legte ich meine Hände an meine Wangen.
"Es hat nichts mit dem, was früher war, zu tun. Aber das weißt du sicher längst", sagte ich, mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen.
"Ich kann mir nicht erklären, weshalb du traurig sein solltest. Du hast eine gute Arbeit, auch wenn es ziemlich oft drunter und drüber geht. Unsere Kollegen sind vielleicht etwas anstrengend, aber du hast doch noch mich!"
Ich musste dann doch lachen, als er wieder schmollte. Es drehte sich wirklich oft um Ranpo.
"Klar, du bist toll, aber manchmal ist man auch in Gesellschaft einsam. Verstehst du?" Nachdenklich lutschte er an seinem Löffel und schüttelte den Kopf.
"Warum sollte man einsam sein, wenn man von Leuten umgeben ist?"
Erschöpft rieb ich mir über die Augen. "Freunde sind schön und gut, aber sie können dir nicht alles geben."
"Verstehe, du hättest also gern einen Mann an deiner Seite", wurde es ihm allmählich klar und sah mich nachdenklich an. Ob er wohl wirklich verstand, was ich meinte?
"Verlass dich ganz auf mich, Doyle! Ich werde dir einen feinen Kerl suchen, damit du wieder lächeln kannst!"
Voller Tatendrang sah er mich an, als ob er gleich schon auf die Jagd gehen wollte.
Vielleicht sollte er seine Brille doch öfters tragen, damit der Groschen fiel.
Er war so enthusiastisch, dass ich mich nicht traute, ihm dazwischen zu reden. Dann sollte er sich die Mühe halt umsonst machen, ich habe nie meine Gefühle verheimlicht.
Und wenn es selbst für den Chef so offensichtlich war, konnte ich Ranpo auch nicht mehr helfen, als ihn selbst herausfinden zu lassen, welchen Mann ich wollte.
"Wir sehen uns morgen. Komm gut nach Hause!"
Mit diesen Worten schob er mich durch die Tür. Verdattert blieb ich dort einen Moment stehen. Es war schon dunkel und er ließ mich einfach allein nach Hause gehen! Daran musste er wirklich noch arbeiten. Mit einem mulmigen Gefühl sah ich mich um.
>>Du brauchst keine Angst zu haben! Renn doch einfach nach Hause!<<
Wie immer konnte ich mir selbst nur wenig Mut machen.
Mehr noch versetzte ich mich in Panik.
"Mach auf du Idiot!", jammerte ich und klopfte bereits wieder an Ranpos Tür. Immerhin brauchte er dafür nicht lange. "Hast du etwas vergessen?", fragte er verwirrt und legte den Kopf schief, während er in ein paar Knabberstangen biss.
"Du kannst mich nicht allein nach Hause gehen lassen, wenn es dunkel ist!", quengelte ich, während ich mich an ihm vorbei drückte.
"Hast du noch nie etwas von Vergewaltigern gehört?"
Er folgte mir ins Wohnzimmer und setzte sich zu mir.
"Doch, aber ich hätte nicht gedacht, dass du dir um sowas Sorgen machst. Du bist doch sonst so taff."
Irritiert starrte ich ihn an.
In meinem ganzen Leben war ich noch kein einziges Mal taff gewesen!
"Ich kann dich nicht nach Hause bringen." Das dachte ich mir schon.
Er schien sich selbst nicht sehr wohl, im Dunkeln der Nacht, zu fühlen.
"Ich schlafe einfach hier. Dann muss ich keine Angst haben und du musst nicht noch mal vor die Tür", erklärte ich und er nickte nur.
"Von meinem Essen bekommst du aber nichts!"
Großzügig wie immer.
"Ich habe noch meine Nudeln, die ich tatsächlich hier vergessen habe."
Er hatte es offenbar selbst vergessen, so wie er mich ansah.
Dabei wollte er sie unbedingt auf dem Weg noch holen. Schnell packte ich beide Boxen aus und reichte ihm seine mit Essstäbchen. Ich nahm meine und fing an zu essen.
Während ich mir Zeit ließ, war er ziemlich schnell fertig und machte sich bereits wieder an den Süßigkeiten zu schaffen.
"Deine Fähigkeit...", setzte er an und schluckte sein Essen runter.
"Das war wirklich großartig. Ich wusste nicht, dass du inzwischen so gut geworden bist."
Auf seinen Wangen lag ein leichter Rotschimmer, während er schon weiter knabberte. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dafür ein Kompliment von ihm zu bekommen.
"Ich schätze, dass es am Ende an Fukuzawa gelegen hat. So perfekt konnte ich es noch nicht", als ich fertig war, räumte ich den Müll weg.
"Die Firmenwohnungen sind wirklich winzig", bemerkte ich, nachdem ich festgestellt habe, dass es nur ein Zimmer gab. "Diese Wohnungen sind auch nicht für WGs gedacht. Eher für alleinstehende, für Paare oder für Geschwister."
Stimmt.
Naomi und Tanizaki wohnten auch hier. Jeder außer mir wohnte hier.
"Du kannst schlafen wenn du magst. Ich bin nicht laut."
Schlaf klang schön, jedoch sah er nicht so aus, als hätte er Decken und Futons. Schulter zuckend rollte ich mich auf dem Tatami zusammen, den Kopf auf einem der Sitzkissen gebettet.
"Was machst du da?"
"Schlafen", antwortete ich knapp.
"Ich habe auch Futons, weißt du. Außer du schläfst lieber auf den Bambusmatten."
Ich hörte sein Grinsen aus seiner Stimme heraus.
"Sag das doch früher!"
Schnell stand ich auf und suchte seine Schränke ab. Erst im letzten fand ich einen einzigen, dafür aber großen Futon.
Das schien mir nur plausibel.
Auch so brauchte er von allem extra viel. Essen, Lob und Aufmerksamkeit.
Es war nicht weiter überraschend, dass er viel Platz brauchte.
"Ich habe nur einen. Du kannst ihn für diese Nacht haben, aber eine zweite bekommst du ihn nicht!", drohte er mir. Ranpo übergab mir freiwillig seinen Futon? "Wir sind zwei Erwachsene Menschen. Es ist nichts dabei, wenn wir ihn teilen."
"Mir kann es egal sein. Ich wohne ja schließlich hier. Wenn es für dich kein Problem ist, dann für mich erst recht nicht", murmelte er und gähnte herzhaft. Er war also doch müde!
Lächelnd richtete ich den Futon her und sah Ranpo verwirrt an, als er in einem braunen, karierten Piyama vor mir stand. Selbst in der Nacht konnte er diesen Stil nicht gegen einen anderen eintauschen.
"Ich habe dir im Badezimmer Sachen hingelegt", sagte er, ohne mich anzusehen und kroch bereits unter die Decke.
Schnell machte auch ich mich bettfertig und legte mich neben ihn.
Er war sehr ruhig, trotzdem konnte ich nicht schlafen. Immer wieder drehte ich mich von einer Seite auf die andere, bis er mich gegen das Bein trat.
Mein Körper wollte einfach keine Ruhe finden.
"Schlaf einfach. Ich werde nichts machen", brummte er und drehte mir den Rücken zu. Ich kniff die Augen zu und beruhigte mich langsam. Langsam wurde ich immer müder, bis ich schließlich endlich, neben Ranpo einschlief.
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