Ertrinken ist leicht
„THIS AUGUST I BEGAN TO DREAM OF DROWNING"
Ertrinken fühlte sich leicht an. Friedlich. Still. Und Stille war genau das, wonach Edward sich in seiner viel zu lauten Welt sehnte. Er hasste den schrillen Tonfall seiner Mutter, wenn sie schrie. Hasste die knurrenden, lallenden Laute, die sich der Kehle ihres Streitpartners entrangen. Hasste die klatschenden, manchmal knackenden Geräusche und das Heulen, das folgte, wenn der elende Säufer einmal wieder zuschlug.
Schon lange drängte er sich nicht mehr dazwischen, um die Hiebe abzufangen. Es machte keinen Sinn, denn am Ende folgte stets das gleiche Resultat. Er ging aus dem Faustkampf als Verlierer hervor, mal mit einer zerbeulten Stirn, mal mit gebrochener Nase, mal mit einem satten Veilchen um eines oder gar um beide Augen und musste sich den wüsten Beleidigungen Adrian Thompsons stellen. Denn was den Zorn des Arschlochs noch mehr entfachte, als der Alkohol in seinen Venen, war die Tatsache, dass Edward niemals zurückschlug. Nicht, weil Adrian es nicht verdient gehabt hätte, sondern weil er sich nicht auf das gleiche, ozeantiefe Niveau hinab begeben wollte. Niemals.
„Werd endlich zum Mann! Wehr dich, verflucht! Hat dir jemand deine gottverfluchten Eier abgeschnürt, du verschissener Feigling?! Du kleine, miese, Hosenscheißer-Sau!"
Dann die Faust, die in seinem Gesicht detonierte, obwohl er die Arme schützend davor gehalten hatte. Adrian schaffte es immer wieder, eine Lücke in seiner viel zu schlechten Deckung zu finden.
Edward hätte es weiter ertragen. Fünfmal, sechsmal, vielleicht auch zwanzig Mal, wenn es danach anders weitergegangen wäre. Wenn nur die geringste Chance darauf bestanden hätte, dass seine dämliche Mutter endlich verstanden hätte, dass der einzige Weg aus diesem Teufelskreis darin bestand, ihren prügelnden Liebhaber zu verlassen. Wie oft hatte Edward ihr davon gepredigt? Sie regelrecht angefleht, endlich ihr weniges Hab und Gut zusammenzupacken und zu verschwinden. Kurz nach der Prügelei lenkte sie fast immer weinend ein, versicherte ihm, es wäre das letzte Mal soweit gekommen, tupfte ihm das Blut aus der Stirn und entschuldigte sich unzählige Minuten lang dafür, was ihr Arschloch von Kerl ihm angetan hatte.
Und dann, wenn der nächste Morgen sich über das triste London herabsenkte, er bereit war und seinen Kram in einer Tasche verstaut hatte, lag sie wieder friedlich schlafend in Adrians Armen.
Natürlich hätte er einfach alleine das Weite suchen können. Doch zu was für einem beschissenen Sohn hätte ihn das gemacht, seine Mutter ihrem Verderben zu überlassen? Außerdem war da dieses Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte. Ein Schwur, scheinbar ohne jeglichen Tiefgang, denn er hatte ihn in der Annahme ausgesprochen, sein Vater würde in zwei Wochen von seiner Dienstreise zurückkehren. Doch als sie die Nachricht erreichte, er wäre während seiner Arbeiten auf den Gleisen von einem Zug erfasst worden, der diese Strecke an diesem Tag gar nicht hätte fahren dürfen, hatte sich das Gelöbnis schwer an seine Schultern geheftet, seine Krallen ausgefahren und sich in ihn gegraben und er konnte es einfach nicht mehr abschütteln.
So war er zwar war geblieben, aber er hatte aufgehört für seine Mutter einzustehen. Vielleicht irgendwie in der Hoffnung, sie würde es endlich begreifen, wenn die Fäuste von Adrian nicht länger ihren Sohn sondern sie selbst trafen. Aber auch das half nicht an ihrem manipulierten, festgefahrenen Verstand zu rütteln. Windelweich ließ sie sich von dem Säufer prügeln, hatte sich sogar zwei ihrer Rippen von ihm brechen und drei Zähne ausschlagen lassen, doch wenn sie einen Fuß über die stinkende Wohnung ins Freie setzte, dann war es nicht um zu verschwinden, sondern um einzukaufen oder im Park die Enten zu füttern.
Edwards Hände hielten die Umrandung des einst weißen Waschbeckens fest umklammert. Heute war es gelblich verfärbt, wie die Tapeten auch. Adrian trank nicht nur verflucht viel, sondern qualmte auch noch wie ein Schornstein. Gut, in dieser Hinsicht war Edward ihm ähnlicher, als er es sich jemals eingestanden hätte. Auch er füllte seine Lungen tagtäglich mit einer viel zu hohen Dosis Tabakrauch. Doch diese kleine Sucht machte es erträglicher, sein mieses, tristes Leben. Und er frönte ihr nicht im Inneren ihres Heims, sonder trat dazu vor die Haustür. Immer.
Was ihm auch Ruhe schenkte, besonders in den Momenten, in denen Adrian sich einmal wieder seiner Rage hingab, war das Badezimmer abzuschließen und das Keramikbecken bis zum Ablauf mit Wasser zu füllen. Das Rauschen, das sich auf seine Ohren legte, sobald er seinen Kopf untertauchte, dämpfte den Lärm und wenn er zusätzlich versuchte ihn auszublenden, dann hörte er ihn so manches Mal gar nicht mehr.
Zwanzig Sekunden vergingen. Dreißig. Vierzig. Er hielt die Augen geschlossen, genoss das Gefühl des eisigen Nass' auf seiner Haut und wie sich sein dunkles Haar damit vollsog. Er wartete nie, bis das Wasser eine angenehme Temperatur erreichte, ehe er den Stöpsel in den Abfluss stopfte. Zum einen, weil er nicht länger als unbedingt nötig warten wollte, warten konnte, seiner leidvollen Realität zu entfliehen. Zum anderen, weil die schneidende Kälte seinen Verstand geschärft hielt und ihn wach machte.
Eine Minute verstrich. Zwei. Langsam begann seine Lunge zu brennen und das Bedürfnis, Luft zu holen sickerte in sein Bewusstsein. Doch er wollte noch nicht wieder auftauchen.
Er fragte sich, wie viel Willenskraft es bedurfte, sich so lange unter Wasser zu halten, bis ihn die süße Schwärze einer Ohnmacht einhüllte.
Seine Hände verkrampften sich um das Keramik. So fest, dass er sich sicher war, seine Knöchel traten weiß hervor. Ein hübscher Kontrast zum gelblichen Becken.
Seine Muskeln fingen zu zittern an. Aber er zwang sich den Kopf weiterhin nicht wieder zu heben.
Drei Minuten. Er wollte den entscheidenen Atemzugt tun, der seine Lungen mit der kalten Flüssigkeit gefüllt und sie dazu gebracht hätte, ihm den Dienst zu versagen. Doch es gelang ihm nicht Herr über seine Instinkte zu werden, die ihn anschrieen endlich aufzutauchen und Luft zu holen. Und da war noch immer seine Mutter. Das Versprechen.
Verdammt, Ertrinken wäre so leicht gewesen, hätte er es anstelle in einem nach Zigarettenrauch stinkenden Waschbecken im Teich des Central Parks versucht. Mit Steinen, die er sich zum Beschweren in die Manteltaschen stopfte. So machten es doch die armen, depressiven Tröpfe in den Filmen auch immer.
Aber wollte er das wirklich?
Ja, vielleicht wollte er es. Aber er konnte es nicht.
Sobald das Bild seiner verprügelten Mutter vor seinem inneren Auge auftauchte, wie sie zusammengerollt und winselnd wie ein getretener Welpe auf der mit Brandlöchern übersäten Couch kauerte, riss er den Kopf in den Nacken und atmete die Luft ein, die ihm diesem Moment schneidender erschien als das eiskalte Wasser. Er machte sich auf die gewaltvolle Geräuschkulisse bereit, doch anders als erwartet herrschte Stille.
Er wusste nicht, ob ihn dieser Umstand erleichtert oder sorgenvoll stimmen sollte.
Keuchend hielt er sich am Waschbecken fest, die Knie zittrig vom Sauerstoffmangel. Tropfen um Tropfen löste sich von seinem Kinn und seinen Haarspitzen. Erst nach einigen Sekunde schaffte er es, ins Wasser zu greifen und den Stöpsel zu ziehen. Gurgelnde Laute wie die eines Ertrinkenden erfüllten das kleine Badezimmer. Er konnte nicht anders, als einen gewissen Neid zu empfinden.
Erst als auch das letzte bisschen Wasser im Siphon versickert war, richtete er sich zu seiner vollen, nicht wirklich stattlichen Größe auf. Mit seinen 1.70 Metern lag er deutlich unter dem Durchschnitt. Auch darüber amüsierte sich Adrian häufig genug. Darüber und über seine ansonsten ebenfalls wenig imposante, schmächtige Statur. „Solltest mehr Sport treiben, Hungerhaken. Vielleicht würden dir wachsende Muskeln auch endlich die Eier anschwellen lassen."
Wie die meisten seiner Beleihungen prallten auch die Bemerkungen zu seinem Aussehen an Edward ab. Ja, er mochte kein Käpt'n Popeye sein und würde wahrscheinlich auch niemals zu einem werden, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er unattraktiv war.
Er betrachtete sich im runden, mit Falschgold umrahmten Spiegel, der von seinem heißen Atem zunehmend beschlug. Seine dunklen Haare, die sich leicht lockten, hatte er von seiner Mutter geerbt. Die Augen, die an manchen Tagen mit einem kalten Winterhimmel und an anderen mit dem friedlichen Meer im Sommer zu vergleichen waren, abhängig von seiner Stimmung und den Lichtverhältnissen, waren die seines Vaters.
In letzter Zeit waren sie allerdings nur noch von einem frostigen Grau. Fast so, als hätte sein ständiger Begleiter, das Trübsal, ihnen jegliches lebendige Blau genommen. Seine Augen schienen so leer, wie er sich fühlte.
Blind tastete er nach dem rauen Handtuch, das verlässlich neben dem Waschbecken an seinem Haken hing und trocknete sich damit ab. Der verwaschene, lila Stoff kratzte ihm unangenehm im Gesicht. Die Nässe sog er nurmehr halbherzig auf. Edward seufzte. Den Rest würde die Luft tun.
Sobald er fertig war, verharrte er in einer halb gebeugten Pose und lauschte auf jedes noch so leise Geräusch. Doch es war nach wie vor still wie an einem Totengrab. Nicht einmal ein leises Weinen drang durch die dünne Tür, die das Badezimmer vom Rest der mickrigen Wohnung trennte.
Wahrscheinlich war Adrian abgehauen, wie er es immer öfter nach einem Streit tat, nachdem er Edwards Mutter an den Kopf knallte, sie wäre so scheiße dämlich, dass er sie bald verlassen würde. Manipulatives, narzisstisches Arschloch. Und anstatt dass er sich bei ihr entschuldigte, sobald er wieder nach Hause kam, warf sie sich ihm zu Füßen und bat ihn um Verzeihung für Dinge, die sie nie getan hatte.
Dieses Schauspiel sah Edward sich nur selten an. Zu depressiv stimmte es ihn, da es ihm immer wieder zeigte, wie verdreht diese Welt doch war. Wie falsch. Wie ... unwürdig.
Manchmal wünschte er sich, die Aliens aus den viel zu bunten Comics, die er als kleiner Junge verschlungen hatte, wären real und würden nicht mehr lange auf sich warten lassen, bis sie kamen, um jedes menschliche Leben auszulöschen.
Aber da das wahrscheinlich niemals geschehen würde, egal wie sehr er es sich auch wünschte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der beschissenen Realität wieder und wieder zu stellen.
Als er die Tür aufschloss und in den kurzen Korridor spähte, umhüllte ihn die Dunkelheit des angebrochenen Abends. Es war noch Spätsommer, dennoch verkürzte die Sonne bereits zunehmend ihre Arbeitsstunden, sodass es um halb acht so duster war, dass die Glühbirnen ihren Dienst antraten. Eigentlich flackerte um diese Zeit das schmutzig orange Licht aus dem offenen Wohnzimmer und warf Schatten an die gegenüberliegende Wand mit der gelben Tapete.
Eigentlich.
Ein schlechtes Gefühl breitete sich in Edwards Bauchgegend aus, während sich seine Fingernägel unsicher in den spröden Türrahmen des Badezimmers krallten. „Mom?", rief er in die ungewohnte Düsternis, erhielt aber keine Antwort. Damit hatte er zugegeben auch nicht gerechnet. Aber nicht einmal ein Schluchzen?
Er hätte losstürmen sollen, um nach ihr zu sehen, aber Angst lähmte seine Glieder. Hatte er sein Versprechen gebrochen? Weil er es leid gewesen war, ständig den Sandsack zu spielen, in dem Adrian nur zu gerne seine Fäuste versenkte? Verdammt ... er hatte immer gewusst, irgendwann würde es übel ausgehen. Aber er hatte immer gehofft, seine Mutter würde zu Besinnung kommen, bevor es so weit kam.
Jetzt, in der zum zerreißen gespannten Stille, verblasste dieser letzte Silberstreif am Horizon. Er fürchtete sich vor dem Anblick, der sich ihm bieten würde, sobald er seinen Mut zusammennahm, um nachzusehen. Um das zu tun brauchte er sicherlich fünf Minuten, die sich allerdings wie eine Ewigkeit anfühlten. Dann, als er schließlich einen Schritt hinter den anderen setzte und sich langsam aber sicher dem dunklen Wohnzimmer annäherte, waren seine Füße so schwer wie Blei. Als hätte er sich tatsächlich massive Steine in die Taschen gestopft, die ihm dabei helfen würden über seine Instinkte zu siegen.
Aber wie zuvor am Waschbecken gewannen sie die Oberhand über das, was er eigentlich wollte: Wegrennen und sich dem, was er zu verantworten hatte, niemals stellen. Aber das Versprechen. Das gottverdammte Versprechen. Hätte er es seinem Vater doch niemals gegeben!
„Mom?" Mit zittrigen Fingern tastete er die Wand rechts neben der Wohnzimmertür ab. Seine letzte Hoffnung, er hätte sich vielleicht in Luft aufgelöst, erstarb, sobald er den kleinen Kippschalter zu greifen bekam. Er ertappte sich dabei, wie er wie ein Feigling die Augen zusammenkniff, im gleichen Moment, in dem die Glühbirne mit einem leisen Surren ansprang.
Ein letztes Mal versuchte er es. „Mom?" Seine Stimme tönte brüchig, wie sie es nur selten tat. Meistens klang er gefasst und selbstbewusst, jetzt aber hörte er sich mehr nach dem zwölfjährigen Jungen an, der seine Mutter zum ersten Mal in einer Lache ihres eigenen Blutes vorgefunden hatte. Damals als sie versucht hatte sich die Pulsadern aufzuschlitzen, nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfahren hatte.
Gottverdammt, damals war er noch ein Kind gewesen, aber mutiger als in dieser Sekunde. Er hatte den Telefonhörer gegriffen und den Notruf verständigt und das ohne zu heulen oder vor Angst die Augen zu verschließen.
Reiß dich zusammen, Edward!, mahnte er sich in Gedanken und zwang sich die Lider aufzuschlagen. Scherben einer Bierflasche ergossen sich über den Teppich mit weißem Tigerkopf. Hier und da mischten sich Blutspritzer in das helle Fell mit den schwarzen Streifen. Zitternd lenkte er seinen Blick weiter durch den Raum.
Verdammt, im Waschbecken zu ertrinken wäre definitiv leichter gewesen, als sich mit seinem Versagen zu konfrontieren.
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