❀ Kapitel 11
»Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es Dir sein, als lachten alle Sterne... Du allein wirst Sterne haben, die lachen können.«
(Antoine de Saint-Exupery)
Es war Sonntagvormittag, als Leonard aus dem Büro verschwand, da er ein paar Dokumente auf seinem Tisch liegengelassen hatte, die er noch rechtzeitig bearbeiten wollte. Die Räume waren leer und es war angenehm still überall, nirgendwo war eine Ally, die mal wieder etwas fallen ließ oder quer durch die Etage brüllte, um ihn damit zu nerven.
Der Krach der Außenwelt traf ihn dafür überraschend, nachdem er das Gebäude verließ. Seine Augen beobachteten alles, was um ihn herum passierte. Dennoch erreichte nichts davon Leonards Verstand, sein einziger Gedanke war die Erinnerung am Vorabend.
Diese wurde nur verstärkt, als eine Familie mit zwei kleineren Kindern an ihm vorbei lief.
Ein Junge und ein Mädchen.
Oft fragte er sich, wie sein Leben gewesen wäre, wenn seine Vergangenheit es nicht so tiefschwarz gefärbt hätte.
'Würde Oscar in meine Richtung gehen? Vielleicht ein Architekt. Wobei ihn Maschinenbau wohl eher interessiert hätte. Meine kleine Nell...-Dramatik lag ihr schon immer besonders gut. Möglicherweise hätte sie sich in eine Theaterschule einschreiben lassen.'
Sein Herz schmerzte, weil es die Antworten auf die Fragen wohl nie mehr bekommen würde.
Er stockte.
Seine Hände wanderten unbemerkt zum Handy und wählten automatisch ihre Nummer aus den Kontakten heraus.
„Was gibts, Leonard?"
„Ich, ähm... wann soll ich nochmal da sein? Wegen dem Jungen, meine ich."
Magnolia antwortete nicht sofort, sondern fragte sich wohl eher, weshalb Leonard anrief.
Es sprach schließlich gegen seiner Natur, einen Termin zu vergessen. Im Prinzip war Leonard ein wandelnder Terminkalender.
„Leonard? Der nächste Punkt. Setze dich in irgendeinen Park. Atme tief aus und genieße dort die Stille um dich herum."
Sie wusste, dass ihm etwas zu schaffen machte. Wie so oft konnte es sich nur um seinen eigenen Kopf handeln.
„Ich dachte meine Lektion für heute ist es, mal wieder so leichtsinnig wie ein Kind zu sein."
„Kühnheit ist Leichtsinn im richtigen Moment."
Leonard fühlte sich von einem simplen Zitat übertroffen, dennoch war Mags bereit ihm einen weiteren Grund für die Pause zu nennen.
„Wir haben nie gesagt, dass pro Tag nur ein Punkt von der Liste abgearbeitet werden darf. Außerdem merke ich, dass es dir gerade nicht gut geht. Vielleicht wird es dir helfen, vertrau mir. Bis später."
Er fand den Weg zum Granville Park, ließ sich dort auf eine Bank nieder und kehrte für einen Moment lang in sich, so wie Mags es ihm geraten hatte.
Der Tag schritt immer weiter voran und so wurde Magnolia gerade mit einem Fotoshooting fertig. Fünf junge Mädchen wollten ein Shooting starten und die Ergebnisse einsetzen, um ihre Sedcards zu erweitern und sich bei Modelagenturen zu versuchen.
Magnolia konnte aufgrund der Träume kaum ein Grinsen unterdrücken, dennoch schienen alle sehr entschlossen und ehrgeizig zu sein und das bewunderte sie vielmals. Mags wünschte ihnen viel Erfolg bei dem Nachjagen ihrer Träume, den sie sah sich selbst in den Mädchen.
Die Tür vom Mietstudio schloss sich langsam zu, danach war Magnolia wieder auf sich alleine gestellt.
'Erst einmal alles aufräumen. Wie sehr ich das doch liebe.' Unglücklicherweise hielt sich Henry gerade nicht in der Nähe auf, ansonsten wäre er sofort an Ort und Stelle, um den Laden auf Hochglanz zu polieren.
Er wurde stattdessen zu deren ehemalige Universität eingeladen und gebeten einen Kurs zu begleiten, um die aufstrebenden Studenten zu motivieren. Mittlerweile war er bestimmt wieder zuhause und chillte in seiner Hängematte auf dem Balkon.
Die Zeit lief immer weiter vorwärts und übte Druck auf Mags aus.
'Ich sollte mich beeilen, bevor Leonard noch die Nerven verliert.'
Nach einer knappen Stunde glich das Studio wieder seinem ursprünglichen Dasein und Magnolia konnte zufrieden den Besen zurück in seine Ecke verfrachten.
Zufrieden schloss sie die Tür hinter sich zu und trat den Heimweg an.
Leonard fuhr mit seinem Wagen auf den Parkplatz vor dem Wohnblock und wunderte sich kaum darüber, dass Magnolia fehlte. Die Wohnung sah zwar verlassen aus, aber möglicherweise ruhte sie sich einfach nur aus.
Selbst ein Energiebündel wie sie hatte das mal nötig.
Das Klingeln vor dem Treppenhaus blieb erfolglos, auch gab die Sprechanlage keinen Ton von sich.
Leonard entschied vor der verschlossenen Tür zu warten. Entweder stürmte sie in wenigen Minuten die ganzen Treppen von oben herunter oder aber sie würde ganz entspannt um die Ecke geschlichen kommen und aufschrecken, da sie die Zeit vergessen hatte.
Vermutlich war es die zweite Wahl.
Er zuckte als ein penetrantes Piepen in seinen Ohren ertönte, was ihm den Zugang in das Treppenhaus gewährte. Nervös stieg er die Stufen bis nach oben rauf und erwartete auf Mags zu treffen.
Fehlanzeige.
Nachdem er oben angekommen war und versucht hatte seine Atmung in den Griff zu bekommen, stieß er auf einen jungen Mann. Ungefähr imselben Alter von Magnolia.
„Guten Tag, Sir."
Der Mann schien genauso verunsichert zu sein wie Leonard, was ihm Erleichterung bereitete.
„Sie sehen nicht danach aus, als würden Sie einen Babysitter brauchen."
Henry zog verwirrt eine Augenbraue in die Höhe, der sarkastische Unterton amüsierte ihn allerdings, sodass er auf den Zug mit aufsprang.
„Welch bodenlose Unterstellung."
Noch einmal musterte der Nachbar von Magnolia den reservierten Mann vor sich. Er hatte ein gepflegtes Erscheinungsbild und einen Hang zu teuren Marken.
Innerlich rollte er die Augen, konnte es sich vermutlich nur um eine Person handeln. Normalerweise hatte Mags mit solchen Menschen kaum etwas zu tun.
„Ich nehme an, Sie sind Mr Tremblay. Mags' derzeitiger 'Boss'...-oder wie man es nennen will."
Leonard nickte ihm aufmerksam entgegen und begann seinen Blick über Henry wandern zu lassen.
„Magnolia hat nie etwas von einem Partner erwähnt."
„Ich bin ihr Nachbar. Kein Grund für Gerüchte."
Die Sympathie wollte nicht so recht überspringen.
Henry wusste selbst nicht genau, wieso er Leonard so grob anfuhr. Zum Glück wurde deren peinliche Schweigeminute von polternden Schritten im Treppenhaus unterbrochen.
„Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Ich war noch kurz einkaufen und habe dabei-"
„-die Zeit vergessen."
Beinahe zeitgleich brachten die beiden Männer ihren Satz zu Ende und warfen sich einen missbilligenden Blick zu.
„Henry, danke, dass du Mr Tremblay reingelassen hast. Leonard? Hier entlang."
Mags spürte das Misstrauen der beiden sofort und wollte dazwischen grätschen, ehe noch ein Wort fiel, was im Nachhinein für großen Ärger gesorgt hätte. Magnolia machte die Tür auf und lud Leonard mit einer hektischen Geste in ihre Wohnung ein, aber nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und Henry einen mahnenden Blick entgegen zu werfen.
Dieser lächelte bloß unschuldig und ließ seine Tür donnernd ins Schloss fallen.
„Tut mir Leid für Henrys Laune. Normalerweise ist er unproblematisch."
„Du meinst, wenn du nicht gerade männlichen Besuch erwartest, den er nicht zuordnen kann."
Magnolia war gerade dabei sich einen Kaffee aus ihrer Maschine zu ziehen, als sie skeptisch über ihre Schulter zu Leonard blickte.
„Wie meinst du das?"
Leonard merkte nicht, wie er ein paar ihrer Dekorationen in die für ihn passenderen Positionen rückte. Mags schüttelte lächelnd den Kopf, ließ ihn sich einfach austoben.
Es lag eben in seinen Genen.
„Komm schon, Mags. Du bist doch sonst nicht so schüchtern. Dein Nachbar scheint dich sehr zu mögen."
Das Gespräch nervte sie, deshalb ging Mags auf Leonard zu und nahm ihm einen Dekowürfel aus der Hand, um diesen wieder in seine alte Position zu rücken.
„Es gibt keinen Grund mein Privatleben in eine Unterhaltung miteinzubauen. Marcus wird seinen Sohn hier gleich absetzen. Möchtest du davor noch einen Kaffee?"
Leonard grübelte und entschied sich einfach für ein bejahendes Nicken.
„Ich dachte, wenn du schon damit beginnst mein Leben zu analysieren, dürfte ich es vielleicht als Gegenleistung auch bei dir tun. Er scheint ein netter Kerl zu sein, also-"
„-können wir das bitte verschieben? Bitte?"
Ein Schulterzucken folgte. Sie lief auf ihn zu und brachte ihm mit nervösen Schritten die Tasse.
„Wenn du unbedingt darüber sprechen willst, dann werden wir das. Aber nicht jetzt."
„Fein, dann eben, nachdem ich deinen Job übernommen habe."
„Und was bitte mache ich schönes, während du meine 'Schicht' übernimmst, hm?"
Leonard blieb stumm, wollte ihr den Schachzug nicht gönnen, aber im nächsten Augenblick klopfte es bereits an der Tür und Mags stürmte los.
„Hey Marcus und hallo David."
Der Junge war alles andere als begeistert von seiner früheren Babysitterin bemuttert zu werden.
Allerdings war es seine eigene Schuld.
Seine Noten rutschten seit einigen Monaten steil herab und mit seinem rebellischen Verhalten stieß er bei seinen Eltern auf Missgunst. Sein Vater redete mit Magnolia, während David unter ihrem Arm hindurchlief und sofort den fremden Mann im Wohnraum wahrnahm.
„Wer bist du denn?" Sofort fielen seine Augen von oben nach unten an Leonard herab, verharrten an der Uhr an seinem Handgelenk.
Kurz schwankte sein Blick zu Magnolia herüber.
Seit er Mags kannte, hatte sie nie einen Freund gehabt. Den einzigen männlichen Besuch bekam sie regelmäßig von Henry.
„Mein Name ist Leonard. Wie wäre es mit einem Hallo?"
„Hey."
Magnolia verabschiedete sich von Marcus, der den Abend zusammen mit seiner Frau genießen wollte und einfach nur eine zuverlässige Person brauchte, die kontrollierte, ob David auch wirklich für die Schule lernte. Mathe war noch nie sein bestes Fach gewesen, sehr zum Leidwesen von Mags, denn das Fach landete definitiv auch bei ihr nicht unter den Favoriten.
'Zum Glück ist Leonard für die paar Minuten hier, er wird ihm wohl mehr beibringen können als ich.'
„Na, seid ihr fertig damit euch gegenseitig zu beschnüffeln?"
Leonard warf ihr einen müden Blick zu, den David nur allzu gern reflektierte.
„Mags? Was macht er hier? Ich dachte, du passt auf. Ich hab extra meine Konsole in meinen Rucksack geschmuggelt."
Mags fühlte sich mehr als ertappt, als sie das amüsierte Funkeln in Leonards grellen Augen sah.
„Ach, das verstehst du also unter 'Babysitting'. Na dann, tue dir keinen Zwang an, du Zwerg. Spiel deine Spiele, ich halte die Stellung, während Mags weg ist."
David war noch immer misstrauisch, aber das der komische Kerl ihm erlaubte mit der Konsole zu spielen brachte ihm viele Sympathiepunkte ein.
„Von wegen. David braucht Unterstützung bei seinen Hausaufgaben und für die Klassenarbeit nächste Woche."
„Welches Fach?"
Nun mischte sich David in das Gespräch mit ein.
„Mathe."
„Sollte machbar sein."
Bevor Mags die beiden für eine kleine Weile allein ließ, wies sie Leonard noch daraufhin nicht allzu streng mit David zu sein. Für Leonard musste Mathematik etwas logisches und einfaches sein, aber Mags wusste aus eigener Erfahrung wie schwer David sich damit tat es nachzuvollziehen.
„Bis später. Benehmt euch."
David gab ein gequältes Stöhnen von sich, als Leonard ihn dazu anwies seine Lernbücher herauszuholen.
Mittlerweile war Mags im Krankenhaus angekommen und erspähte die ältere Frau hinter der Empfangstheke.
„Guten Abend, ich würde gerne Linda Bradshaw besuchen."
„In welchem Verhältnis stehen Sie zu der Patientin?"
„Ähm-ich bin eine Freundin von ihr. Ich bleibe auch nicht lange."
Die Rezeptionistin tippte etwas im Computer ein und nach etwa einer Minute gab sie ihr die nötige Auskunft.
„Zimmer 138."
„Vielen Dank."
Die Flure im Krankenhaus erschienen einem immer ewig lang und boten nahezu jedes Mal ein erdrückendes Gefühl. Der sterile Geruch drang einem in die Nase, während man die richtige Tür suchte.
Magnolia empfand es immer schon als einen trostlosen Ort, nicht einmal die bunten Papierblumen an den Fensterscheiben konnten diese überdecken.
Sie kam vor dem gesuchten Zimmer zum Halten und klopfte zaghaft an die Tür, bevor sie langsam die Klinke nach unten drückte und in den hellen Raum eintrat.
„Hallo, Miss. Haben Sie sich im Zimmer versehen?"
Mags trat näher an das Bett heran und begutachtete die ältere Frau, die darin lag.
„Um ehrlich zu sein, nein. Mein Name ist Mags Dearing und ich bin hier, um gute Genesungswünsche von Leonard Tremblay zu überreichen."
Magnolia legte den Blumenstrauß und die Pralinen in ihren Händen auf den kleinen Beistelltisch ab und hielt der Frau ihre nun freie Hand hin.
„Mein Name ist Linda. Freut mich, dass er Sie extra geschickt hat, um mir eine kleine Freude zu machen."
Linda quälte sich in eine aufrechte Position, doch Mags beschwichtigte sie ruhig zu bleiben und sich nicht unnötigen Schmerzen auszusetzen. Nach einem schweren Sturz vor knapp zwei Wochen musste eine neue Hüfte her.
Das fand Mags heraus, nachdem sie sich den freien Stuhl nahm und sich zu ihr ans Bett setzte. Die Zeit verflog relativ schnell, denn Linda war eine talentierte Erzählerin. Am Anfang berichtete sie Magnolia von ihrer ersten Begegnung mit Leonard, dem scheinbar unnahbaren Architekten.
Es folgten interessante Details über seine Vergangenheit. Mags war überrascht, welche Gerüchte oder auch Tatsachen dabei an die Öffentlichkeit getreten wurden.
'Woher sollten Außenstehende wissen, dass seine Frau ihn mit dem ehemaligen Assistenten betrogen hat... oh, man.'
Mags wollte die meisten Details nicht wirklich wissen, aber Linda vertraute ihr und nachdem Magnolia ihre Beziehung zu Leonard erklärte, war das Vertrauen zwischen den Damen umso mehr gewachsen.
„Danke für den netten Besuch, Mags. Richte Leonard meinen Dank und liebe Grüße aus. Bist du so lieb?"
„Aber natürlich. Ruh' dich weiterhin gut aus, Linda. Er vermisst deinen morgendlichen Kaffee."
Beide lächelten zum Abschied, dann verließ Magnolia den Raum mit den Eierschalen farbenen Wänden und freute sich darauf, dass sie bald schon ihre Füße hochlegen konnte.
Der Kopf des Jungen rauchte noch immer, auch, wenn er das Thema 'Lineare Funktionen' von seiner 'Ich-raffe-gar-nichts-mehr-Liste' streichen konnte.
Leonard versuchte alles, was visuell möglich war, um dem Jungen bei seinen Schwierigkeiten zu helfen und irgendwann erwiesen sich seine Bemühungen auch als nützlich.
„Können wir jetzt endlich aufhören?"
Leonard überlegte, ob er den Jungen nicht noch weiter mit Mathe ärgern wollte. Immerhin lag Mags mal wieder über die ausgemachte Zeit und er hatte keine Ahnung, was er in der Zwischenzeit tun sollte.
„Na schön, dann spiele mit deiner Konsole, solange Mags noch weg ist."
Erleichtert holte David die nötigen Kabel aus seinem Rucksack und schloss alles am Fernseher an, ehe er sich auf die Couch schmiss.
„Hey, weißt du-... du hast mir Mathe beigebracht. Wie wär's, wenn ich dir beibringe, wie man garantiert erster in Warzone wird?"
Der Junge hielt verlockend seinen Controller in die Luft, aber Leonard hatte nicht viel für den Vorschlag übrig.
„Ich denke kaum, dass mir diese Fähigkeiten in meinem Leben weiterhelfen werden."
David zuckte bloß mit den Schultern.
„Dann chill doch einfach bis Mags wieder hier ist. Du kannst ja zugucken."
Auch diesen Vorschlag wollte Leonard missbilligend ablehnen, doch er hatte gerade nichts besseres zu tun und David war ein fünfzehn jähriger Junge. Warum sollte er ihn also für seine typisch kindliche Ungezwungenheit zurückweisen?
'Weil es Oscar hätte sein können mit dem ich in diesem Moment auf der Couch chille.'
„Na schön, Deal."
David stand kurz von seinem Platz auf, um sich an Mags Schrank schaffen zu machen und nahm sich eine Tüte Chips heraus. Leonard beobachtete David nur bei seiner Erbeutung. Wenn er so genau wusste, wo es was zu bekommen gab, hatte er das sicherlich nicht zum ersten Mal gemacht.
Die beiden saßen wieder stumpf auf der Couch, redeten kaum. David schob seinem Sitznachbarn ab und an die Tüte unter die Nase, doch Leonard rümpfte diese nur und blockte ab. Im großen Wohnraum hörte man die Geräusche des Fernsehers und das permanente Klicken der Knöpfe vom Controller.
„Also, du und Mags ... heißt das, ihr-"
Leonard blieb beinahe der Atem weg, als er den Jungen anschaute, der sich ihm zuwendete.
„-nein! Wir führen eine rein geschäftliche Beziehung zueinander. Nicht der Nachfrage wert."
David rollte die Augen und entschied sich keine weiteren Fragen zu stellen, für die er eh nur abgewiesen wurde.
Hinter der Wohnungstür erklangen Schritte, die plötzlich zum Stillstand kamen. Für Leonard ein hoffnungsvolles Zeichen, dass er sich nicht weiter mit David unterhalten musste. Das konnte Magnolia nun stattdessen wieder übernehmen.
„Na, hattet ihr Spaß?"
„Seit zwanzig Minuten bestimmt."
Mags hing ihren Mantel an die Garderobe und schmiss ihre Schuhe aufs Regal, damit der Abend endlich gemütlich werden konnte.
„Wie geht es ihr?"
„Ein schwerer Sturz bei der Gartenarbeit. Sie hat eine neue Hüfte bekommen, aber den Umständen entsprechend geht es ihr gut. Linda hat sich sehr über den Besuch gefreut und lässt dich lieb grüßen."
Er war zufrieden, dass es seiner alten Bekannten gut ging. Die Information genügte ihm jedenfalls, um endlich aufzustehen und schnellstmöglich das Weite zu suchen.
„Du fährst zweigleisig, Alter? Gar nicht cool."
Der Seitenhieb von David ließ ihn allerdings in einer Starre zurück. Magnolia verstand weder Davids Anmerkung noch den peinlich berührten Blick in Leonards Augen.
„Was bitte meinst du, David?"
„Nicht wichtig." Leonard warf David einen mahnenden Blick zu und versuchte so weitere blöde Bemerkungen vorzubeugen.
„Wenn du willst, können wir eine Pizza bestellen. Falls das noch nötig ist." Mags' Blick richtete sich auf David, bevor sie ein paar Schritte auf ihn zuging und ihm die Chipstüte wegnahm.
„Klingt annehmbar. Aber wir spielen nicht wieder so ein blödes Brettspiel, oder?"
Ein gequältes Stöhnen entkam ihm, aber Magnolia ließ sich nicht beirren.
„Leonard, bleibst du auch noch?"
'Nein.'
Er war sich sicher, dass sein Blick die Antwort aus seinen Gedanken erfolgreich reflektierte. Aber selbst, wenn dem so war... Mags akzeptierte selten ein Nein.
„Wenn es sein muss."
„Es muss."
Die drei saßen später zusammen am Esstisch und führten eine Unterhaltung. Genauer gesagt erzählte David Mags ein paar Geschichten rund um die Schule und Leonard saß eher teilnahmslos daneben.
„Okay, wisst ihr was, lasst uns was spielen."
Zur Überraschung der beiden Erwachsenen schlug David diese schlichte Idee vor.
„Was schwebt dir vor? Etwa ein blödes Brettspiel?"
David schob die Flasche beiseite, die sich zwischen Magnolia und ihm geschummelt hatte und seine Sicht blockierte.
„Wärst du lieber-... hm... hässlich aber lustig oder heiß, dafür mega langweilig?"
Mags kehrte tatsächlich für einen Moment in sich und überlegte sorgfältig, woraufhin Leonard ein schiefes Lächeln verlor.
„Das ist eine ziemlich langweilige Frage, David."
„Okay. Hast recht, ich meine, dass erste trifft ja so oder so auf dich zu."
„Du kleiner Mistkerl!"
Spielerisch boxte Magnolia ihm gegen den Arm und versuchte möglichst wenig Blickkontakt mit Leonard aufzubauen, der zwischen den beiden am Tischende saß.
„Aua, mach's doch besser!"
Magnolia tippte nachdenklich mit ihren Fingernägeln auf dem Tisch herum.
„Würdest du eher wie Gollum reden oder wie Darth Vader atmen?"
„Ich will klingen wie Darth Vader, dann haben alle angst vor mir."
Weitere Fragen schossen in der Luft hin und her, fast so schnell wie der Ball bei einem Ping-Pong Match.
„Was ist mit dir, Leonard? Würdest du lieber für den Rest deines Lebens Socken mit Sandalen tragen oder Crocs?"
„Das kommt auf die Farben drauf an."
Je mehr Fragen gestellt wurden und desto mehr sich der Abend in die Länge zog, wurde der Raum durch buntes Gelächter erfüllt. Magnolia merkte zu spät, dass sie Leonard eine ganze Weile dabei beobachtete wie er zusammen mit David herzhaft lachen musste. Er neigte seinen Blick zu ihr und für eine winzige Sekunde schien es, als konnten die beiden sich nur anhand dessen verständigen.
'Schön, dass du dich über den Abend doch noch freuen kannst.'
'Lass es dir nicht über den Kopf steigen.'
„Hey, Mags! Entscheide dich endlich."
Beide Erwachsene lösten rasch den Blick voneinander, nicht wissend, was der Junge wollte.
„Sorry, David. Zwischen welchen dummen Entscheidungen muss ich dieses Mal eine Wahl treffen?"
„Willst du in dieser Welt leben oder in einer anderen, dafür völlig fremden?"
Beide stutzten.
„Was meinst du?"
„Na, was denkst du, wäre besser?"
Was sollte man großartig sagen? Andere Orte? Jenseits der bekannten Welt und ihrer Gesellschaft, was war da schon? Falls es wirklich eine weitere Ebene gab auf der man leben konnte, kamen immerhin noch keine Menschen zurück, um von ihrem neuen Zuhause zu erzählen. Außerdem machte es für Magnolia keinen Unterschied.
Sie empfand die Erde nämlich als wunderschön und in ihrer Vielfalt faszinierend.
„Würde die Gesellschaft bessere Wege finden, wie man miteinander umzugehen hat, dann müsste sich niemand dazu gezwungen fühlen, sich nach einem anderen Ort zu sehnen."
„Das ist also deine Antwort?"
„Nein. Meine Antwort ist, dass ich vermutlich gar keine habe."
David nickte, gab sich aber nicht wirklich damit zufrieden. Er entschloss sich dennoch die Bemerkung zu akzeptieren und griff nach einem Stück Pizza. Die Stuhlbeine glitten mit kratzendem Geräusch über das Parkett, als Magnolia sich von ihrem Platz erhob und die lichtdurchlässigen Vorhänge der Fensterfront zuzog. Kurz stand sie da und starrte dorthin, wo sie zuvor noch ganz klar den Sternenhimmel beobachten konnte. Sofort schoss ihr 'der kleine Prinz' in den Sinn.
„Weißt du, wenn es einen Ort da draußen gibt, vielleicht dort oben, möglicherweise würde ich ihn in Erwägung ziehen, aber erst nachdem ich dieses Leben zu Ende gespielt habe. Danach kann ich gerne auf den Sternen tanzen."
David lachte und schaute kurz zu Leonard, der sich noch immer still verhielt.
„Wieso willst du ausgerechnet auf einem Stern leben?"
Mags wandte sich zurück zum Jungen, setzte sich auf ihren Stuhl und schaute ihn direkt an.
„Damit du dort oben immer einen Stern sehen kannst, der direkt zu dir herunter lächelt."
David verdrehte bei den ekelig zuckersüßen Worten nur seine Mandelbraunen Augen, während Leonard hingegen ein winziges Lächeln verloren hatte.
Der Moment wurde erst unterbrochen als es klingelte.
„Ich glaub, mein Dad ist da."
David bedankte sich bei Leonard für die kleine Nachhilfestunde, auch, wenn er auf keine schnelle Wiederholung hoffte.
Aufgrund der knappen Verabschiedung und der Tatsache, dass Leonard sich seit gut zwanzig Minuten kaum noch mitteilte, vergaß Mags beinahe, dass er noch immer auf seinem Stuhl im Wohnzimmer saß. Er rieb sich nervös die Handflächen an seiner Hose und stand zögernd auf.
„Genieß deinen freien Tag morgen."
Leonards Kopf nickte anerkennend, als er sich zu ihrer Wohnungstür begab und einfach nur verschwinden wollte.
Da war nur noch eine Sache.
„Was steht als nächstes auf dem Plan?"
Das ewige Überlegen nach neuen Aktivitäten strengte Mags zunehmend an, doch es war für den allerbesten Zweck, also machte sie weiter. Höchstwahrscheinlich war es eine riskante Wendung, die Leonard alles andere als willkommen hieß. Dennoch mussten manchmal große Schritte gesetzt werden, damit man überhaupt voran kam.
„Wie wäre es mit einem chilligen Sonntagnachmittag in einem tollen Café mit Strandblick?"
„Welches schwebt dir da vor?"
Sein Ton klang misstrauisch, er wusste also Bescheid.
Er verstand ihren Gedanken, noch bevor sie ihn überhaupt aussprechen konnte.
„Cactus Club Cafe... ich denke, am schönsten ist es an-"
„-der English Bay."
Mags biss sich nervös auf ihre Unterlippe, denn sie wusste, warum Leonard diesen Ort mied.
„Sich zu erinnern ist nicht immer verkehrt, weißt du."
Natürlich erwartete Magnolia darauf keine Antwort. Sie wusste, dass er litt.
Genau deshalb war es langsam Zeit für eine Veränderung.
Seine Schritte zogen in gerader Linie zur Tür, als wäre er auf der Flucht.
Sie sagte nichts, als Leonard ohne jeglichen Ton nach
seinem Mantel griff und ihn sich umlegte. Leonard wusste derweilen gar nicht, was er eigentlich fühlen sollte. In ihm herrschte etwas wie Wut und Empörung, dass sie sich überhaupt traute ihm diesen Vorschlag zu unterbreiten, obwohl sie die Vergangenheit kannte.
Aber er konnte auch nichts dagegen tun, als diese Wärme durch seinen Körper floss.
Er spürte sie kurzweilig an diesem Abend, ein Tag zuvor auf seiner Couch mit dieser blöden Katze, an der ihm doch so viel hing. Dieselbe Wärme, als ein wildfremder, dreckiger Mann ihm ein dankbares Lächeln entgegenbrachte, weil Leonard für ihn sogar eine Schlägerei in Kauf genommen hätte.
Es war wohl langsam Zeit für eine Veränderung.
'Was macht sie nur mit mir?'
Er hielt den Türgriff noch fest und zögerte, bevor er sie anschließend öffnete und kurz stehen blieb.
„Ein Kaffee mit Ausblick auf den Strand klingt übrigens gar nicht so verkehrt..."
Mags stutzte.
Seine blaugrauen Augen bohrten sich in sie hinein. Doch das hinderte Mags nicht daran neuen Mut zu gewinnen.
„Heißt das, wir haben ein Date?"
Leonard verschwand im nächsten Moment aus dem Türrahmen und stiefelte ins Treppenhaus.
„Je nachdem wie der Abend verläuft, haben wir das vielleicht..."
Grinsend lief sie ebenfalls zur Tür und guckte amüsiert hinaus ins Treppenhaus, wo Leonard noch auf der Plattform stand. Erst als sie ihm in die Augen sah, kamen seine Worte in ihrem Gehirn an. Röte schoss ihr ins Gesicht und so schnell wie sie zur Tür rannte, fand sie den Weg mit einem donnernden Knall auch wieder zurück.
Sie sah nicht mehr wie Leonard sich langsam Stufe für Stufe aus dem Wohnblock entfernte und aufgrund ihrer Verlegenheit ein breites Grinsen verlor.
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