❀ Kapitel 1
»Einsamkeit ist der Weg, auf dem das Schicksal den Menschen zu sich selber führen will.«
(Hermann Hesse)
Der blickdichte Stoff der Gardinen sperrten die warmen Sonnenstrahlen aus dem dunklen Schlafzimmer aus und schotteten die schlafende Gestalt von seiner Außenwelt ab. Der Wecker würde schon bald klingeln und die monotone Routine des täglichen Aufstehens einläuten.
Als es soweit war und das dröhnende Klingeln sich im Zimmer ausbreitete, wühlte Leonard unruhig im Bett herum und der Arm, welcher in einer gemütlichen Position unter dem Kissen gelegen hatte, bewegte sich zum Nachttisch, um das piepende Gerät zu deaktivieren. Seine Haut wurde unweigerlich mit der morgendlichen Kälte Vancouvers konfrontiert, denn diese konnte sich dank des offenen Fensters ausweiten. Seine Sinne funktionierten seiner Meinung nach besser, wenn es kalt war und die Müdigkeit konnte schneller aus den Gliedern verschwinden.
Sein Team wartete bestimmt schon auf seinen mürrischen Boss, der aber doch immer mit innovativen Ideen und Umsetzungen seinem Unternehmen zu einem weiteren Erfolg verhalf. Nachdem er zu seiner Hose das passende Hemd gefunden hatte, legte er diese sorgfältig am Kleiderhaken hängend an dem Paravent auf und verschwand eilig im Bad.
Im Spiegel sah Leonard sein alterndes Selbst, doch wie so oft erkannte er sich nicht in der spiegelnden Oberfläche vor ihm. Er fühlte sich wie eine leere Hülle, wertlos und unwichtig. Mehrmals gingen ihm Fragen durch den Kopf, auf die er wie vermutlich viele andere Menschen eine Antwort suchte, aber die Verfolgung nach ihnen gab er mit jedem vergangenen Tag mehr und mehr auf.
Fragte man sein Team irgendetwas über seine Person, gab es selten ein zufriedenstellendes Ergebnis, denn Leonard war bekannt dafür verschlossen zu sein. Lieber saß er allein in seinem Büro, verlor dort jegliches Zeitgefühl und skizzierte seine neuen Ideen auf dem iMac mit einem ausdruckslosen Blick. Morgens trank er seinen heißen Kaffee, den er sich jeden Tag aus seinem lieblings Backshop auf dem Weg zur Arbeit holte.
Nachmittags fragte er sich, zu welchem Zeitpunkt sich sein Pappbecher in eine Porzellantasse mit heißem Tee verwandelte.
Abends, wenn nur noch die dämmernde Beleuchtung hinter seinem Schreibtisch erstrahlte, wurde aus dem Porzellan ein Glas und der kalte Tee zu einem guten Whisky.
Diese Verwandlung hinterfragte er allerdings nie, da es seine eigenen Hände waren, die sich für diese Veränderung auf seinem Schreibtisch verantwortlich zeigten.
Die tägliche Routine langweilte ihn und sein Leben verlor seiner Meinung nach mit jedem Tag mehr an Qualität.
Der nervige Alltag erreichte ihn noch einmal als die Zahnpasta einen deutlichen Fleck auf dem Satinstoff seines Schlafanzugs hinterließ. Ein genervtes Stöhnen entwich seiner Kehle, als er den Fleck durch vorsichtiges Tupfen mit einem Waschlappen entfernte.
Nachdem er das Bad verließ, zog er sich den Anzug über und vernahm hinter der Tür bereits das Schnurren von Pheobe, dem rot getigerten Fellball mit den großen grünen Augen. Sein Bezug zu dem Tier beschränkte sich aufs Minimum, doch leider Gottes hingen ebenso auch schöne Erinnerungen an diesem Tier. Bilder aus der Vergangenheit, die Leonard nie weggeben konnte. Dies war auch der Grund, weshalb er grummelnd die Katze aus dem Weg schubste und aus dem Schrank in der Küche das Katzenfutter holte, bevor er sich selbst das Essen für die Arbeit aus dem Kühlschrank nahm.
Früher musste er sich nicht drum kümmern, doch die Schonzeit war nun lange vorbei und solche kleinen Aufgaben, wie das Vorbereiten von Essen oder die Pflege der Katze blieben an ihm hängen.
„Lass' bloß das Haus heile, während ich weg bin." Jeden Tag waren es dieselben Worte, die Leonard wie ein Mantra an die Katze richtete.
Als er die Haustür öffnete, strahlte ihm bereits der freudig helle Sonnenaufgang entgegen, doch er war der Annahme, es war der einsame Schein des Mondes gewesen.
Links und rechts liefen Menschen, manche waren dabei schneller und schwitzten zu den Klängen, die sich über die Kopfhöhrer in ihren Ohren ausbreiteten. Wieder andere klempten eine Zeitschrift unter dem Arm und liefen gemächlich im Takt zu dem Rhythmus der langsam erwachenden Stadt.
Leonard schaute halbherzig zur obersten Etage des großen Gebäudes herauf, das sich auf der Straßenseite gegenüber von ihm befand.
Dort oben, dies war sein Büro.
Doch er konnte den Tag nicht starten, ohne sich von der Beaucoup Bakery seinen Lieblingskaffee abzuholen. Die Verkäuferin, Linda, wusste sofort welche schattenhafte Gestalt soeben ihren Laden betrat.
„Der Kaffee kommt sofort, Mr Tremblay." Er nickte aber tat es im absoluten Schweigen.
Der Architekt war bei ihr ein gern gesehener Gast, zwar sprach er selten ein Wort mit Linda oder den anderen Verkäufern in dem Backshop, doch es war ihm zu verdanken, dass das Geschäft überhaupt existierte. Jedes noch so kleine Detail entsprang einst aus seinem ideenreichen Kopf. Nachdem Linda ihm den Kaffee über die Theke reichte, nickte er dankend zum Abschied und legte ihr die Summe mit etwas Trinkgeld auf den Zahlteller.
Das Gebäude vor dem er nur Minuten später stand? umfasste zehn Stöcke. Eine Treppe führte von der Hauptstraße direkt zum Eingang in das Erdgeschoss. Dieses war unterteilt in kleineren Geschäften und von der Straße aus konnte man das asiatische Restaurant sehen, in welchem sich die Mitarbeiter oft während der Mittagspause trafen. Ging man das Gelände an der linken Seite weiter, gab es einen weiteren Eingang, welcher direkt in die oben liegenden Büroräume führte. Diese wurden angeführt von einer kleineren Werbeagentur und die letzten drei Stöcke bildeten schließlich das Architekturbüro von Leonard und seinen Mitarbeitern.
Genau dort weilte sein Blick, die oberste Etage, da war sein Büro. Er konnte kaum auf die Ruhe verzichten, die er hoch oben in seinem abgeschotteten Büro genießen konnte.
In gewisser Weise war dieser Raum wie Leonard selbst und er wollte nichts daran ändern.
Seine Gedanken kreisten sich gerade um die Blaupausen auf seinem Schreibtisch und dem Verlangen das Projekt schnellstmöglich zu beenden. Innerhalb der Burrard Street sollte bald ein neues Museum für Digitale Kunst entstehen. Ein neues Projekt, welches mit Sicherheit viel Zeit in Anspruch nahm. Immerhin hätte Leonard eine Ausrede parat gehabt, um seinem Umfeld entkommen zu können. Michelle Shae wäre die baldige Museumsdirektorin und hörte von guter Resonanz bezüglich Leonard Tremblay und seinem Team.
„Normalerweise gibt es einen Empfangstisch, weil sich dort eine Empfangsdame aufhalten sollte, die die Kunden empfängt. Was meinst du dazu, Ally?" Leonard war nun im achten Stockwerk angekommen und blickte angeregt über die Empfangstheke, die leer stand. Ein Poltern, dicht gefolgt von einem Grummeln war zu vernehmen, bevor eine junge Frau mit einer Tasse in der Hand aus dem kleinen angrenzenden Raum kam, der sich in einer unscheinbaren Ecke befand.
Der heiße Dampf stieg aus der Tasse empor und tänzelte durch die Luft, bevor sie diese auf dem Tisch abstellte und ihrem Chef provokativ in die Augen blickte.
„Für gewöhnlich macht sich die stets zuverlässige Empfangsdame um diese Zeit ihren wohl verdienten Earl Grey, da den Kunden der offizielle Zutritt erst in zwanzig Minuten gewährt wird."
Er verlor ein winziges Lächeln, nachdem seine Sekretärin ihm Kontra gab. Im Vorbeigehen zeigte er jedoch noch hinter ihren Tresen.
„Genieße ihn. Ach, räum doch bitte vorher das Chaos beiseite, welches du im Hinterzimmer zurückgelassen hast."
Ally grinste über den Rand ihrer Tasse hinweg und entschied sich dazu seiner Anweisung stillschweigend Folge zu leisten.
Nur wenige Minuten später saß Leonard vor seinem Laptop und starrte in die absolute Leere.
Nichts tat sich in seinem Kopf, keine Idee, welche er hätte umsetzen können. Möglicherweise lag es daran, dass Michelle eine farbenfrohe, aufgeweckte Gestaltung für ihr neues Museum vorsah und Leonard nach all den Jahren vergessen hatte, wie man sich so etwas vorstellen sollte.
Sein Leben verfinsterte sich.
Dies war sein ganz persönlicher Wandel der Zeit.
Nervosität zog Bahnen durch seine Nerven und ließ seinen Fuß immer wieder auf dem Parkettboden herumtrommeln. Das Grafiktablett lag unberührt vor seiner Nase, obwohl er bereits den Stift in seine Hand gelegt hatte und ihn fest mit seinen Fingern umschloss. Das Trommeln wurde allmählich lauter und Leonard wusste, dass es nicht nur mehr sein Fuß gewesen war, der für die Geräusche in seinen Ohren verantwortlich gemacht werden konnte. Leise Schritte schwebten fast schon über den Flur, um vor der Glastür zu weilen. Leonard konnte die Silhouette deutlich erkennen.
„Herein."
Normalerweise klopften die anderen Mitarbeiter an und traten noch während das Klopfen im Raum nachhallte, hinein, doch seit Leonard sich kaum mehr in den Gesellschaftsräumen zeigte oder mit einem Kaffee bewaffnet in ein benachbartes Büro stiefelte und Small Talk mit seinen Kollegen führte, änderte sich die Normalität in etwas anderes.
Kühle Distanz.
„Guten Morgen, Leonard."
Seine sturmgrauen Augen entfernten sich von dem Bildschirm auf seinem Schreibtisch und fixierten sich auf die Person, die nervös vor der Tür stand.
„Hallo, Adam. Gibt es irgendetwas Wichtiges?"
Es war komisch, wie sich die Gespräche zwischen den beiden Männern verändert hatten. Leonard musste unweigerlich an die glücklicheren Zeiten zurückdenken und konnte den Geschmack vom Guiness schon schmecken. Die Luft im Raum roch nach verbrannter Kohle und die Sehnsucht pochte plötzlich für Sekunden in seinem Herzen, bevor er diese wieder verbannen konnte.
„Mrs Shae meldetete sich vor wenigen Minuten bei mir. Sie möchte wohl eine Fotokampagne starten, um die Werbetrommel für das neue Museum zu schwingen. Sie fragte, ob wir Interesse hätten einen Teil dazu beizutragen. Dadurch könnten wir unser Image selbst weiter vorantreiben."
„Eine Fotokampagne? Wo möchte sie die denn veröffentlichen?" Seine Augen wandten sich nun neugierig zu seinem einst besten Freund.
„In ihrer alten Galerie. Es sollen Fotos entstehen, die uns beim Entwerfen des neuen Museums zeigen bis hin zur Fertigstellung des Gebäudes. Eine Art Preview für die Besucher, damit die Erwartungen steigen."
Leonard ging weder auf den Vorschlag ein, noch zeigte er irgendeine Form der Begeisterung. Aber er lehnte auch nicht sofort ab, sondern entschied sich dazu weitere Fragen über das Vorhaben zu stellen.
„Wie hängt die Fotokampagne mit ihrer Galerie zusammen? Ich möchte jedenfalls kein Portrait von mir in irgendeinem fremden Wohnzimmer vorfinden wollen."
Adam zückte sein Handy aus der Hosentasche seines Anzugs und öffnete die gesuchte E-Mail in seinem Postfach. Kurz und bündig begann er damit die Informationen zusammenzutragen und an Leonard zu übermitteln.
„Die Fotokampagne dient nur als Side-Kick und sollte eine Art gute Geste sein, damit potenzielle Kunden auf uns aufmerksam werden. Was die Galerie betrifft, nun, Michelle hat bereits einige Kunstwerke von anonymen Künstlern gesponsert bekommen. Die Erlöse vom Verkauf dienen als zusätzliche Spende für das neue Museum." Er schwieg und wagte einen nachdenklichen Blick aus seiner Fensterfront.
„Wer soll sich für die Kampagne überhaupt verantwortlich zeigen? Ich nehme nicht an, dass jemand aus unserem Team sich in der Lage sieht Fotos für eine Ausstellung zu machen."
Adam senkte seinen Blick auf den Parkettboden und war sich unsicher über Leonards Reaktion, wenn er herausfand, dass Mrs Shae bereits eine engagierte Fotografin in Aussicht hatte. Es gab eine Zeit, da war sein alter Freund mit ganzem Herzen überall dabei. Seine Arbeit, das, was er entworfen hatte, war jedes Mal wie ein Kind für ihn gewesen, welches er von Anfang an großzog.
Seine eigene Isolierung hatte es zum Nachteil, dass sich Leonard immer mehr der Kommunikation entzog und nur das Nötigste tat, um seinen Aufgaben gerecht zu werden.
Ein einsames Genie, so nannte Ally ihn jedenfalls immer.
Zögernd steckte Adam sein Handy wieder zurück in seine Tasche und erzählte Leonard von dem ausschlaggebenden Detail.
„Magnolia Dearing. So heißt die junge Dame, die die Kampagne übernehmen soll. Eine selbstständige Fotografin, soll wohl ein gutes Händchen dafür haben. Sie wird Morgen im Laufe des Vormittags hier auftauchen und sich dem Team vorstellen."
„Brauchst du sie schriftllich oder reicht es aus, wenn ich dir sage, dass ich Ms Dearing Morgen um zehn Uhr bei mir im Büro erwarte?"
„Ich denke, ich werde es ihr einfach ausrichten."
Adam verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken, bevor er durch die Tür verschwand. Kurz danach wurde es wieder still im Büro. Leonard hielt den Blick auf die Außenwelt gerichtet, faltete die Hände zusammen und dachte darüber nach, was ihn möglicherweise bei dem Treffen erwartete.
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