Der Briefschreiber
Einen Tag zuvor
P.o.v Jan
Es zerreißt mich. Alles. Innerlich. Ich fühle mich nicht mehr als Ganzes. Tausende Stücke meiner Selbst bohren sich immer stärker in meine Lungen. Ich bekomme kaum Luft. Es tut so weh. So unendlich weh.
Und ich kann nichts dagegen tun. Nicht ändern, dass mein Herz so leicht zu zerteilen ist wie Butter. Selbst einfrieren hätte nichts genützt. Gefrorene Butter bricht auch.
Die Stimme da oben quält mich jeden Tag, indem sie mir mitteilt was ich falsch mache. Was ich nicht kann. Zu was ich nicht fähig bin. Nie sein werde.
Du wirst nie als normal angesehen werden.
Es stimmt.
Du bist allen eine Last. Ein nerviger Zusatz. Ein unnötiger Zusatz.
Das stimmt auch.
Abschaum. Dreckiger, behinderter Abschaum. Mehr wirst du nie sein.
Ja, mehr werde ich nie sein.
Du bist überflüssig. Man sollte dich loswerden.
Ich bin überflüssig. Ich sollte gehen.
Ich glaube der Stimme. Sie ist die einzige, die ehrlich zu mir ist. Die mich nicht mit Lügen vollgepumpt. Also warum sollte ich ihr nicht glauben?
Und warum tut es dann so weh? Warum tut es so weh es einzusehen? Tränen laufen in Strömen über mein Gesicht. Ich versuche nicht mal sie wegzuwischen. Ich kann sie eh nicht aufhalten.
Weil du egoistisch bist. Weil du glaubst, dass du doch etwas wert bist. Was du nicht bist. Du hast keinen Wert. Du bist absolut wertlos.
Ich bin absolut wertlos.
Nicht mal Tim liebt dich. Selbst für ihn bist du eine lästige Beigabe, um die er sich eben kümmern muss.
Doch. Tim muss mich lieben. Er ist noch da. Er ist nicht weg. Er liebt mich.
Nein, tut er nicht. Er ist aus Pflicht bei dir. Weil er sonst ein schlechtes Gewissen hätte.
Tim...ist da. Tim lässt mich nicht allein.
Doch das tut er. Oder ist er gerade bei dir? Ach nein, er ist ja ‚spazieren'. Gib auf, Jan.
Tim ist weg. Er liebt mich nicht. Ich gebe auf.
Das ist okay.
Unaufhörlich laufen die Tränen und ich zittere unkontrolliert. Hiflos schappe ich nach Luft. Nicht mal die Luft hier wollte etwas mit mir zu tun haben. Ich bin schwach. Zu schwach. Ich bin eine Last. Ich zwänge mich anderen auf.
Immer mehr sinke ich zusammen. Ich bin völlig hilflos. Und es ist alles meine Schuld.
Meine Schuld, dass ich Tim aufhalte sein Leben zu leben. Meine Schuld, dass ich kaputt bin. Meine Schuld, dass ich behindert bin. Meine Schuld, dass ich nichts wert bin.
Es ist alles meine Schuld und ich sollte diese Schuld endlich begleichen.
Endlich wirst du vernünftig. Hat ja gedauert.
Ja, ich war dumm, das weiß ich schon.
Wackelig stehe ich wieder auf meinen Beinen und halte mich an der Schreibtischplatte fest. Für einen kurzen Moment, sehe ich mich im Zimmer um. Im Arbeitszimmer meiner gemeinsamen Wohnung mit Tim, in der wir seit 2 Jahren leben. Was er natürlich nur aus Schuld- und Pflichtbewusstsein tat. Nicht wegen mir.
Auf dem Schreibtisch liegen fein säuberlich ein Block und Tims Lieblingsstift. Kurz lächle ich fast. Diesen Stift hatte uns ein Fan geschenkt. Es war ein Kugelschreiber auf dem unsere Köpfe und einige Tics von Gisela abgedruckt waren.
Ich greife nach dem Stift und bekomme ihn kaum zu fassen, so stark zittere ich noch. Auch mein Tourette scheint nicht begeistert davon und schiebt ihn über die Tischkante.
Tränen treten erneut in meine Augen. Wie sollte ich weiterleben können, wenn ich nicht mal in der Lage bin einen Stift vernünftig zu benutzen. Nicht mal das konnte ich.
Langsam krieche ich unter den Tisch, um den Stift aufzuheben. Liebevoll streiche ich über den gedruckten Mini-Tim.
Tim hatte mir mehrmals das Leben gerettet. Obwohl ich so ein schlechter Mensch bin. Ein Problem, dass sich aufdrängt. Trotzdem war er da.
Er hätte mich nie retten sollen.
Erschöpft sinke ich in den Schreibtischstuhl ein. Meine Kraft war gänzlich verschwunden. Ich sah keinen Sinn mehr in gar nichts. Ich sah nur Leere im Nichts.
Du bist ja auch sinnlos und ein Nichts!
Das weiß ich doch schon. Ich muss gehen. Am besten noch heute.
Starr blicke ich auf das Papier vor mir. Ich muss es Tim erzählen. Dass ich verstanden habe. Dass ich endlich eingesehen habe, dass ich hier nicht hierhergehöre. Er wird sich freuen. Dann ist er mich los.
Am besten ich schreibe einen Brief.
Den Stift fest in der Hand, beginne ich das weiße Blatt vor mir mit Worten zu füllen. Es ist alles krumm und schief, weil ich die Kontrolle über meinen Körper noch nicht ganz wiedererlangt habe, aber es ist lesbar. Ich hoffe der Brief macht Tim glücklich, wenn ich das schon nicht kann.
Vorsichtig falte ich ihn in der Mitte und platziere ihn auf dem Weg nach draußen mitten im Hausflur, wo Tim ihn garantiert findet. Meinen Schlüssel lasse ich da wo er ist. Ich habe nicht vor wiederzukommen.
Es ist schon Nacht und die Straßen sind nur in das dumpfe Licht der Laternen getaucht. Und kaum bin ich einige Meter von meinem...nein jetzt Tims Haus entfernt, beginnen wieder die Tränen zu fallen. Alle paar Meter muss ich innehalten, um mein Sichtfeld zu klären, damit ich nicht in den nächstbesten Abgrund falle.
Innerlich lache ich ironisch auf. Ich war schon längst in einen Abgrund gefallen. Aber da gehöre ich auch hin. Und da muss ich jetzt auch endgültig bleiben. Ich darf nicht immer wieder versuchen an einer nicht vorhandenen Leiter nach oben zu klettern.
Mit jedem Schritt verliere ich immer mehr an Kraft und muss immer öfter Pausen einlegen. Dass ich noch nicht bewusstlos zusammengesunken bin, grenzt wirklich an ein Wunder. Vielleicht ist es, weil ich nun das Richtige tue. Vielleicht hält man dann einfach durch.
Nach Ewigkeiten erreiche ich endlich mein Ziel. Angestrengt lege ich meinen Kopf in den Nacken und blinzle hektisch um den Tränenschleier loszuwerden. Ich bin an dem Ort, an dem ich schon so häufig war. Beim Post Tower in Bonn.
Es gibt eine alte Feuerschutztreppe, die nicht mehr genutzt wird und eine alte vergessene Tür, die einen Zugang zu der Treppe darstellt. Vorsichtig ziehe ich nun eben genau an dieser und betrete das stille Treppenhaus.
Mit jeder Treppe werde ich müder und müder. Lebensmüde. Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr das sein, was ich bin. Ich will kein ekelhafter, nerviger, überflüssiger, unnötiger, nichtsnutziger, behinderter Vollidiot sein. Ich will niemandem damitMein zur Last fallen.
Mit jeder Stufe wird mir klarer, was ich will. Und ich bin immer noch so unendlich müde. Und ich will endlich schlafen.
Oben angekommen, atme ich erstmal tief durch. Ich liebe die Luft hier. Es ist mir egal, dass es dieselbe wie überall war. Für mich war sie anders. Besonders. Sie passte auf mich auf. War überall um mich herum. Diese Luft war wirklich immer für mich da.
Ich war schon so oft hier. Stundenlang saß ich da und hing meinen Gedanken nach. Weinte. Zerbrach. Versuchte mich neu zusammenzusetzten. Scheiterte. Hier oben lies ich alles raus, was mir da unten nicht möglich war. So konnte ich immer vor Tim verbergen, wie kaputt ich wirklich war. Er bekam so nie mit, wenn ich einen Zusammenbruch erlitt. Er würde mir schließlich nie in so eine Höhe folgen, mit seiner Höhenangst. Und das war gut so. Sonst hätte er sich noch die Schuld gegeben an etwas, was ich ganz alleine zu verschulden hatte.
Vielleicht hätte er dann aber auch endlich einen Grund gehabt mich zu verlassen. Vielleicht wäre es so leichter für ihn gewesen.
Nahezu fröhlich trete ich an das Geländer des riesigen Turms und überblicke die Stadt. Aus der Höhe wirkt alles wie eine Legostadt. Vielleicht hätte ich mal ein Modell von Bonn aus dieser Sicht bauen sollen. Aber wen hätte das schon interessiert?
Niemanden.
Genau.
Du trödelst.
Ach ja.
Mit einem letzten Blick auf die ach so wunderschöne und perfekte Stadt, hob ich meine Hände und beginne zu klettern. Ich bin nicht einmal wütend auf die da unten. Sie konnten nichts dafür. Es war ja meine Schuld. Ich bin einfach nur leer. Fühlte mich wie das Nichts, das ich immer schon war. Meine Tränen waren versiegt und das Zittern hatte sich eingestellt. Ich fühle nichts mehr, aber ich wusste, dass ich das Richtige tat.
An der Grenze angekommen, werfe ich einen Blick zu der Tür aus der ich gekommen war. Ob sie jemals noch einer öffnen würde? Außer mir und Tim kannte niemand diesen Zugang. Und Tim würde sich niemals 160 m in die Höhe wagen.
Ist es nicht irgendwie traurig, dass mit Menschen auch Gegenstände ihren Nutzen verlieren? Auch wenn ich keinen Wert habe, habe ich dieser Tür einen Nutzen geschenkt.
Aber es ist nur eine Tür. Ein lebloses Ding. Es ist egal. Genau wie ich.
Ich schwinge mich auf die andere Seite des Geländers. Rechts von mir sehe ich das beleuchtete DHL Logo. Es ist das hellste Licht, was ich an diesem Tag erblickt habe. Leicht schmunzle ich. Und das Letzte. Mein letztes Fünkchen Kraft erlosch.
Tim wäre stolz auf mich. Ich befreie ihn. Der Brief wird Tim glücklich machen. Ganz sicher.
F.a.o P.o.v
Eine Eule erwachte auf ihrem Baum in dem Park unweit des Post Towers. Sie schüttelte sich und putze mit dem Schnabel kurz ihre Flügel. Als sie aufmerksam auf ihre Umgebung achtete, fiel ihr ein menschliches Wesen auf, welches auf der oberen Absperrung des Post Tower hing. Sie legte den Kopf schief. Was versuchte der Mensch denn da? Wollte er sich da ein Nest bauen? Oder etwa fliegen lernen? Die Eule ruckelte mir ihrem Kopf und erhob sich, um nach Futter zu suchen.
Einen Tag später zum etwa selben Zeitpunkt, wachte die Eule erneut aus ihrem Schlaf auf und musste eine seltsame Entdeckung machen. An genau derselben Stelle wie gestern hing schon wieder ein Mensch. Wussten diese Wesen etwa nicht, dass sie nicht für diese Höhe gemacht waren? Sie konnten nicht fliegen, egal was sie versuchen. Es leuchtete ihr wirklich nicht ein, was die Menschen für einen Sinn darin sahen, etwas zu versuchen zu dem sie nicht fähig sind. Und so flog sie erneut in die Nacht hinaus.
Die Eule verstand eben nicht, warum die Menschen das taten. Vielleicht hätte sie es verstanden, hätte sie auf den Brief geachtet. Doch nicht mal die aufmerksame Eule wollte wirklich verstehen, was passiert ist.
Wüsste Jan was mit seinem Brief geschehen war, wäre er wohl sehr traurig gewesen.
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Wer will den Brief jetzt immer noch lesen? xD
Das war die Fortsetzung oder eher das Prequel von ‚Der Brief'! Ich hoffe es hat euch gefallen!
*baut sich ein Schutzschild gegen eventuelle Mordversuche*
Ich hab euch Pizza gekauft! Bedient euch! *versucht die Situation damit zu retten*
Grobe Fehler könnt ihr mir gerne sagen, wenn sie auffallen xD Lasst mir doch gerne ein Feedback da oder beleidigt mich auch einfach xD Do widzenia!
Liebe!
Sixtan
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