𐫱 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩 𝔞𝔠𝔥𝔱 𐫱
Melody
Thomas lächelt mich an: „Komm nie wieder auf die Idee, du wärst eine Last für uns. Du hast so viel für uns gemacht. Ich werde immer für dich da sein, Schwester."
In mir herrscht ein Chaos von Gefühlen und auf mich prasseln lauter Erinnerungen ein. Ich sollte für ihn da sein, die starke, große Schwester sein, doch stattdessen sitze ich hier und kämpfe mit den Tränen. Wenn er nur wüsste, was in mir abgeht.
Wehmütig schaue ich ihn an: „Oh, Tom..."
Meine Gefühle sind gespalten. Einerseits möchte ich diesen Moment genießen, Thomas fest umarmen und ihn nie wieder loslassen. Mich freuen, denn sie haben mich angenommen, obwohl ich ihnen alles erzählt habe.
Naja, es war nicht alles. Und das ist das Problem. In mir tobt ein Wirbelsturm von Erinnerungen. Und ich bin nicht bereit sie zu teilen. Sie überhaupt zu akzeptieren.
Ich bin einfach überfordert. Ich kann nicht annehmen, dass sie mich nicht ausstoßen. Egal was sie sagen, ich werde mich immer als Last ansehen. Ich habe es nicht verdient, so behandelt zu werden. Ich sollte nicht in dieser Umarmung sein.
Die Bewegung der Anderen reißt mich aus den Gedanken. Sie lösen sich aus der Umarmung und packen alles zusammen.
Thomas zwingt mich dazu, ein Schluck zu trinken und obwohl ich es nicht eingestehen will, tut es unglaublich gut.
Ich will gerade aufstehen, doch Thomas drückt mich zurück auf die Trage. ,,Das kannst du knicken."
,,Aber ich will nicht, dass ihr mich durch die Wüste schleppt. Ich bin wach und fit."
,,Keine Widerrede. Ich hab mir schon was überlegt."
Mir bleiben die Wörter im Hals stecken. Meint er das wirklich Ernst?
Ja, tut er. Statt getragen zu werden, werde ich durch den Sand gezogen.
Wir treten aus den Schatten und ich werde von der grellen Sonne geblendet. Ich kneife die Augen zusammen. Verschwommen tritt Thomas in mein Blickfeld: ,,Alles okay?"
Doch stattdessen höre ich ein kindliches Lachen und sehe das Gesicht eines kleinen Jungen. Nach Luft schnappend reiße ich die Augen auf.
Hastig nicke ich, als ich Thomas' besorgten Gesichtsausdruck sehe. ,,Alles bestens."
Den Rest des Weges zieht an mir vorüber und ich starre auf einen unbestimmten Punkt.
Tausend Gedanken fliegen durch meinen Kopf. Wie kann ein Mensch, der eine kurze Zeit ohne Erinnerungen lebt, sich so verändern? Ich kann mich mit der Melody von davor nicht identifizieren. Mein ganzes Leben liegt vor mir und ich will es nicht haben. Diese Verantwortung ist mir zu schwer.
Das Schlimmste ist, ich glaubte. Ich glaubte an einen Gott, der das ganze Leben in seiner Hand hält und uns liebt. Das Beste für uns will. Aber wie kann ich an so einen Gott glauben, der das alles zuließ? Die Welt ist ein Trümmerhaufen. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen. Man hat mich gefoltert, uns alle, und ich soll an jemanden glauben, der es gut mit uns meint? Wo war er dann die ganze Zeit?
Es war der Glauben meiner Mutter.
Unserer Mutter.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Wahrscheinlich lebt sie nicht mehr. Genauso wenig wie mein Vater.
Ich bin allein.
Nein.
Ich habe einen kleinen Bruder, und er ist das einzige Puzzleteil in meinem Leben, dass ich nicht wegstoßen kann. Er liebt mich. Ich habe ihn so unglaublich lieb. Ich gab ihm ein Versprechen.
Ich kann ihm das nicht antun. Ich muss für ihn da sein. Er braucht eine große Schwester, kein Jammerlappen. Wir alle müssen mit dieser Situation fertig werden. Mit oder ohne Erinnerungen.
Wenn ich so weiter mache, stürze ich in ein schwarzes Loch und ziehe Thomas mit. Ziehe die Anderen mit in einen tiefen Abgrund.
Das haben sie nicht verdient.
Besonders weil ich ihnen nur die halbe Wahrheit über meine „Fähigkeiten" erzählt habe. Ja, es stimmt, dass ich sie nicht kontrollieren kann. Vor allen Dingen die Nebenwirkungen. Ich hab nicht mal alle entdeckt.
Aber es gab eine Ausnahme.
Und wenn sie ans Licht kommt, wenn WCKD es herausfindet, sind wir alle in Gefahr.
Ich muss es mit allen Mitteln geheim halten. Die Anderen schützen. Thomas schützen.
Also reiß dich zusammen, Melody, und sei...
Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als die Trage unsanft auf dem Boden landet.
Ich schaue auf und stelle fest, dass die Sonne sehr tief am Himmel hängt. Ich setzte mich auf und beobachte die Anderen, wie sie ein Lager für die Nacht errichten. Nur Thomas und Theresa kann ich nicht entdecken.
Plötzlich tritt jemand neben mich. Es ist Newt. „Du siehst schon viel lebendiger aus. Davor lagst du auf der Trage wie ein Leiche", neckt er mich.
Aber mir fällt nichts besseres ein als: „Ich möchte den Sonnenuntergang sehen. Hilfst du mir hoch?"
Kommentarlos streckt er mir seine Hand entgegen. Ich packe sie und er zieht mich hoch. Leider wanke ich sehr stark und meine Knie knicken fast weg. Newt's Griff wird stärker und er fängt mich auf. Er wartet ab bis ich sicher auf meinen Beinen stehe und geht dann langsam los. Ich bin ihm so dankbar für seine Geduld, obwohl es mir gewaltig gegen den Strich geht, dass ich überhaupt Hilfe brauche.
Da entdeckt uns Minho: „Sag mal, sind wir hier auf einem Pärchentrip? Bitte verschont mich mit eurer Knutscherei."
Als hätte ich mich verbrannt, lasse ich Newt los und bringe Abstand zwischen uns.
Ich will Minho gerade entgegnen, dass wir kein Pärchen sind und Newt mir nur geholfen hat, da antwortet Newt seelenruhig: ,,Kümmer dich um dein eigenen Dreck."
Minho rollt mit den Augen und dreht sich weg. ,,Theresa und Thomas, Newt und Melody. Ich glaub, ich kotze gleich."
Thomas und Theresa kann ich nur zustimmen. Nur das sich Theresa letzter Zeit komisch verhalten hat. Naja, viel kann ich ja nicht dazu sagen, aber sie hält sich seit ich wach bin, von mir fern. Weil ich so lange bewusstlos war, konnten wir uns nicht näher kommen. Resigniert lasse ich die Schultern hängen.
Eine leichte Berührung an meiner Schulter holt mich zurück in die Gegenwart. ,,Der Sonnenuntergang wartet übrigens nicht auf dich."
Mit ernster Miene antworte ich: „Warum eigentlich nicht?"
Newts Augen funkeln amüsiert. Ich lächle in mich hinein. Es tut gut, Humor in diese scheinbar aussichtslose Lage zu bringen. Erst jetzt verstehe ich Minhos Art.
Wir treten unter dem schattigen Felsen hervor in das rote Licht der untergehenden Sonne. Am Rand eines Felsens stehen Thomas und Theresa mit dem Blick auf die vom Sonnenlicht durchtränkten Berge in der Ferne. Ich schnappe noch die letzten Worte ihres Gesprächs auf: ,,Es ist so, als ob wir den Bergen nicht näher kommen."
Thomas will ihr gerade antworten, doch dann bemerken sie uns und was auch immer er sagen wollte, bleibt unausgesprochen. Wir treten zu ihnen an den Rand. Ein sanfter Wind kommt auf und weht durch meine wilden Haare.
Ich richte meinen Blick auf den Sonnenuntergang und flüstere ehrfürchtig: ,,Ist es nicht wunderschön? Wie kann eine zerstörte Welt so atemberaubend sein?"
,,Die Natur kriegt man niemals unter. Sie bleibt bis zu zum Schluss überwältigend", wispert Newt.
Gefesselt von dem Farbenspiel schauen wir in den immer dunkler werdenden Himmel. Der rote Feuerball verschwindet immer weiter hinter den Bergen und hinterlässt rote, orangene und lila Farbverläufe im wolkenlosen Himmel.
,,Nicht wahr, mein Schatz? Das ist Gottes wundervolle Schöpfung." Die ungebetene weiche Stimme erklingt in meinem Ohr und ruft alte Erinnerungen hervor.
Nein, bitte nicht jetzt. Nach einem Ausweg suchend sage ich, ohne meinen Blick vom Horizont abzuwenden, zu Thomas: ,,Es ist so lange her, dass ich einen Sonnenuntergang gesehen habe. Das letzte mal war, glaube ich, vor 14 Jahren."
,,Komm schnell, die Sonne geht gerade unter!" Mein kleiner Bruder kommt aus unserem Zimmer gestürmt und schaut erwartungsvoll aus dem Fenster. Es ist das einzige Fenster in unserer winzigen Wohnung, das den perfekten Ausblick auf die untergehenden Sonne hat. Es ist unsere kleine Tradition geworden, jeden Abend vor dem Schlafen gehen, die Sonne zu beobachten, die hinter dem Horizont verschwindet. Mommy kommt wie immer spät nach Hause, aber sie vertraut mir, dass ich auf uns beide aufpasse. Immerhin bin ich schon fünf. Ein ganzes Jahr älter als mein Bruder. ,,Mel, schau, die Wolken sind rosa!" Lachend wuschel ich ihm durchs Haar. ,,Ja, ich weiß. Und dann werden sie rot, dann lila und dann..." ,,Und dann geht die Sonne schlafen." ,,Genau", flüstere ich. Ich liebe es. Es ist wie eine Farbexplosion oder wie Mommy sagt, ein Gemälde. Als hätte jemand beschlossen, den Himmel bunt anzumalen. Jeden Abend erstrahlt der Himmel in meinen Lieblingsfarben. Formt Muster, verfärbt die Wolken und wird spektakulär zum Nachthimmel. Jeden Abend sieht es anders aus, aber gleich schön. Ich drücke die kleine Hand meines Bruders. ,,Ist es nicht toll zu wissen, dass die Sonne weiter wandert zu Leuten, die gerade einen Sonnenaufgang sehen? Dann können wir beruhigt schlafen gehen und wissen ganz genau, dass sie morgen wieder kommt. Genauso wie wir wissen, dass Mommy uns einen Guten-Morgen-Kuss gibt. Selbst wenn die Wolken sie bedecken, ist sie trotzdem da und erhellt unseren Tag." Verständnislos schaut er mich an. Die letzten Strahlen verschwinden und ich sehe, wie ihm die Augen zufallen. ,,Komm, lass uns schlafen gehen", murmele ich und führe ihn liebevoll vom Fenster weg.
***
Wie die Anderen liege ich auf dem Boden und starre auf die raue Oberfläche des Felsens, unter dem wir unser Lager aufgeschlagen haben. Weil ich keine Lust mehr auf die Sonderbehandlung habe, habe ich die Trage weggestellt und benutze meine Jacke als Decke.
Wir standen noch lange in friedlicher Stille am Rand des Hügels, bis der Himmel sternenklar war.
Irgendwann durchbrach Thomas die Ruhe: „Und du kannst dich an alles erinnern?"
„Ja, es ist alles wieder da", antwortete ich leise.
„Also könntest du mir was über unsere Mutter erzählen?", hackte er vorsichtig nach.
Räuspernd hatte Newt auf sich aufmerksam gemacht: „Ich sollte jetzt gehen. Morgen wird wieder ein langer Tag. Also, gute Nacht."
Hastig hatte sich Theresa ihm angeschlossen. „Ja, ich bin auch total müde und es ist echt kalt geworden. Eine schöne Nacht euch!" Sie hatte uns noch kurz zugewunken und ging dann eiligen Schrittes zu ihrem Schlafplatz.
Nervös hatte ich ihnen hinterher geschaut. Eigentlich hätte ich gerne Newt bei mir gehabt oder viel lieber dieses Thema überhaupt nicht angesprochen.
Tief einatmend drehte ich mich zu Thomas. Sie hatten recht. Das ist eine Sache zwischen meinem Bruder und mir. Er hat das Recht es zu erfahren.
Tapfer begann ich zu erzählen: „Ja, ja das kann ich. Sie war eine tolle Mutter. Sie war immer für uns da, wenn wir sie brauchten. Die dunklen Haare und braunen Augen hast du von ihr."
Ich musste meine Augen schließen und atmete durch den Mund aus. Thomas so direkt anzusehen, während ich über unsere Mutter redete, war zu viel für mich. Er sieht ihr so unglaublich ähnlich. Nur das ihre Haare gewellt waren. Aber nicht nur ihr Äußeres ließ sie erstrahlen.
„Sie hat immer das Gute in jedem gesehen und in jeder schlechten Situation konnte sie optimistisch bleiben. Sie war zu jedem freundlich, aber nicht naiv. Unsere Mom hatte einen messerscharfen Verstand. Wenn jemand es böse mit uns meinte, nahm sie es direkt war und reagierte sofort. Sie war eine starke Frau und hielt viel von Kommunikation. Mit ihrer angenehmen Stimme konnte sie fabelhafte Geschichten erzählen und liebliche Lieder singen. Niemals erhob sie ihre Stimme, blieb immer ruhig und besonnen."
Mit diesen Gedanken an unser abendliches Gespräches schlief ich ein.
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