Sirenengesang
Es war mitten in der Nacht. Alea hätte schon längst schlafen müssen, doch sie konnte nicht. Zu laut rief die Stimme nach ihr, sie solle ins Wasser kommen. Nervös konzentrierte sie sich auf die Geräusche im Raum, in der Hoffnung sie könne die Sehnsucht nach dem Fluss einfach ignorieren. Im Raum hörte man ein tiefes Schnarchen. Das war Keno. Für seine kleine Größe war er ziemlich laut. Eingemurmelt in Aleas meerblauen Mütze lag er auf dem Tisch. Währenddessen wehte der Wind und das Holz der Hütte knirschte leise. Auf einmal hörte sie den Wasserhahn tropfen.
Tropf, tropf, tropf.
Alle Geräusche um sie herum verstummten und das Tropfen stand im Fokus. Der Plan das Rufen ignorieren zu können ging nach hinten los, denn der Wasserhahn erinnerte sie wieder an die Stimme in ihrem Kopf.
Geh ins Wasser, rief es in ihr. Oder war das garnicht sie selbst? Wer auch immer das war, die Stimme war stärker als ihr Willen. In ihren Händen begann es zu kribbeln und es fiel Alea von Sekunde zu Sekunde schwerer ruhig zu sitzen.
Tropf, Tropf, Tropf, hämmerte es in ihrem Kopf.
"Ich schaffe das nicht mehr!", gestand sie sich selbst ein. Alea ließ sich von dem Sirenengesang treiben. Das Tropfen wurde zur Melodie und ihre Schritte zum Tanz. Sie gab sich voll und ganz hin. Leise stand sie auf und verließ das Häuschen. Alea irrte den Straßenrand hinunter, weg vom Berg, bis sie den Rhein erreichte. Die Melodie in ihrem Kopf wurde lauter, oder war es doch Gesang den sie hörte? Verzaubert zog sie ihre Schuhe aus und mit einem eleganten Kopfsprung trieb sie ins Wasser.
In Alea kribbelte alles. Ihre Raffnarben dehnten sich aus. Es sah fast so aus als würden sie sich auffalten. Schließlich kamen ihre Schwimmhäute zum Vorschein. Gebannt sah sie ihrer Verwandlung zu. Plötzlich konnte sie atmen. Sie atmete unter Wasser. Erst jetzt hatte sie das Gefühl wirklich atmen zu können. Zufrieden zog sie Wasser durch ihre Kiemen. Ihre Haut färbte sich derweil leicht grünlich. Sie schimmerte schon fast. Zugleich aktivierte sich ihre Nachtsicht, es war ihr erlaubt auch in dunklen Gewässern alles klar erkennen zu können. Diese Eigenschaft kam ihr gerade zu recht. Gleich nach ihrer Transformation schoss sie wie ein Pfeil durch das Wasser und folgte fasziniert dem Gesang. Wie sehr hatte sie das Gefühl vermisst schwimmen zu gehen, die Strömung in ihren Haaren zu spüren, sich treiben zu lassen. Da erkannte sie Farben im Wasser, Stimmungsspiegel. Das Wasser erzählte ihr Geschichten, es sprach wieder mit ihr! Die Farben waren zwar nicht so kräftig wie im Meer, jedoch freute sich Alea irgendwas zu sehen.
Doch dann erblickte sie etwas, was das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Etwas schwarzes, das war jedoch kein Stimmungsspiegel. Nein, es war ein Wesen, das geradewegs auf sie zu raste!! Es war schnell. Ruckartig wurde ein Schalter in ihrem Kopf aktiviert -Gefahr.
Sofort änderte Alea die Richtung und schwamm los. Es fiel ihr schwer vom Gesang wegzuschwimmen. Kopf und Herz stritten sich, doch sie hatte keine Wahl. Während ihr Meeresinstinkt schrie "Dreh um!", brüllte ihr klarer Verstand "Schwimm weiter". Von diesem Zwiespalt wurde ihr schwindelig und sie wurde langsamer. Sie blickte nach hinten, konnte die Gestallt aber nicht mehr sehen. Auf einmal!! Wie aus dem nichts stand das Wesen vor ihr, es hatte sie eingeholt.
Nun erkannte Alea die Silhouette. Es war kein magisches Wesen, sondern ein Mensch! Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, zu viele Luftblasen quollen aus den Nasenlöchern hervor. Die Person war etwas größer als sie, männlich und muskulös. Im Stimmungsspiegel erkannte sie Wut.
Aus heiterem Himmel griff die Person nach ihrem Arm. Sie wollte Alea an Land bringen!! Sofort wehrte sie sich. Allerdings hatte Alea einen Vorteil, sie konnte unter Wasser atmen. Mit einem starken Schwung schmiss sie sich nach hinten und trat kräftig aus. Ihre Füße trafen den Menschen mitten in der Magengruppe. Jedoch hielt ihn dies nicht lange auf. Schnell sammelte er sich wieder. Er schien verwirrt, dass Alea ihn angriff und wusste nicht wie er reagieren sollte. Kurz nach ihrem Tritt huschte er hinter Alea. Mit einem festen Griff hielt er ihre Hände hinter ihren Rücken, damit sie ihn nicht erneut angreifen konnte. Alea wusste, dass sie sich nicht lösen könne, weshalb sie ihren Oberkörper nach vorne warf. Im Wasser wiegten Menschen deutlich weniger als an Land. So war es ihr möglich die Person über sich zu werfen. Saltoartig kugelte der Mann durchs Wasser. Alea nutzte seine Verwirrung aus und machte sich für den nächsten Schlag bereit. Kräftig trat sie ihm in die Seite, woraufhin sie sofort los schwamm.
Zumindest versuchte sie es. Obwohl ihr Gegner einiges einstecken musste gab er nicht auf.
Bevor Alea sich aus dem Staub machen konnte packte er sie am Fuß und zog sie mit einem starken Ruck zurück zu sich. Alea geriet in Panik. Was wollte er von ihr? Wenn es wirklich einer von Orion war, war sie ihm nun hilflos ausgesetzt. Niemand wusste, dass sie im Fluss war und Abends liefen kaum Menschen den Rhein entlang.
Aber nein, Alea wollte nicht einfach aufgeben. Sie durfte es nicht!
Obwohl der Mann sie an beiden Armen packte tat Alea alles um es ihn noch schwerer zu machen sie unter Kontrolle zu halten. Angestrengt strampelte sie mit den Beinen und erwischte dabei das ein oder andere Mal seinen Oberschenkel, dabei knickte er gelegentlich leicht ein, rappelte sich aber genauso schnell wieder auf.
„Lass mich los!", kreischte sie aufgebracht und drückte sich von ihm weg. Der Mann schien jegliche Geduld zu verlieren. Rasch zerrte er an ihren Schultern und drehte sie kontrolliert zu sich um. Alea sah ihm nun mitten ins Gesicht.
Erst jetzt erkannte sie ihn.
Es war Lennox!!
Alea brach zusammen. Sie hatte mit ihrem Freund gekämpft. Wieso hatte sie ihn nicht sofort erkannt??
"Lennox? Es tut mir leid. Ich wollte das nicht!", keuchte sie außer Atem und hielt ihre Hand an seine Rippen. Sie hatte beim Kampf keinerlei Rücksicht genommen. Mit verzogener Miene deutete Lennox nach oben. Er brauchte Luft. Schnell schwammen sie zur Wasseroberfläche. Am Ufer angekommen fiel Lennox zu Boden. Er hustete mehrmals und spuckte eine Menge Wasser aus. Er musste viel davon während des Kampfes verschluckt haben und trotzdem hatte er sich geweigert ohne Alea zu gehen. Er schlug mehrmals kräftig auf seinen Rücken ein, als wäre ganz unten in seiner Lunge noch immer Wasser.
Als er wieder normal zu atmeten schien fragte Alea ihn aufgewühlt: "Was machst du hier?". Wütend richtete Lennox seinen Blick auf sie. Seine azurblauen Augen funkelten auf. Normalerweise schwelgte Alea allzu gern in Lennox' Blicken, diesmal traute sie sich allerdings kaum nach Luft zu schnappen. Ihr war klar, dass sie es diesmal zu weit getrieben hatte. Langsam stand Lennox auf und ging auf sie zu. Seine breiten Schultern reckten sich auf.
"Du fragst mich was ich hier mache?", wiederholte er ihre Frage ungläubig.
"Du wunderst dich warum ich hier bin? Das kann ich dir sagen, Alea. Ich bin wach geworden und als ich mich umsah warst du auf einmal nicht mehr da. Ich habe dich gesucht und sah deine Schuhe am Ufer. Mir war klar, dass du ins Wasser gingst. Als ich dich dann endlich fand hast du mich plötzlich angegriffen! Während ich dich nicht verletzen wollte hast du mich mehrmals getreten. Wieso machst du so etwas?", fragte er empört. In der Tat ließ er sich von Alea schlagen, während er selbst lediglich versuchte sie zu beruhigen.
Alea sah beschämt zu Boden.
"Ich habe dich nicht erkannt. Ich wusste nicht wer du warst. Du hättest einer von Orion sein können oder jemand anders gefährliches", verteidigte sie sich. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie sich furchtbar fühlte. Sie hatte Lennox nie weh tun wollen. Weder seinen Gefühlen, noch seinem Körper, und jetzt war er wegen ihr auch noch fast ertrunken!! Ein dicker Kloß der Schuld hing ihr im Hals.
"Das erklärt aber immer noch nicht warum du im Wasser warst. Ich hab dir doch gesagt es sei riskant. Und dann schwimmt du auch noch alleine!! Abends bist du für die Schiffe doch praktisch unsichtbar", schimpfte er aufgewühlt. In seiner Stimme lag Wut, doch seine Augen offenbarten Angst. Angst um Alea.
"Ich weiß doch selbst nicht warum ich ins Wasser ging! Etwas rief nach mir", versuchte sie sich zu erklären, woraufhin Lennox sarkastisch lachte.
"Alle Meerkinder haben das Gefühl vom Wasser angezogen zu werden, und trotzdem schleicht sich keiner von ihnen abends alleine nach draußen", konterte er.
"Nein, es war nicht wirklich das Wasser, das nach mir rief, sondern jemand anderes, eine fremde Stimme", öffnete sie sich. Alea konnte es sich selbst nicht erklären. Sie fühlte sich wie hypnotisiert, und hatte keinerlei Macht über ihren eigenen Körper. Lennox schien nach zu denken. Dann seufzte er laut.
"Komm her", bat er sie und breitete seine Arme aus. Erleichtert viel Alea ihm um den Hals, woraufhin Lennox sofort zusammen zuckte.
"Nicht so fest", schnaufte er gekrümmt und verzog sein Gesicht. Alea erinnerte sich, dass sie ihm kräftig in die Seite trat und deshalb vermutlich etwas nachsichtiger mit ihm sein müsse. Sie lockerte ihren Griff und umarmte ihn vorsichtiger.
„Perfekt", flüsterte er schließlich zufrieden und schloss sie ebenfalls in den Arm. Er vergrub sein Gesicht in ihren nassen Haaren. Man sah ihm an, wie glücklich er war, dass es Alea gut ging.
"Ich wollte das nicht! Ich wollte dir nicht wehtun oder, dass du dir Sorgen machst", schluchzte sie kleinlaut. Das alles tat ihr unendlich leid und obwohl sie wusste, dass Lennox ihr schon längst verzieh fühlte sie sich elend.
"Ich weiß", beruhigte er sie und streichelte ihren Kopf behutsam. "Ich weiß", wiederholte er.
Alea strich sich über ihre rinnende Nase.
"Dann zeig mal her", sagte sie etwas ruhiger und zog sein T-Shirt hoch. Sein Bauch war voller blauer Flecken und kleinen Wunden. Erschrocken hielt sich Alea die Hand vorm Mund.
"Das ist nichts", wehrte Lennox ab und zog sein T-Shirt schnell runter um seine Verletzungen zu verstecken.
"Also suchen wir dann die mysteriöse Stimme?", wechselte er schnell das Thema. Verwundert blickte Alea ihn an. Wieso hatte er seine Meinung geändert? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ergänzte er: "Dir scheint das sehr wichtig zu sein und ich habe es auch sehr vermisst mit dir im Wasser zu schwimmen". Alea schmunzelte und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. "Danke", flüsterte sie glücklich. Lennox merkte schließlich noch an, dass sie so nah wie möglich am Meeresboden schwimmen müssten um den Schiffen auszuweichen. Ihm schien diese Sache wohl immernoch nicht ganz geheuer. Aufgeregt nickte sie, denn war froh, dass Lennox mit ihr gemeinsam dem Gesang auf die Spur gehen wollte. Außerdem fühlte sie sich bei ihrem Krieger mitten in der Nacht deutlich sicherer.
Schließlich zog auch Lennox seine nassen Schuhe und Lederjacke aus und die beiden sprangen gemeinsam ins Wasser um die Stimme zu suchen. Sobald Alea komplett unter Wasser war verwandelte sie sich wieder in ein Meermädchen. Mit sehnsüchtigen Augen sah Lennox sie an.
"Stimmt etwas nicht?", fragte sie verunsichert. Er schwamm ein Stück auf sie zu. Seine linke Hand schmiegte er um ihre Taille während er mit der rechten ihr Gesicht hielt.
"Ich habe diesen Anblick vermisst", flüsterte er verliebt. Unter Wasser hörte sich seine Stimme etwas dumpf an. Alea verstand ihn jedoch problemlos. Verträumt schloss sie ihre Augen und küsste ihn. Ihr ganzer Körper fühlte sich wie elektrisiert. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, dass sie mit ihrem Freund im Wasser war. Langsam löste er sich von ihr. Als sie ihre Augen wieder öffnete sah sie seinen Stimmungsspiegel. Pink Blasen quollen um ihn herum, umringt von rotem Feuer und grünen Zacken - Liebe, Leidenschaft, Glück.
Die beiden tauchten möglichst nah am Boden. Alea hörte der Stimme aufmerksam zu und gab die Richtung an. Diesmal bemühte sie sich nicht das Rufen zu ignorieren, sondern lauschte diesem. Ihr war nun klar, dass jemand gutes oder auch vertrautes nach ihr rief. Aufgeregt folgten sie dem Gesang.
Die ganze Zeit fragte sie sich wer dieser jemand sein könnte....
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro