55. Kapitel
Das dumpfe Geräusch des Gehstocks und das Ächzen der alten Alchemistin durchbrechen das laute Stimmengewirr in der kleinen Halle, wo sich auf langen Sitzbänken die Dorfbewohner versammelt haben. In Reihe und Glied stehen die länglichen Sitzmöglichkeiten aus Holz und umzingeln die Mitte des Raumes, wo Albert und sein Sohn Thomas stehen. Das Tageslicht hat kaum eine Chance, durch die dreckigen Fenster zu scheinen. Für Licht sorgen die unzähligen Kerzen, die dem Raum eine schaurige Atmosphäre geben, als würde hier gleich insgeheim ein satanistisches Ritual stattfinden.
Diese hölzerne Hütte hat die guten Tage bereits hinter sich, es riecht muffig und feucht. Mal abgesehen von dem hohen Staub auf den Möbeln wirkt das Dach nicht richtig dicht. Clive glaubt, einen Windzug wahrzunehmen.
Alberts ältester Nachkomme hebt abwehrend die Hände und belächelt Gertas Auftritt: „Die alte Hexe? Was willst du hier?"
Empört von der Beleidigung und Anschuldigung blickt Clive auf. Auch wenn Thomas es nicht so meint und sich einen Spaß erlaubt, sind solche Worte besser mit Vorsicht zu genießen. Das Wort Hexe ist nicht bloß dahergeredet, denn es verbreitet Angst und Schrecken.
„Wie könnt Ihr es wagen." Der Alchemist betrachtet Alberts Sohn fassungslos. „Ihr solltet Euch besser entschuldigen."
Spöttisch hebt Thomas seine Augenbraue.
„Entschuldigen?" Er lacht und einige der Dorfbewohner stimmen mit ins Gelächter ein. „Eine Frau, die sich mit teuflischem Zeug beschäftigt?"
„Sagt der Bursche, dessen Vater sich von einer wahren Hexe verführen ließ", teilt Gerta frech aus.
Nun gilt das Gelächter Albert, dem die Schamesröte ins Gesicht steigt. Schließlich wird seine Autorität in Frage gestellt.
„Ruhe!", brüllt er und seine Stimme hallt mehrere Male als Echo durch den runden Raum wieder.
„Pah! Natürlich war mein Vater geblendet! Wir reden hier schließlich von einer Hexe! Die sind doch bekannt dafür!", verteidigt Thomas ihn und bekommt von einigen Dorfbewohnern Zuspruch.
Die Alchemistin rollt genervt die Augen und will das Thema gar nicht erst vertiefen. „Wenn du meinst!"
Nun spricht der Dorfvorsteher eine andere Unverschämtheit an: „Wirklich, Gerta? Ein Fremder? Er hat hier nichts zu suchen!"
„Dieser Fremde hat euch vor Luela gerettet!", erinnert die Alchemistin ihn streng.
Das überzeugt Albert nicht. „Und doch hat er hier nichts zu suchen!"
Auch wenn Clive in unterschiedliche Gesichter blickt und erkennt, dass die Ansichten der Leute gespalten sind, spürt er, wie ungern ein Fremder hier gesehen wird. An diesem Gespräch soll er eigentlich nicht teilnehmen, aber seine Lehrmeisterin besteht darauf und strotzt vor Entschlossenheit.
„Setzt dich besser", rät der Schmied in einem eher unfreundlichen Ton.
Doch die alte Frau denkt nicht mal daran und trottet weiter voran zur Mitte des Raumes.
Albert schnalzt abwertend mit der Zunge, verschränkt die Arme und tauscht mit seinen Sohn vielsagende Blicke aus. So tritt Thomas ihnen entgegen und deutet auf eine freie Sitzreihe.
„Setzt euch!"
„Halte mich nicht auf! Und macht es mir nicht so schwer, euch Schwachköpfe zu retten."
„Zu retten? Als bräuchten wir deine Hilfe!", tönt Alberts Stimme.
Gerta hält vor Thomas inne und fordert: „Geh mir aus dem Weg!"
„Nein!"
Der junge Mann weigert sich.
Mit aller Kraft hebt Gerta den Gehstock, findet Halt bei Clive und will zuhauen. Ihr Schüler erkennt den Gefühlsausbruch und schafft es, sie zu stoppen. Er schnappt sich die Gehilfe und vermeidet somit großen Ärger.
„Du Hohlbirne!", beginnt Gerta mit der Schimpfparade, die Alberts Sohn gilt. „Was glaubst du eigentlich ..."
Immer wieder spricht Clive auf seine Lehrmeisterin ein, die lässt sich jedoch kaum beruhigen. Thomas lässt alles über sich ergehen, mit einem teuflischen Lächeln hört er sich alles an, was sie zu sagen hat. Am Ende, als der alten Frau der Atem wegbleibt, fordert er sie schließlich ruhig auf: „Ich glaube, es wird Zeit, zu gehen, Gerta. Du bist hier unerwünscht."
„Zu meinem Bedauern gehöre ich dieser Gemeinde an!", erinnert sie ihn streng.
„Nein!" Der Schmied erhebt sich und spuckt ihr vor die Füße. „Teufelsanbeter sind hier nicht willkommen."
Albert greift nun ein und fordert: „Sofern du dich ruhig verhältst, liebe Gerta, kannst du bleiben. Ansonsten lass uns bitte allein."
Einen so feurigen Charakter hat Clive schon lange nicht mehr gesehen. Der Alchemist erkennt, wie sie bereits die nächsten Worte herausbrüllen möchte, doch dann erhebt sich ein Ehepaar mittleren Alters.
„Lass sie doch bitte zu Wort kommen. Hören wir uns ihr Anliegen an", spricht der braunhaarige Mann mit Vollbart. Wenn sich Clive richtig erinnert, dann handelt es sich hier um die beiden Obstbauern.
Thomas schüttelt genervt seinen Kopf. „Zeitverschwendung!"
Doch Albert nickt dem Ehepaar zu, bevor er zu Gerta sieht. Diese muss sich jedoch erst mal setzen.
Ein paar Schritte weiter und sie macht es sich an einem Ende der Holzbänke bequem.
Es folgt ein erleichtertes Seufzen, als sie schließlich aufblickt. „Hin und wieder habe ich doch von meinen Reisen berichtet."
Viele Augenpaare verdrehen sich und ein genervtes Raunen erfüllt den Raum. Sicherlich ist niemand scharf auf die alten Geschichten.
„Ja, hast du und wir haben dir verboten, den Kindern von deinen lächerlichen Abenteuern zu erzählen!", erinnert Thomas sie streng.
„Das habt ihr." Gerta lächelt zufrieden. „Aber dank meiner lächerlichen Abenteuer kenne ich einen verborgenen Ort. Eine Zufluchtsstätte mit perfekten Bedingungen für eine schöne Zukunft. Wir könnten dort im Verborgenen leben. Es ist ein weiter Weg und doch finden wir dort unseren Frieden. Fern von den Hexenjägern."
„Pah!" Der Schmied schüttelt genervt den Kopf. „Wer sagt denn überhaupt, dass der Ort unbewohnt ist? Außerdem wie hört sich das überhaupt an? Sicher vor den Hexenjägern! Die Hexenjäger kennen jeden Winkel dieses Landes!"
Gerta betrachtet ihn unbeeindruckt, bevor sie behauptet: „Dieser Ort ist sicher ohne Zweifel. Er ist gut versteckt."
„Wie lange ist es her, als du zuletzt da warst?", interessiert es Albert.
„Zwanzig Jahre", antwortet die Alchemisten und schwelt mit einem zufriedenen Lächeln in den alten Erinnerungen, während Unruhe in den Reihen entsteht. „Aber mein Sohn war zuletzt vor fünf Jahren dort und hat einen Wächter stationiert."
Nun erhebt sich der Schankwirt. „Einen Wächter?"
Die alte Frau nickt. „Ihr müsst mir keinen Glauben schenken, ich biete euch nur an, mich auf meinen Reisen zu begleiten. Ich gewähre euch ein neues Leben, für diejenigen, die sich Veränderung wünschen. Es ist nicht meine Aufgabe, euch von der Geschichte zu überzeugen. Bleibt hier, wenn ihr einen besseren Plan habt. Aber ich gehe."
„Erzähl uns von dem Ort", fordert Albert.
Doch Gerta weigert sich: „Nein. Besser ihr bleibt unwissend, denn wenn die Hexenjäger nur einen von euch schnappen, dann finden sie mein Versteck."
„Wann wollt Ihr aufbrechen, Gerta?", interessiert es die Obstbäuerin.
„Morgen in aller Frühe."
Damit erhebt sich die Alchemistin und deutet mit einem Nicken an, zu verschwinden. Auf den Weg hinaus beginnen die heftigen Diskussionen zwischen den Dorfbewohnern, während Gerta zufrieden lächelt.
„Stimmt es?", ergreift Clive das Wort, als sie die Tore hinaus passieren. „Gibt es diesen Ort wirklich?"
Dankbar für die Frischluft atmet Clive diese gierig ein. Es war nur ein kurzer Besuch in dieser muffigen Bude und doch ist er dankbar, diese hinter sich zu lassen.
„Den gibt es. Ein Ort voller Wunder und eine Lösung für die Sache mit den Kindern. Ich nehme sie mit mir und kümmere mich um sie. Den Wächter, den ich erwähnte, ist ein begabter Krieger und des Lesens mächtig. Wir können für eine ordentliche Ausbildung sorgen. Entschuldige bitte, dass ich es nicht vorher angeboten habe, nur reise ich in äußerste Not zurück ins Versteck. Du bist jederzeit willkommen, Clive. Es liegt an dir, ob du mich begleitest oder weiterreist."
„Was kannst du mir über den Ort erzählen, Gerta?"
Die alte Frau stoppt abrupt und antwortet: „Du warst mir von Beginn an sympathisch, Clive. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, denn bevor ich mich hier niedergelassen habe, war ich viel auf Reisen. In einer kleinen Gruppe und auch wir haben eine Hexe beschützt, eine Weißhexe. Zu meinem Bedauern ist meine Freundin so schwer erkrankt, dass sie nach einer Ruhestätte Ausschau gehalten hat. Der versteckte Ort, den ich erwähnte, ist von ihrer Magie erblüht. Sie mag von uns gegangen sein und doch ist ein Teil von ihr noch vorhanden. Ein Ort voller Wunder. Die Reise ist jedoch mit Gefahren verbunden und ihr werdet an mir zweifeln. Solange, bis wir angekommen sind und ihr das Wunder mit eigenen Augen erblickt. Ein Zuhause an dem uns nichts fehlen wird."
„Das klingt schön."
Zu schön.
„Nicht wahr?" Gerta nickt. „Aber ich sehe deinen Zweifel und ich verstehe dich, denn auch ich habe gezweifelt. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, wir finden nie einen Ort, wo sich unsere kranke Kameradin zur Ruhe betten kann. Sie war immer mit etwas unzufrieden und so sehr am Nörgeln, dass ich oft am Ende meiner Nerven war. Aber dann endlich wurden wir fündig."
Unsicher blickt Clive in den grauen Himmel. „Ich brauche Bedenkzeit. Solch eine Entscheidung sollte ich nicht sofort pfählen."
„Wohl war", stimmt ihm Gerta zu.
Eine Entscheidung, die Clive mit den anderen treffen muss. Dabei fehlt Rebecca und es steht in den Sternen geschrieben, wann sie zu ihnen zurückfindet. Und doch mag Clive sie nicht ausgrenzen, schließlich gehört der Langfinger zu ihnen. Wie gern wäre er jetzt bei Rebecca oder zu Besuch beim Grafen. Es überrascht ihn, welchen Wendepunkt seine Reise gemacht hat. Die Aussicht auf den vollwertigen Titel eines hochangesehenen Alchemisten bedeutet ihm nicht mehr ganz so viel, wie das Glück seiner Kameraden und ein Ende der Geschichte, womit alle Anwesenden zufrieden sein können.
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