44. Kapitel
Aus der Ferne dringen Laute eines glücklichen Vogelpaars an Clives Ohr. Mit höllischen Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel setzt sich der Alchemist auf. Das Tageslicht brennt in seinen Augen, woraufhin Clive diese zukneift. Die Welt um ihn dreht sich, selbst mit geschlossenen Augen. Also legt sich Clive hin, liegt eine Weile dort und lauscht der Geräuschkulisse um ihn herum. Da wären die Vogellaute, das Rascheln der Blätter im Wind und ein Geräusch, das ihn an einen Schaukelstuhl erinnert. Er mag sich gerade nicht auf sein Augenlicht verlassen können, aber hier ist sich Clive sicher, dass es sich um einen Schaukelstuhl handelt. Er zweifelt keine Sekunde daran, denn sein Gefühl sagt ihm, dass er richtig liegt.
All die Informationen, was einmal war und was ihn ausmacht, sind unerreichbar für den Alchemisten. Clive kann sich nicht erklären, wer er ist und wie er hierher kam. Vielleicht kam die Amnesie durch einen Unfall oder vielleicht einen Sturz. Sein Zeitgefühl geht verloren. Wie lange er auf den weichen Untergrund liegt, ist schwer zu sagen. Das beruhigende Geräusch des Schaukelstuhls verstummt. Clive dreht seinen Kopf zur linken Seite, wo er dumpfe Schritte und ein ständiges Auftippens hört. Die Geräusche werden lauter, woraufhin Clive einen erneuten Versuch startet, sich aufzusetzen. Der Schwindel hat sich gelegt und so öffnet der Alchemist seine Augen. Durch einen Schlitz blickt er auf die farbenfrohe Welt um ihn herum, auf die hölzernen Wände. Die Bettdecke fühlt sich geschmeidig und weich an, sie besteht aus einem olivgrünen Farbton. Der Duft von frischen und getrockneten Kräutern erreicht seine Nase. Lavendel, Salbei, Kümmel, Kamille und viele weitere Duftnoten steigen ihm in die Nase. An einer Kochstelle blubbert ein Eintopf vor sich hin. Seine Ohren haben ihn nicht im Stich gelassen, tatsächlich befindet sich ein schöner Schaukelstuhl mit Blumenschnitzereien in einer gemütlichen Ecke, wo auf eine Kommode eine kleine Sammlung Bücher zu finden ist. Mit Lederumschlägen geschützt zählt Clive sieben Bücher auf der kleinen Kommode. Das kleine Haus ist mit vielen Zimmerpflanzen geschmückt und ein Bereich hat Clives ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Anblick dieses gemütlichen Labors mit all den hochwertigen Instrumenten, Glasbehältern und Arbeitswerkzeugen lässt sein Herz höher schlagen. Wie gern, würde er sich dort umsehen.
„Bleib besser liegen, Clive", erreicht eine zittrige Stimme seine Ohren.
Die Matratze neben ihn sackt ein Stück nach unten, als sich eine kleine, alte Frau hinsetzt und ihr Gewicht mit der Hilfe eines Gehstocks stützt. Die hagere Gestalt mit dem silberfarbenen Haar mag ein eingesunkenes und faltiges Gesicht haben und auch zerbrechlich wirken, aber die grauen Augen sind hellwach. Aufmerksam betrachtet die Fremde ihn von der Seite. Der Stock, ihre Kleidung, die Bettwäsche, die Samtvorhänge – die Liste ist endlos. Aber alles deutet darauf hin, dass sie wohlhabend ist.
„Entschuldigt bitte meine Verwirrung, aber ich kann mich kaum daran erinnern, wer ich bin. Ihr nanntet mich Clive?"
„Gedächtnisschwund. Ich hätte es wissen müssen!" Die alte Frau lächelt wissend. „Das sind die Nebenwirkungen der Traumwurzel. Sei unbesorgt, junger Alchemist. Die Wirkung wird schnell verfliegen. Ein paar Stunden und du wirst dich erinnern."
Clive blinzelt sie überrascht an und wiederholt: „Alchemist?"
Ein freudiges Funkeln findet er in ihren Augen wieder, nun fixiert sie ihren Arbeitsbereich mit all dem hochwertigen Material.
„Wir teilen ein gemeinsames Interesse, wie ich hörte. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich auf ein anderes Gebiet konzentriert habe."
Er möchte nicht unhöflich sein und doch wünscht sich Clive nichts Weiteres als Antworten: „Könnt Ihr mir sagen, wie ich hierhergekommen bin."
„Das verdankst du deiner Freundin", antwortet ihm die alte Frau. „Du weißt schon, Sina die Weißhexe."
„Sina", wiederholt Clive und bevor er sich großartig an die Namensträgerin erinnern kann, sprudeln die nächsten Worte aus ihm heraus. „Sina ist keine Weißhexe. Sie ist eine Fee."
Seine Gastgeberin betrachtet ihn nun interessiert. „Das hat die junge Dame auch behauptet. Aber was ist eine Fee?"
Wenn Clive ihr diese Frage beantworten könnte, stattdessen starrt er die Fremde nachdenklich an. Zerbricht sich den Kopf an der Frage und findet keine Antwort. Die alte Dame legt ihre zittrige Hand behutsam auf seine Schulter. Sie duftet stark nach allerlei Kräuter und hat eine liebenswürdige Ausstrahlung.
„Ich habe da etwas für dich, junger Mann. Einen Tee, der wird dir helfen."
„Einen Tee?", wiederholt Clive überrascht. „Was für einen Tee?"
„Blüten der Schlehe als Stärkung für deinen Magen", beginn sie zu erzählen und erhebt sich mühselig auf die Beine. „Die Blüten der Schlüsselblumen, perfekt gegen einen Schwächeanfall. Die Vogelmiere..."
„Ist blutreinigend", erinnert sich Clive, bis ihm bewusst wird, dass er die nette Dame unterbrochen hat.
Die Gastgeberin stoppt an der Kochstelle und nickt ihm zu, bevor sie nach einer Tasse kramt und mit ihrer Auflistung fortfährt.
„Blüten und Blätter vom Weißdorn für das Herz. Schwarzen Holunder fürs Entgiften und Johanniskraut für den Geist."
Sie pausiert und Clive beobachtet, wie sie die Tasse mit einem Aufguss der Kräuter füllt. Clive fühlt sich bei ihrem schwachen Zustand aufgefordert, zu helfen. Also nimmt er sich vor, aufzustehen. Doch kaum ist er auf den Beinen, wird er vom Schwindel erneut überwältigt. Bevor er gegen sein Gleichgewicht verliert, nimmt Clive Platz und beobachtet, wie die alte Dame mit dem Gehstock und der Tasse sich auf dem Rückweg macht.
„Rotklee für das Wohlbefinden, Schafgrabe für den Appetit und Nelkenwurz. Ich bin mir sicher, damit kannst du etwas anfangen, Clive." Es folgt eine Verschnaufpause, bevor die alte Frau zu ihm zurückkehrt. „Du siehst, es ist wichtig, dass du dich erholst, Clive."
„Die Zutaten", beginnt Clive gedankenverloren. „Ich habe schon oft mit ihnen gearbeitet."
„Das wundert mich nicht, dein Gebiet ist die Kräuter- und Heilkunde. Während ich mich eher mit der Traumforschung beschäftigte und mein Gebiet auf die außerkörperliche Erfahrung erweitert habe. Du musst mir unbedingt mehr von deinem Erlebnis berichten und es mir niederschreiben, Clive."
„Ihr seid Alchemistin?", die Frage mag überflüssig sein und doch braucht Clive Gewissheit.
Die alte Dame reicht ihm die Tasse und antwortet schnaubend: „Naja, inoffiziell schon. Zu meinem Pech werden Frauen nicht im Magisterturm geduldet. Als Kräuterhändlerin habe ich meine letzten Jahre hier verbracht, davor aber war ich auf Reisen und so kam ich an einige Schätze. Die Traumwurzel ist eine davon. Mein Sohn müsste dir bekannt sein, sein Name ist Jakob Blaunelk..."
Die alte Dame spricht zwar weiter, während Clive mit einer Erinnerung konfrontiert wird. Jakob Blaunelk gilt als eine Legende unter den Alchemisten, wenn es um die Traumforschung geht. Clive ist dem Schönling schon einmal begegnet, dabei ging es um eine Lehrstunde. Der gutaussehende Alchemist hat bereits so einige Projekte geleitet, einen König in Not beraten und gilt im ganzen Lande. Mit ihm sollen Alpträume oder tiefverwurzelte Probleme verschwinden. Ein Mann mit vielen Bewunderern und gleichzeitig auch Feinden. Jakob ist die große Ausnahme unter den Alchemisten, denn neben seiner Faszination zu Träumen hat sich der Alchemist auch als erfahrener Bogenschütze bewiesen. Oft ist kein Begleitschutz von Nöten, denn dieser Mann hat ein scharfes Gehör, eine beachtliche Präzision und großes Feingefühl. Sein selbstbewusstes Auftreten und seine Schlagfertigkeit haben Clive schon damals fasziniert.
Mit der Erinnerung an Jakob Blaunelk strömen all die verdrängten Informationen auf Clive ein und lassen ihn erinnern, welchen Platz er in dieser Welt spielt. Die Flut an Erinnerungen ist zu gewaltig und gibt ihm das Gefühl, dass sein Kopf zu Platzen droht. Die alte Frau nimmt ihn die Tasse aus der Hand, als sie kommen sieht, wie sich Clive fallen lässt und seine Finger in seine Haarpracht vergräbt. Mit einer Engelsgeduld wartet die Gastgeberin, bis Clive seine Hände sinken lässt. Dem Alchemisten ist daraufhin nicht zu sprechen, sondern das zu verarbeiten, was er für einen kurzen Moment verloren hat. Die Teemischung hingegen nimmt er dankend entgegen, eine kleine Stärkung kann nicht schaden. Und so lässt ihn seine Gastgeberin für einen Moment allein und widmet sich ihren Hausarbeiten.
Die Quelle für das tolle Teerezept lautet:
https://www.kostbarenatur.net/rezepte/kraeuter-zur-staerkung-nach-langwierigen-krankheiten/
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