14. Kapitel
Es war stockfinster und um sie herum raschelte etwas in den Büschen, Rebeccas Puls beschleunigte sich schlagartig. Mit zittrigen Beinen stand sie im Nirgendwo, der schwere, süßerdige Duft stieg ihr in die Nase. Sie roch Moss, die Nadelbäume und Pilze, während die Kälte bis in ihre Knochen wanderte.
„Joel", bibberte sie.
Es war mehr ein Flüstern, ihr Bruder musste sich schrecklich amüsiert haben, wenn er sie so sah.
„Du bist so ein Angsthase, Rebecca", bekam sie von ihm zu hören.
Er war ganz in der Nähe, sie lauschte seinen Schritten.
„Ich habe Angst, Bruder."
„Öffne deine Augen, Rebecca. Öffne sie", forderte ihr Bruder.
„Joel! Meine Augen sind geöffnet! Aber ich sehe nichts! Es ist zu dunkel!", wurde die fünfjährige Rebecca launisch.
„Dann, meine geliebte Schwester, hast du deine Augen nicht richtig geöffnet. Schärfe deine Sinne und gewöhne deine Augen an die Dunkelheit. Du wirst sehen, Rebecca. Glaube mir."
Y
„Danke für die nächtlichen Ausflüge, kleiner Bruder. Ich sehe und ich höre mein Umfeld nun", spricht Rebecca mit dem Kopf zum sternenklaren Himmel gewandt.
Ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen, wenn sie an die vergangene Zeit zurückdenkt. Sie hat ihren Bruder für seine Abenteuer als Fünfjährige verflucht, dabei hat Joel ihr damit einen Gefallen getan. Ohne ihn wäre sie nicht diejenige, die sie heutzutage ist. Frech, selbstbewusst und selbstständig.
Ihre Augen erfassen die Bäume, die Büsche und auch die Spuren auf dem Waldboden, wenn auch nicht ganz so deutlich als am Tag. Der vertraute Geruch der Wälder steigt ihr in die Nase, die kühle Luft füllt ihre Lungen. Aus dem jungen, ängstlichen Häschen ist nun ein Luchs herangewachsen. Auf leisen Sohlen schleicht sie unbemerkt durch die dichte Finsternis, still und heimlich an den Bäumen vorbei.
Rebecca hat eine sehr scharfe Nase, sie nimmt Gerüche bewusster wahr als all die anderen. Sina duftet anders als die Leute, sie riecht blumig. So stark, dass Rebecca sich fragen musste, warum die Bienen und Hummeln sie bislang verschonten. Eigentlich müsste Clives Herzensdiebin von den Insekten ständig umgeben sein, wie eine gutriechende Blume im Mittelpunkt einer Wiese.
Sina war hier, der Duft ist so stark verbreitet, dass sie noch nicht weitgekommen sein kann. Die beschädigten Zweige und die Fußspuren verraten Rebecca den Weg. Die junge Diebin hält inne, als das Wolfsgeheul ihre Ohren erreicht. Ausgerechnet Wölfe, ihre Rufe kommen aus unmittelbarer Nähe.
Warum muss Sina ausgerechnet durch das Jagdgebiet des Rudels streifen?
Bevor die Jagd nach Sina losgeht, fahren ihre Finger zu ihren Gürteltaschen. Sie überprüft auf die Schnelle ihre Ausrüstung und bereitet sich mental auf eine Konfrontation mit einem Wolfsrudel vor. Drei tiefe Atemzüge später stürmt sie los, viele treten falsch auf und sind damit zu laut. Statt mit der Ferse sollte der ersten Bodenkontakt durch den Mittelfuß erfolgen. Im Dunkeln mag es schwerer sein wie am Tag und doch achtet sie darauf, auf keine Zweige zu treten, die sie verraten könnten.
Das Nachtleben ist im vollen Gange, überall raschelt, kratzt und nagt es in den Büschen. Die Nachtvögel sind aktiv. Sie lauscht ihrem eigenen Atem und dem Wind, der ab und zu die Blättern zum Tanzen bringt. Die Geräuschkulisse wird immer schauriger, trotz des Unwetters, was vor Kurzem noch gewütet hat. Die nachtaktiven Tiere trauen sich aus ihren Verstecken und beginnen mit ihrer Routine.
Rebecca kommt vor einem steilen Abhang zum Halt, aus der Ferne erblickt sie Sina. Als wäre dies ein schlechter Traum, ist Clives Herzensbrecherin von unzähligen Tieren umgeben, unter den vielen unterschiedlichen Lebewesen befindet sich ausgerechnet ein Bär. Er läuft Seite an Seite neben Sina und scheint kein Interesse daran zu haben, sie anzugreifen. Es wirkt eher, als wolle er sie beschützen.
Ein Wolfsrudel ist schon übel, aber ein Bär? Wenn das pelzige Tier sie mit seinen Klauen trifft, dann hat Rebecca nichts mehr zu lachen. Darauf war sie nicht vorbereitet, ihre Gedanken werden von einem Hecheln unterbrochen. Ihr tropft eine Schweißperle von der Stirn, als sie die vielen Schritte hört. Etwas, kommt hinter ihr näher und sie ahnt bereits, womit sie es zu tun hat.
Viel Zeit bleibt ihr nicht, mit zittrigen Händen greift sie an ihren Gürtel und schnappt sich das runde Gefäß. Durch das ganze Laub wird die Glasphiole nicht zerbrechen, zum Glück befinden sich große Steine in ihrer Nähe. Sie darf nur nicht verfehlen, denn sie hat nur einen Versuch. Bevor sich das Rudel auf sie stürzen möchte, knurrt einer der Wölfe. Ein Warn- und gleichzeitig ein Startsignal, sie schmeißt und trifft den Stein, wenn auch nur an der Kante. Aber der Zweck ist erfüllt, der Glasbehälter zerbricht und der Rauch wird freigelassen. Nun sprintet Rebecca los, es geht steil hinunter. Sie kann nur hoffen, dass sie über keine Wurzel stolpert oder sich Steine unter ihren Füßen lösen.
Ihr Gehör verrät ihr, das eines der Raubtiere auf sie zuspringt, also geht sie in Deckung. Ihr Herzschlag verdoppelt sich, als das Tier um Haaresbreite über ihren Kopf hinwegspringt, der nächste Wolf ist auch schon im Anmarsch. Ihm Auszuweichen ist ein Ding des Unmöglichen, zum Glück steht dieser alte Baum in ihrer Nähe. Sie springt auf diesen zu und dankt ihrer Begegnung mit einem Akrobaten, der ihr den Rückwärtssalto beigebracht hat. Kaum federt sie sich an der Rinde ab, führt sie das Kunststück durch, was der nette Kerl damals Stunden mit ihr geübt hat. Eine Rückwärtsrolle in der Luft. Nur die Landung auf ihren zwei Beinen endet etwas holprig, schließlich ist der Boden uneben. Nach ein paar Schritten taumelt sie ihr Gleichgewicht und beobachtet zufrieden, wie der Wolf seine Zähne ins Holz schlägt.
Das Grinsen ist schnell verflogen, sie zählt um sich herum noch weitere fünf Tiere und auch aus der Ferne bewegen sich Gestalten, die von der Größe her ebenfalls Wölfe sein könnten. Sie hat wirklich keine Ahnung, wie viele kleine Messer sie in ihrer Gürteltasche bei sich führt. Selbst wenn die Anzahl ausreichen würde, dann müsste jeder Treffer sitzen oder sie endet heute Nacht als Wolfsfutter. Verzweifelt hält sie Ausschau nach einer Klettermöglichkeit, nicht mit den Wölfen. Die Biester setzen sich mit gefletschten Zähnen in Bewegung, hungrig und sabbernd greifen sie im Rudel an.
Sie verflucht die Dunkelheit und wirft auf gut Glück das erste Messer los, das Tier heult auf. Vielleicht ein gutes Zeichen, wenn die anderen Wölfe nicht wären. Ein weiteres Mal schafft Rebecca es tatsächlich unter einem springenden Wolf hinweg zu ducken, mit ihrem Bein holt sie aus und tritt einen weiteren Wolf an der Schnauze fern. Bevor sich die Diebin aufrichten kann, landet eines der Raubtiere auf ihrem Rücken und beißt sich an ihrer Schulter fest. Seine Zähne bohren sich tief in ihr Fleisch, wütend schreit sie auf. Am liebsten würde sie nach dem Fellknäuel greifen und es von sich reißen.
Ein weiterer Wolf nähert sich ihr, bereit seine Hauer in ihr Bein zu schlagen. Nicht mit ihr, Rebeccas Messer trifft und schaltet das Raubtier aus. Mit dem nächsten Messer hält sie bereits Ausschau nach ihrem Ziel, die Wölfe jedoch entfernen sich langsam mit gesenktem Kopf von Rebecca. Auch der Wolf auf ihrem Rücken lässt von ihr ab und entfernt sich, perplex blickt die Diebin umher. Ihre Schulter schmerzt und pocht, mit klopfendem Herzen sucht sie noch einer größeren Bedrohung. Etwas, was die Wölfe das Fürchten lehren könnte. Sofort kommt ihr der Bär in den Kopf, wobei sich ein tiefer Kloß in ihrem Hals bildet. Sie schluckt diesen herunter und lauscht den Schritten, ihr Griff um das Messer wird so feste, dass sich ihre Fingerknöchel weiß färben.
Ihre Lungen brennen, als hätte sie den Sprint ihres Lebens hinter sich. Aus dem Augenwinkel heraus nähert sich ihr eine menschliche Gestalt, die Wölfe treten zur Seite. Rebecca hat bislang jede Gottheit verleugnet, auch jetzt wird sie nicht einknicken und gläubig. Tiere können dressiert werden, das hier beeindruckt sie nur wenig.
„Genug! Lass das Messer fallen, Rebecca", wird sie von dieser bekannten Stimme aufgefordert.
Rebecca fletscht die Zähne und kann nicht glauben, wer sich hier im Kampf um Leben und Tod einmischt.
„Ist dir bewusst, dass ich deinetwegen in diesem Wald umherlaufe?", wirft sie Sina vorwurfsvoll an den Kopf.
„Lass bitte das Messer fallen."
„Ich denke ja nicht mal daran! Ich bin nicht so dumm und lass mich fressen!"
„Sie werden dir nichts tun."
Die Diebin legt den Kopf in den Nacken und erhascht durch die Baumwipfel einen Blick auf die Sterne. Sie ignoriert ihre brennende Schulter und genießt den Moment der Ruhe, bevor sie der Hexe mit Spott kommt.
„Ich soll deinen Worten Glauben schenken? Dir, die Clive betrogen hat?"
Sina beißt sich verärgert auf die Lippe und muss für einen Moment ihre Wut hinunterschlucken. Rebecca weicht zurück, als Sina sich ihr nähert. Die Hexe ist jedoch schnell und legt ihre Hand auf die Wunde, daraufhin beißt die Diebin ihre Zähne zusammen. Sie nimmt sich so feste vor, im Rausch ihrer Gefühle Sina anzuschreien. Aber dann steigt ihr dieser Duft in die Nase, eine Note Salbei. Ein Blick auf ihre Schulter und sie muss staunen, ein Verband aus Salbeiblättern hat sich um ihre Schulter geschlungen und verdeckt die Bisswunde. Völlig perplex betrachtet sie die getrockneten Blätter.
Wann und wie hat sie die Wunde versorgt?
Ist sie kurz weggetreten?
Unmöglich!
„Hexe!", spricht sie ihren Gedanken laut aus.
Erzürnt blinzelt Sina sie an, auf diese Beschimpfung war und ist Clives Herzensbrecherin nie gut zu sprechen gewesen.
„Ich bin nicht euer Feind, ich hatte meine Gründe. Eigentlich wollte ich nicht umkehren, aber wie könnte ich dieses Gemetzel nur zulassen? Du hast tapfer gekämpft und es wären sicherlich noch einige von ihnen draufgegangen, bevor sie dich zerfleischen konnten. Du hast Fragen, das sehe ich dir an. Ich beantworte all deine Fragen, aber ich werde euch nicht begleiten."
Rebecca wollte handeln und Sina wie einen Sack Kartoffeln über ihre heile Schulter werfen, der Bär im Hintergrund lässt den Gedanken schnell verpuffen. Mit einer Entführung wird sie nicht weit kommen, also muss sie es schaffen, der Hexe ins Gewissen zu reden. Mit leeren Händen kann sich Rebecca schließlich bei den zwei Jungs nicht blicken lassen. Entschlossen blickt sie auf, fast herausfordernd.
„Gut, wie du magst. Reden wir", willigt Rebecca ein.
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