1. Kapitel
Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird, steuert Clive auf diese junge Schönheit hinter Gittern zu. Er kann noch immer nicht fassen, was er gerade zu Gesicht bekommt. Solch ozeanblaue Augen lassen ihn an seinen letzten Besuch am Meer erinnern und er verspürt die Sehnsucht, diesen wundervollen Ort erneut aufzusuchen. Aus ihrem Rücken schauen Schmetterlingsflügel in einem strahlenden Weiß hervor. Selbst die dunkelste Nacht wird ihr Licht nicht verdecken können.
Clive hat die Gelegenheit als junger Alchemist noch um die Welt zu reisen. Bevor er sich seinen Studien im Magisterturm widmet, darf er diese wundervolle Reise mit seinem starken Begleiter Linus antreten. Linus wurde bereits von Clives Ausbilder als Begleitschutz angeheuert.
„Clive! Mensch, Clive! Geh da weg! Du solltest besser nicht für Aufsehen sorgen!", spricht die Besorgnis aus Linus.
Die geflügelte Frau wird nun auf die beiden aufmerksam und rutscht verängstigt von den Gitterstäben fort. Wenn Clive nur könnte, würde er ihr die vielen Tränen aus dem Gesicht wischen und ihr versichern, dass bald alles wieder gut wird.
„Habt keine Angst, ich will Euch nichts tun. Darf ich fragen, warum Ihr in diesem Käfig verweilt?", spricht er sanft.
Ihre langen, fliederfarbenen Haare sind zu ungewöhnlich dicken Flechten gewunden, ihr Hals und die Arme sind kunstvoll bemalt. So etwas hat er noch nie gesehen. Es gibt zwar einen Stamm weit im Norden, der für solche Kriegsbemalungen bekannt ist. Doch die Zeichen bei ihr sind nicht abschreckend oder beängstigend. Er glaubt, das eine oder andere Tier auf ihren Armen zu erkennen. Und diese Frisur ist nicht gerade typisch für diese Region.
Woher sie wohl kommt?
Wie weit sie wohl von ihrem Zuhause weg ist?
Abgesehen von ihrer Schönheit und die Wärme um seinen Herzen, die er ihretwegen spürt, geht der Alchemist eine Reihe von Erklärungen durch, woher diese Flügel kommen könnten. Zu seinem Bedauern weiß Clive einfach zu wenig über Hexen, er kennt diese nur aus den Erzählungen, den Tratsch der Leuten oder den Spuckgeschichten. Die Überlieferungen warnen vor dem äußeren Schein. Wie schöne Blumen in ihrer vollen Pracht sollen sie die Menschen verzaubern. Ein Wimpernschlag und schon soll es um einen geschehen sein. Das mag auf diese Frau zwar zutreffen, doch von Flügeln war in den vielen Texten nie die Rede.
Clive freut sich bereits auf den Eintrag in seinem Tagebuch. Das Gesamtbild dieser Frau versucht er, sich in die Netzhaut zu brennen, um bei Gelegenheit ein Bild von ihr zu zeichnen. Er wüsste nur zu gern mehr über die Flügel und über die Fähigkeiten dieser Hexe.
„Clive! Sie ist gefährlich!", ruft Linus erbost, als würde der junge Alchemist vor einer Bestie stehen. „Halt dich von ihr fern! Irgendein reicher Schnösel wird sie kaufen und dann ist sie sein Problem!"
Allein der Gedanke, diese verängstigte Frau wird schon bald als Sklavin schlecht behandelt, zerreißt dem jungen Alchemisten das Herz.
„Wir müssen ihr helfen!", findet er, bevor Linus' Hand sich um seinen Arm schließt, und dieser ihn wie ein Kind durch die Menge führt, die über das Wesen im Käfig staunt. Linus hat genug gehört, seine Geduld wurde zu lang auf die Probe gestellt.
Clive kann nicht anders, er wirft einen Blick zurück, woraufhin der Söldner im strengen Tonfall auf ihn einredet. Doch Clive hört ihn kaum. Ein Blick zu den schmierigen Sklavenhändlern lässt die Wut in seinem Bauch aufschäumen. Er hat noch nie viel von Sklavenhändlern gehalten.
„Vergesst nicht, warum wir hier sind", erinnert Linus ihn streng.
Wie könnte Clive dies nur vergessen?
Dieser Ort ist bekannt für die wunderschönen Mondblumen, es handelt sich dabei um leuchtende Blumen bei Nacht. Die Pracht dieser schönen Lichterblume ist nicht nur ein Schmaus für die Augen, sondern hat eine vielseitige Anwendung in der Alchemie.
Nur ungern lässt er die Gefangene zurück und folgt seinem Begleiter durch die schmalen Gassen der Stadt. Vorbei an den farbenfrohen Fachwerkhäusern und Blumenbeeten, die den Dreck und Gestank auf den Straßen vergessen lassen. Clive mag sich nicht mal vorstellen, wie schwindelerregend hoch die Gebäude sind. Auf dem Weg zum Marktplatz laufen sie an einigen Bettlern und Straßenkünstlern vorbei und weichen vorbeihuschenden Ratten aus.
Schnell ist ein Händler gefunden, der die Mondblumen in einer hervorragenden Qualität zum Verkauf bietet. Hier spielen die richtige Lagerung und der richtige Schnitt eine wichtige Rolle.
Neben der Mondblume findet er noch andere wichtige Kräuter und Blumen. Da wäre der Beifuß, ein Kraut, das bei Magenproblemen oder Schlafstörungen hilft. Die Blätterspitzen werden mit kochendem Wasser aufgegossen und als Tee verzerrt. Dann wäre da das Schöllkraut, das eine beruhigende Wirkung auf Galle und Leber hat. Die sonnengelben Blüten sehen zwar schön aus, dennoch interessiert sich Clive mehr für den Pflanzensaft und die Blätter. Aus den orangen und gelben Ringelblumen stellt der junge Alchemist Salben her, die zur Wundheilung beitragen.
Um den Frischegrad zu überprüfen spielt nicht nur das äußere Erscheinungsbild eine Rolle, sondern auch die Erntezeit. Es macht einen großen Unterschied, wann die Pflanze gepflückt wird, gerade bei den Ringelblumen sollten diese in aller Frühe spätestens geerntet werden.
Die Alchemie beherbergt viele Bereiche, die einen konzentrieren sich auf schöne Edelsteine, andere glauben mit der Hilfe der Wissenschaft Menschen zu erschaffen. Während Clive sich mehr auf die Heilkunst konzentriert. Statt zu vergiften und Schaden anzurichten, möchte er seinen Mitmenschen helfen.
Während der Händler ihm die Ware verpackt, belächeln die zwei Kinder des Verkäufers die rote Schleife, auch Fliege genannt, an seinem Hemdkragen.
„Die ist ja hübsch", lächelt das junge Mädchen.
„Ne, Männer sollten doch keine Schleifen tragen", widerspricht ihr Bruder.
„Ich finde die Schleife schön", bleibt das Mädchen dabei.
„Was tragt Ihr da auf der Nase?", möchte der Junge nun wissen.
„Verzeiht die Neugier der beiden, den Kindern ist sicherlich etwas langweilig", entschuldigt sich der Vater höflich.
„Schon gut", Clive sieht darin kein Problem.
Kinder sollen schließlich ruhig neugierig sein.
Er nimmt seine Brille ab und berichtet den beiden: „Ohne die hier sehe ich nicht so gut. Habt ihr schon mal eine Brille gesehen?"
Kaum liegt das Gestell mit den zwei Gläsern in seiner Hand statt auf seiner Nase, sehen seine Augen alles, was sich in der Ferne abspiegelt, nur verschwommen und undeutlich.
„Nein, noch nicht, Sir", antwortet der Junge ihm.
„Die Leute sind für so etwas viel zu arm hier", meldet sich der Verkäufer.
„Aber der Buchhändler sieht auch sehr schlecht", weiß das Mädchen.
Kaum spricht sie zu Ende, leuchten Clives moosgrüne Augen, Linus seufzt bereits.
Er ahnt: „Ja, schon verstanden. Wir machen noch einen Zwischenstopp beim Buchhändler."
Freudig erhebt sich Clive und setzt die Brille zurück auf seine Nase.
Das Mädchen spricht nun zu ihrem Vater: „Wir könnten ihnen zeigen, wo der Buchladen ist."
Ihr Vater betrachtet seine Kundschaft für einen kurzen Moment misstrauisch, schließlich nickt er stumm. Seine Tochter umgeht freudig die Verkaufstheke.
„John, begleite deine Schwester. Bringe sie heil zurück, keine weiteren Abstecher. Verstanden?", spricht der Vater streng zu seinem Sohn.
„Verlass dich auf mich", verspricht der Junge ihm.
Clive nimmt die Ware nun entgegen und folgt den Geschwistern über den Marktplatz, die beiden sind ganz schön flott unterwegs. Sie freuen sich richtig, den Laden für einen Moment zu verlassen und sich die Beine vertreten zu können. Dabei nutzt das Mädchen die Gelegenheit und balanciert mutig über ein kleines Mauerstück, Clive beobachtet sie besorgt.
Hoffentlich fällt sie nicht hin und verletzt sich.
Linus muss herzlich lachen, als er das besorgte Gesicht von Clive sieht.
„Wird schon nichts passieren", versichert er dem Alchemisten zuversichtlich.
„Wie kannst du dir da sicher sein?", das beruhigt Clive nur wenig.
„Woar! Ist das Schwert echt?", meldet sich der Junge zu Linus Rechten.
„Jap", antwortet der Schwertkämpfer stolz.
„Bist du ein Soldat?", interessiert es den Jungen.
„Nein, ein Söldner", antwortet Linus mit erhobenem Hauptes.
„Bleibt ihr in der Stadt?", Fragen über Fragen von dem Jungen, während seine Schwester bereits fröhlich vor sich her summt.
„Wir bleiben nicht lange", antwortet der Söldner ihm.
„Ist das Schwert schwer?", wird der Söldner nun von dem Mädchen gefragt.
Clive atmet erleichtert aus, als die Kleine sicher auf ihren Beinen landet und das Mauerstück hinter sich gelassen hat.
„Es ist schwerer als es aussieht", versichert Linus ihr.
Der Alchemist lächelt wohlwissend, schließlich weiß er, welcher Meisterschmied hinter diesem Prachtstück steckt. Das Schwert wurde aus einem hervorragenden Stahl erschaffen, es ist belastbar und der Söldner ist kein Anfänger. Seine Haltung ist gekonnt, wie Clive bereits gesehen hat, und die Schwertkunst beherrscht sein Begleiter meisterhaft.
„Habt ihr schon diese seltsame Sklavin gesehen? Sie hat Flügel?", spricht das Mädchen nun etwas an, was Clive ganz schön belastet.
Er möchte ihr unbedingt helfen, aber was kann er nur tun?
Schließlich ist er kein Kämpfer, Linus würde sich niemals freiwillig mit den Sklavenhändlern anlegen. Diese Kerle sind nachtragend und gnadenlos.
Aber wie kann Linus nur einfach wegblicken?
„Dank dieser Sklavin kommen Leute von überall her, nur um sie zu sehen. Sie befindet sich schon seit einer Woche hier", informiert der Junge die beiden.
Seit einer Woche soll sie sich also im Käfig befinden, das ist grauenvoll.
„Sie ist hübsch", spricht das Mädchen die Tatsache aus.
Ja das ist sie, aber tut nichts zur Sache. Das macht es vielleicht sogar noch schlimmer.
Wer weiß schon, welche widerlichen Kerle auf sie bieten werden.
In nur wenigen Minuten haben sie den Buchhändler erreicht und nun verabschieden sich die zwei Kinder. Der Buchhändler ist bereits sehr alt, er wirkt sehr zerbrechlich. Beim Stöbern durch die Regale muss Clive immer wieder an die Sklavin denken, sie will ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Trotz des mageren Sortiments findet Clive im Laden ein nützliches Rezeptbuch für Salben und die Herstellung von Medizin. Als er das staubige Buch vor dem Laden nochmals aufschlägt, hat er einen Entschluss gefasst.
„Linus, finde bitte heraus, wann diese Auktion startet", fordert er den Söldner entschlossen auf.
„Es geht um diese Sklavin oder?", ahnt Linus bereits.
Er hört sich alles andere als begeistert an.
„Jawohl", bestätigt ihm der Alchemist.
„Das ist keine gute Idee, diese Frau sorgt für unnötiges Aufsehen. Sie würde uns auf den Reisen Ärger einhandeln", daran zweifelt Linus nicht.
„Mein Entschluss steht", versichert Clive ihm.
Nichts und niemand wird ihm davon abhalten, dieser Frau zu helfen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro