Verkehrte Signale
Meine Mutter übernahm oft die Nachtschichten, was ziemlich regelmäßig darin endete, dass wir uns morgens vor der Hochschule über den Weg liefen. Manchmal wartete ich aber auch extra auf sie.
Heute war einer dieser Manchmale. „Wie war dein Dienst?"
„Wie soll er gewesen sein?" Sie seufzte und stopfte ihren Mantel in den seit Monaten überquellenden Schrank. Am Wochenende musste ich dringend mal hier aufräumen.
„Keine Ahnung. Weniger blöd als sonst?"
Der Satz entlockte ihr ein müdes Schmunzeln, reichte aber nicht für ein ausgewachsenes Lächeln. Danach Stille, die sich unangenehm in meine Gehörgänge fraß. War man sonst nur Geschrei gewöhnt, konnte Ruhe beinahe schmerzhaft sein.
„Ich habe dir etwas zu essen gemacht", redete ich weiter, nur um des Sprechen Willens, und zeigte Richtung Kühlschrank. „Ein paar belegte Brote."
„Danke." Entgegen ihrer Aussage tapste sie einfach den Flur runter und ließ mich allein zurück. Ich sah ihr nach, betrachtete ihre steifen Schultern, die rollenden Bewegungen ihres Kopfes, als sie versuchte, irgendwie ihre übermüdeten Muskeln zu entspannen. Es war traurig, was Stress mit Menschen anstellen konnte. Meine Mutter war um die siebzehn herum schwanger geworden und sah aus, als würde sie bereits die Fünfzig ansteuern, obwohl sie gerade erste die Ende dreißig erreicht hatte.
„Tja, bleiben nur noch wir zwei", murmelte ich schließlich meinem Frühstück entgegen, kaum war sie aus meinem Blickfeld verschwunden, und schob mir Bissen um Bissen meines Aufbackbrötchens in den Schlund, während ich abgelenkt auf meinem Handy herumtippte.
Trashy war nämlich gerade online gekommen.
MüllderMenschheit: waren es deine eltern, die uns gestern unterbrochen haben? c:
Wenn ich könnte, würde ich mein Gesicht zu diesem Smiley umformen lassen, so irre putzig fand ich den. Mir egal, dass Freddy meinte, damit ließe ich keine offenen Fragen bezüglich meiner Sexualität. Wobei ich nicht einmal rein schwul war. Ich bevorzugte eben meistens Männer gegenüber Frauen.
HumanTrashAssistant: Geht dich eigentlich nichts an
Ich wartete kurz. Da waren drei Pünktchen, also würde bestimmt gleich noch mehr folgen. Außerdem hatte er eigentlich geschrieben.
HumanTrashAssistant: Aber ja, mein Vater kam ins Zimmer
Ha, recht gehabt!
MüllderMenschheit: auf die idee würde mein vater gar nicht kommen. wenn der was will, ruft er mich. ich glaube, er weiß gar nicht mehr, wies bei mir drinnen aussieht x)
HumanTrashAssistant: Kann nicht jeder solches Glück haben
Na, Glück würde ich das nicht unbedingt nennen, aber das konnte Trashy ja nicht wissen.
Ich schob meinen Teller fort und stützte mich mit den Ellbogen auf der Tischkante ab. Zeit, uns wieder erfreulicheren Themen zuzuwenden.
MüllderMenschheit: heute abend wieder voice? :D
Irgendwann mit fünfzehn hatte ich mir angewöhnt, auf Gummibärchen herumzukauen, wenn ich nervös wurde. Zu blöd, dass ich momentan keine parat und mein Brötchen schon aufgefuttert hatte. Jetzt konnte ich nur noch auf den Innenseiten meiner Wangen herumkauen, bis er sich dazu erbarmte, mir zuzusagen.
Ich schmeckte Blut, als es endlich so weit war.
HumanTrashAssistant: Mir egal
HumanTrashAssistant: Können wir machen
HumanTrashAssistant: Aber erst achts
HumanTrashAssistant: *nachts
Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Den metallischen Geschmack in meinem Mund ignorierte ich einfach.
MüllderMenschheit: wann?
HumanTrashAssistant: Halb Zwölf
Oh je, da würde mein Schönheitsschlaf aber drunter leiden. Nicht, dass mich das davon abhalten würde, ihn zu treffen! Ich hatte genug Kraftreserven gesammelt, um getrost eine Nacht durchmachen zu können.
MüllderMenschheit: okay, dann
Ich stoppte mitten im Satz, ohne auf Senden zu drücken.
Trashy war offline gegangen.
„Das kannst du mir nicht antun!"
„Werd' erwachsen!" Freddy bog jeden meiner Finger einzeln nach oben, bis ich seinen Arm jammernd loslassen musste.
„Aber wir sind doch beste Freunde!"
„Alter", er schüttelte entnervt den Kopf, „du tust, als würde ich mit dir Schluss machen. Ich will nur mit Alisha in eine Gruppe."
„Zweiergruppe!", brauste ich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist unser Ding."
„Meine Fresse." Er erhob sich von seinem Platz neben mir und lief zum anderen Ende des Raumes, wo das dunkelhäutige Mädchen saß, mit dem er mich gerade so dreist betrog. Was musste er auch auf sie stehen?
Ich zog eine Schnute und blickte mich um. Die meisten würden nicht nein sagen, wenn ich sie fragte, ob wir zusammenarbeiten wollten, das wusste ich, aber dieses doofe Projekt würde Zeit in Anspruch nehmen, schließlich war es die Modulprüfung, und die wollte ich mit jemandem verbringen, den ich gern hatte. Nicht dass ich meine übrigen Kommilitonen nicht mochte, aber Freddy war eben mein-
„Hast du schon einen Partner?"
Ich erstarrte, hob den Blick.
Über thronte kein anderer als Mundgeruch-Manuel. Der Schreck aller Lebewesen mit funktionstüchtigen Nasen.
„Ähm ..." Eigentlich hatte ich ja nichts gegen ihn. Er war total lieb, aber seine Gaumenfäule konnte einem die Zehennägel aufrollen! Worüber ich mich auf keinen Fall lustig machen würde, könnte er nichts dafür. Wenn der Geruch durch ein Magengeschwür käme, beispielsweise. Aber Manuel war bei dem Thema ganz ehrlich. Wenn man ihn darauf ansprach, gab er völlig unbekümmert zu, dass er sich keine Zähne putzte. Er putzte sich einfach keine Zähne. Bevor ich ihn kennengelernt hatte, war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass solche Leute existierten! Und ich wollte ihn damit wirklich, wirklich nicht mobben, aber zwei Minuten mit ihm und mir wurde speiübel!
Er atmete sehr lange aus. „Wenn nicht, können wir das ja zusammen machen."
Um Himmels Willen!
Blitzschnell scannten meine Augen den Raum ab, doch alle schienen schon einen Partner gefunden zu haben – das hieß, alle außer einer.
„Sorry, aber Fiete kennt außer mir und Freddy noch nicht wirklich viele, deswegen habe ich versprochen, mit ihm eine Gruppe zu bilden, sollten wir das in einem Modul müssen." Ich setzte eine entschuldigende Miene auf und drehte mich zu meiner Ausrede herum. „Oder, Fiete?"
Der sah verwirrt-angesäuert zu mir herüber. „Was willst du schon wieder?"
„Siehst du? Er ist schon richtig aufgeregt, mit mir zusammenzuarbeiten." Ich stand hastig auf. „Deswegen gehe jetzt mal lieber schnell zu ihm. Damit wir anfangen können und so."
„Sicher?" Manuel musterte mich über sein Brillengestell hinweg. „Der wirkt nicht sehr begeistert."
„Ach, das ist sein normales Gesicht. Hat als Kind zu oft Grimassen geschnitten." Damit machte ich mich vom Acker und rutschte mit Anlauf in den Stuhl neben Fiete, mit ein bisschen zu viel Schwung eventuell, denn ich schleuderte mich gezielt über den Sitz hinweg auf Fietes, der zufälligerweise direkt an diesen anschloss. Und weil auf die quadratischen Plastikoberflächen allgemein nur ein Hinterteil passte, musste einer halt Platz schaffen.
Spoiler – es war nicht meiner.
„Da war ich wohl ein wenig zu enthusiastisch." Ich legte mir eine Hand in den Nacken, grinste dümmlich zu Fiete hinab, der perplex zu mir hinauf glotzte. Er war mit seinen vier Buchstaben auf seinem Rucksack gelandet. Gut für sein Steißbein.
Wir schwiegen uns einen Augenblick in stummer Eintracht an, dann sah ich Wut vulkanartig in seinen Zügen hochkochen.
„Was stimmt nicht mit dir?!" Es folgte eine Bagage an Flüchen, die selbst den Teufel alt aussehen lassen würde und unserem Professor, Herrn Mitter, eine gehobene Augenbraue entlockte – mehr aber auch nicht, immerhin waren wir hier in der Erwachsenenbildung!
„Weißt du was, Dante?" Fiete biss die Zähne zusammen. „Arschlöcher wie du-"
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich meine, er erinnerte sich an meinen Namen!
Überschwänglich packte ich ihn unter den Achseln und stellte ihn zurück auf die Beine. Frau Geisinger und ihre Einkaufstüten hatten meine Muskeln zu Stahl werden lassen – das und die vielen Male, die ich meinen Vater aufs Sofa im Wohnzimmer hatte schleifen müssen, wenn er irgendwo auf dem Boden eingeschlafen war.
„Hab ich dir erlaubt, mich anzufassen?" Grob wischte er meine Finger von sich.
Ich blinzelte. „Ich wollte dir doch bloß helfen."
„Man sieht ja, wo deine Hilfe hinführt." Er fischte seinen Rucksack vom Boden auf und blickte hinein. Zwei Sekunden später hielt er eine eingedellte, blaue Trinkflasche in der Hand.
Ups.
„Das-" Ich wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als er einfach sein restliches Zeug zusammenklaubte und damit beladen aus dem Raum stampfte. Überfordert sah ich ihm hinterher. Ich hatte seine Trinkflasche wirklich nicht kaputtmachen wollen. So jemand war ich nicht!
Mist!
Hastig schleifte ich mich zu meinem alten Platz und schulterte meinen eigenen Rucksack.
Bildung war zwar wichtig, aber Friede war eindeutig wichtiger!
Fiete hatte sich auf den Campus verkrochen, genauer auf die Bank, auf der ich fast jede Freistunde im Sommer und Frühling mit Freddy saß.
Wenn das mal nicht Schicksal war!
Schnurstracks lief ich auf ihn zu, nur bemerkte er mich im Gegensatz zu gestern früh genug, um mir rechtzeitig entkommen zu können.
„Hey!" Ich legte einen Zahn zu. „Warte mal kurz!"
„Ich denke gar nicht daran!" Er zeigte mir über die Schulter hinweg den Stinkefinger. „Das ist alles deine Schuld!"
„Ich bin ja dafür, dass wir die Verantwortung für eben teilen", rief ich und stoppte, als er urplötzlich zu mir herumfuhr.
„Was?"
Ich legte den Kopf schief, konnte mein loses Mundwerk aber nicht daran hindern, auszusprechen, was ich gerade dachte. Auch wenn es absolut nicht zum Kontext passte: „Ich dachte, dieses Ding mit dem zuckenden Augenlid, wenn man sauer ist, gibt es nur in Filmen."
Die Spastik wurde stärker. Nicht, dass bei ihm gleich irgendeine Arterie platzte und ich in Rot getüncht ins nächste Seminar musste. „Was hast du für ein Problem mit mir?!"
Ich schüttelte die aufkeimenden Bilder eines Fiete-Fiaskos ab und konzentrierte mich auf seine Worte. Wobei es mir vollkommen schleierhaft war, wie er darauf kam, dass ich etwas gegen ihn hätte. Aber das war kein Problem – das Internet sagte immer, in solchen Fällen sollte man einfach nachfragen, wieso ein anderer so und so dachte!
Also setzte ich mein freundlichstes Gesicht auf und versuchte mein Glück mit direkter Zuwendung und offener Körpersprache, wie alle Interaktions-Coachs der gesamten Welt es einem stets erklärten: „Komme ich irgendwie so rüber, als hätte ich ein Problem mit dir?"
Er zögerte und Zögern war gut, weil es bedeutete, dass er nachdachte.
Ich zeigte ihm die Zähne. „Ernsthaft, ich habe überhaupt kein Problem mit dir. Was hätte ich auch für einen Grund dazu? Oder machst du dir Sorgen, weil du mitten im Studiengang gewechselt bist?"
Er kniff die Augen zusammen und stolperte einen Schritt zurück. „Lass mich einfach in Ruhe!"
Wieso denn plötzlich diese Reaktion? Ich war doch lieb!
Ich schob die Unterlippe vor. Streitigkeiten waren unnütz, von denen hatte ich zuhause bereits genug. Abgesehen davon, dass eh nie etwas Sinnvolles aus bösem Blut resultierte. „Aber-"
„Lass. Mich. In. Ruhe!" Fiete wollte abhauen, doch ich war schneller, erwischte ihn am Handgelenk und hielt ihn an Ort und Stelle fest. Ich wollte das klären, immerhin waren wir Projektpartner, und außerdem ich hatte mir fest vorgenommen, sein erster Kommilitonen-Kumpel zu werden.
„Loslassen!" Er wandte sich in meinem Griff. Wie eine Raupe. Er war so beweglich wie eine kleine Prima Ballerina.
Ich rückte dichter an ihn heran, überwand die letzten Zentimeter Abstand zwischen uns. „Können wir nicht darüber reden?"
Sein Blick wurde unruhig, zuckte über das weitläufige Gelände und schließlich erneut zurück zu mir. „Nein."
Das klang jetzt nicht wirklich, als wäre alles zwischen uns wieder geregelt. Was machte ich nur falsch?
Ich lehnte mich so weit zu ihm vor, dass sein Geruch mir entgegenströmte. Er duftete nach einer Mischung aus Lagerfeuer und Muffins. Himmlisch! „Aber nicht, dass du am Ende denkst, ich wäre einer dieser Typen, die dir auflauern, nur um dir das Leben zur Hölle zu machen. Wie diese Mobber in der Schule früher." So jemand war ich nämlich ganz bestimmt nicht.
„Wie bitte?" Fiete wurde zur Salzsäule. Und ich zu einem verwirrten Menschen.
Hatte ich mich blöd ausgedrückt? Oder nahm er mir den Sitzplatz-Unfall immer noch übel? Alle anderen – sogar die Professoren! – hatten sich schon daran gewöhnt, mir passierten ständig solche dummen Dinge.
„Weißt du, was ich meine?", fragte ich vorsichtshalber nochmal ganz langsam nach und registrierte ein wenig planlos, wie er krampfhaft die Schultern hochzog.
„Ja." Er schluckte hart, als ich meinen Griff um seinen Unterarm löste. Sein ganzer Körper war angespannt und ich wusste immer noch nicht, wieso. Dabei wollte ich mich doch nur mit ihm anfreunden!
„Ist", ich legte den Kopf schief, „alles klar zwischen uns?"
Nicken.
War also doch alles gut? War das Missverständnis von eben gar keins und ich hatte das alles bloß falsch interpretiert?
„Okay." Ich erwiderte sein Nicken eifrig. „Wenn alles gut ist, sehen wir uns morgen, ja? Dann können wir uns richtig in unser Projekt reinhängen!" Ich bemühte mich um einen extrem fröhlichen Tonfall, damit er sich sicher sein konnte, dass ich mich wirklich auf den nächsten Tag freute. Aber statt einer Antwort machte er einfach die Biege, rasant genug, dass sein dunkelgraues Sweatshirt an den Seiten vom Wind aufgebauscht wurde, als würde er fliegen.
Er war so hübsch, dass es fast wehtat.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro