Erleuchtungen
Nach unserem Freigang hatten wir glücklicherweise noch ein Modul mit dem Mitter, also schmiss ich mich direkt wieder neben Fiete. Aber ich schmiss mich natürlich nur mit fünfzehn Prozent Enthusiasmus auf meinen Stuhl, genauso wie Lilly es mir vorgeschlagen hatte.
„Willst du nicht langsam mal zurück auf deinen alten Platz?" Er wirbelte einen Stift zwischen seinen Fingern herum. Keine Ahnung, warum er den dabeihatte, obwohl er doch immer nur an seinem Laptop mitschrieb.
„Nein." Ich schüttelte ganz entschieden den Kopf. „Ich sitze gerne neben dir!"
„Was für eine Überraschung." Er verdrehte die Augen und wollte sich gerade von mir abwenden, als er meine Nägel erblickte. Seltsam war, dass sich kurz darauf seine Miene verfinsterte. „Ernsthaft?"
„Ähm." Ich spreizte meine Finger und musterte Alishas Werk. Und es sah fantastisch aus! Wie bei einem Rockstar. „Ja?"
„Das ist so abartig schwul." Er schnaubte, während ich mich ein bisschen wie vor den Kopf gestoßen fühlte.
„Na, ich stehe doch aber auch auf Männer", sagte ich vorsichtig und sah von meinen Nägeln zu Fiete hinüber, der zwar den Mund öffnete, aber nichts weiter sagte.
Dann seufzte er. „Egal."
„Also ... nicht gut?"
„Doch, passt schon. Solange sie nur schwarz sind und nicht pink."
Ich rutschte ein bisschen auf meinem Stuhl herum. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass es ihn stören würde – oder überhaupt wen. Aber wenn es ihm dermaßen missfiel ...
„Ich kann den Lack auch abmachen", murmelte ich.
„Sind deine Nägel, nicht meine. Mach mit ihnen, was du willst." Er zuckte mit den Schultern und spielte weiter mit seinem Kugelschreiber herum.
„Aber eben hast du noch gesagt, dass-"
„Herr Vehring, Herr Dotter, ich bin ja sehr glücklich darüber, dass Sie beide endlich miteinander auskommen, aber freunden Sie sich doch bitte außerhalb dieser Veranstaltung weiter an." Professor Mitters Augen lagen auf mir, als ich zum Smartboard guckte, dabei hatte ich extra leise gesprochen.
„'Tschuldigung", nuschelte ich und nahm nun meinerseits einen Bleistift zwischen die Finger, bevor ich meine Stimme auf das Minimum senkte und mich unauffällig zu Fiete hinüberlehnte. Vielleicht war ein Themenwechseln nicht schlecht. „Magst du mir das beibringen?"
„Was?" Er schaute zu mir rüber, ohne mit den Tricks aufzuhören.
Ich deutete auf sein Schreibwerkzeug. „Das da mit dem Drehen. Das sieht cool aus."
Sein Blick huschte zu seiner rechten Hand, anschließend zurück zu mir. „Nein."
Ich stutzte. „Nein?"
„Keine Lust und jetzt guck nach vorne, bevor wir nochmal Ärger bekommen."
Ich zog eine Schnute. „Bitte?"
Eines seiner Augenlider zuckte. Sah witzig aus – aber auch nur solange, bis der Ausdruck in seinem Gesicht die minus-zehn-Grad-Marke knackte und er urplötzlich eine Art Militärstimme einsetzte. „Du sollst nach vorne schauen und aufpassen, habe ich gesagt."
Gut, dass ich gerade saß, meine Beine hatten sich nämlich gerade spontan in zähe Puddingmasse verwandelt.
„Uh", machte ich ein bisschen überfordert mit meinem eigenen Körper und der Art, wie brutal er auf Fiete reagierte. Ich meine, ich wäre seiner Aufforderung ja echt gerne nachgekommen, aber mit Aufpassen war gerade nichts. Dafür trommelte mein Herz viel zu laut in meiner Brust herum.
Ob er wusste, was er da mit mir anstellte? Höchstwahrscheinlich, immerhin hatte er mich vorhin ja seine Jacke aufheben lassen. Und das wiederum bedeutete, dass er-
Oh Himmel!
Ich schnappte nach Luft – und er lehnte sich zeitgleich in meine Richtung.
„Was denn?", raunte er. „Willst du etwa nicht artig sein und auf mich hören?"
Prompt verließ alle Flüssigkeit meine Pumpe. Arme, Beine, Nieren, Leber, Milz, Lunge, Bauchspeicheldrüse, Darm, alles unterversorgt. Nur meine Fortpflanzungsorgane und meine Ohrenspitzen strotzten nur so vor Durchblutung. Drei Liter in meinem Schoss, drei Liter in meinen Wangen.
Hastig riss ich den Kopf herum und starrte mit brennendem Gesicht auf die Tischplatte vor mir. „Doch, natürlich! Auf jeden Fall. Ich meine, klar will ich. Ich habe bloß ... also, ich, äh."
Er lachte. „Brav."
Brav.
Mein Verstand setzte für eine Millisekunde aus, weil ich mich wirklich nicht geirrt hatte. Fiete war dominant! Und gehässig und befehlshaberisch und-
Ich krallte die Finger in meine Jeans.
Wenn es so weiterging, musste ich meine Prinzipien über Bord werfen nicht erst nach dem neunundzwanzigsten, sondern schon nach dem achtzehnten Date die Klamotten loswerden!
Aufgeregt fummelte ich an den Schulterträgern meines Rucksacks herum. Den restlichen Tag würden wir keine Module mehr zusammen haben, aber vielleicht konnte wir uns trotzdem sehen. „Willst du die Mittagspause mit uns verbringen? Mit Alisha, Freddy und mir? Ich kann dir einen Platz in der Mensa freihalten oder wir gehen zum Metzger gegenüber und holen uns da was, außer du bist Vegetarier. Oder Veganer. In dem Fall gibt es gleich um die Ecke so einen Imbiss, der verkauft vegane Burger und Döner und Pommes. Da müssen wir nur gucken, ob-"
„Hab mein eigenes Zeug dabei."
„Ah, super! Ich nämlich auch, weil's billiger ist." Ich strahlte Fiete an. „Dann Mensa?"
Er packte sein Zeug in seine Tasche. Es dauerte, bis er antwortete. „Ich esse draußen."
Ich nickte fest. „Gute Idee! Dieses schöne Wetter muss man ausnutzen! Und wenn wir schnell genug sind, erwischen wir vielleicht noch eine der Bänke."
Er hielt inne, seinen Laptop zur Hälfte verstaut, bevor er mich anschmunzelte. Wie ein Wolf. „Weißt du was? Dein Vorschlag gefällt mir. Geh doch schonmal vor und sichere uns eine Bank, ich komme gleich nach."
Hatte er gerade offiziell zugestimmt, die Pause mit mir zu verbringen? Ohne, dass ich groß meine Überredungskünste hatte benutzen müssen?
„Mach ich!" Das Lächeln in meinem Gesicht war so groß, es tat fast weh, bevor ich auf dem Absatz kehrt machte und auf das Außengelände flitzte.
Ich dachte mir nichts dabei, als Fiete nach zehn Minuten immer noch nicht da war. Konnte ja sein, dass er die Toilette aufgesucht hatte. Gut Ding wollte halt Weile haben. Aber nach weiteren fünfundzwanzig war es dann doch ein wenig besorgniserregend. Ich hätte gerne nach ihm geschaut, aber gleichzeitig wollte ich auch nicht weg hier. Ich meine, was wäre, wenn wir dabei zufällig aneinander vorbeilaufen würden?
Unruhig rutschte ich mit dem Hintern auf dem kühlen Holz der Bank, die glücklicherweise noch unbesetzt gewesen war, herum und blickte ein weiteres Mal auf meine Handyuhr, als eine Nachricht von Freddy einging.
Freddy_Krueger: alter, wo bist du?
Freddy_Krueger: die pause ist gleich rum. soll ich dir schnell was holen, bevor alles ausverkauft ist?
Hoppla, hatte ich ihm etwa nicht gesagt, wie ich die Pause heute verbrachte?
ICH: musst du nicht. ich habe mir zuhause Brote gemacht und jetzt steht gerade ein pausen-date mit fiete an! c:
Kurz kam nichts, obwohl er den Satz gelesen hatte, dann zeigten drei Pünktchen am oberen Rand neben seinem Namen mir, dass er wieder am Schreiben war.
Freddy_Krueger: bist du dir sicher?
Eine Bilddatei lud.
Ich tippte sie an und spürte, wie mein Hals prompt ein wenig enger wurde.
Fiete saß in der Mensa, nahe des Verkaufstresens und stopfte ein belegtes Brötchen in sich hinein.
ICH: vllt hab ich auch was missverstanden :c
Freddy_Krueger: vergiss ihn einfach, er ist ein idiot
Freddy_Krueger: hab dir übrigens ne packung chips geholt
Ich seufzte und glitt von der Tischtennisplatte.
Hatte ich statt draußen doch aus Versehen gesagt, ich würde in der Mensa auf ihn warten? Wenn ich aufgeregt war, gerieten meine Erinnerungen gerne mal durcheinander, also war es gut möglich, dass er da jetzt auf mein Erscheinen wartete und dachte, ich hätte ihn bloß reingelegt. Dann wäre meine ganze Vorarbeit umsonst gewesen – was ich auf gar keinen Fall zulassen durfte!
Schnell packte ich meinen Rucksack und setzte zum Vollsprint an.
Drei Minuten Pause hatte ich noch!
Ich schlitterte gerade durch die großen Doppeltüren zur Mensa, als Fiete am anderen Ende des Raumes seine sieben Sachen zusammenräumte und aufstand.
„Gott sei Dank!" Ich sog gehetzt Sauerstoff in meine Lungen und ignorierte die paar verwirrten Blicke, die mein Ausruf mir eingebracht hatte, und lief geradewegs auf ihn zu.
Hoffentlich war er nicht beleidigt!
„Hey", hauchte ich atemlos. „Sorry, ich muss irgendwie verwechselt haben, wo wir uns treffen wollten. Ich könnte schwören, ich sollte uns eine Bank freihalten, aber mein Kopf ist eh ein einziges, riesiges Chaos, deswegen ... uh, ich wollte dich nicht versetzen."
„So ein blöder Zufall." Augenrollen. Er wirkte gereizt.
„Bist du mir böse?" Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich mach's wieder gut, ja? Sag mir nur, wie."
Irgendetwas in seiner Mimik veränderte sich, aber ich konnte nicht herauslesen, was genau es war. Damit hatte ich allgemein so meine Probleme. Ähnlich wie beim Sarkasmus. Es war, als weigerte mein Gehirn sich strikt, normale menschliche Interaktionen zu verstehen.
„Dante." Jetzt klang er ruhig, nicht mehr länger angefressen. Und er hielt mir seinen Rucksack hin. „Trag den für mich."
Galt das als Wiedergutmachung?
Ich nahm ihm die Tasche ab und lächelte vorsichtig. „Okay."
Er schnaufte. „Los jetzt, sonst komme ich zu spät."
„Wo warst du denn so lange?" Freddy sah mich stirnrunzelnd an. Konnte ich ihm nicht verübeln, eigentlich war es nicht meine Art, erst nach Beginn in die Vorlesung zu platzen. Ich war schließlich vorbildlich erzogen worden!
„Ich war noch kurz mit Fiete in der Mensa", flüsterte ich und schielte zu Professor Treibel nach vorne, doch im Gegensatz zum Mitter interessierte es ihn überhaupt nicht, ob jemand ihm zuhörte. Am Ende galt es nur, die Klausur zu bestehen.
„Hat er dich sitzenlassen?"
„Nein!" Kopfschütteln. „Ich muss irgendetwas falsch verstanden haben."
„Pass nur auf, dass er dich nicht ausnutzt." Er haute seinen Ellbogen gegen meinen. „Du weißt, dass du anfällig dafür bist."
„Stimmt doch gar nicht!" Ich kräuselte die Stirn. „Ich bin nur hilfsbereit."
„Mhm, bieg' dir ruhig weiter die Wahrheit zurecht."
„Ich biege mir gar nichts zurecht!" Eigentlich wollte ich die nächsten Worte nicht sagen, weil Freddy irgendwie immer seufzte, wenn ich ihm etwas aus meiner Sicht erklärte, aber sie purzelten mir trotzdem über die Lippen. Von ganz allein. „Würde Fiete mich ausnutzen, hätte er mir ja wohl nicht erlaubt, seine Tasche für ihn zu tragen."
Und da war es auch schon, das Seufzen. „Danny, hörst du dir auch manchmal selbst beim Reden zu?"
Ich legte den Kopf schief. „Wozu?"
„Damit du bemerkst, was du da von dir gibst."
Das verwirrte mich jetzt ein wenig. „Ich benötige eine ausführliche Erklärung", meinte ich und wandte mich ihm komplett zu, damit ich mich nicht versehentlich mit irgendetwas ablenkte. Dem eingetrockneten Kaugummi an der Unterseite meines Tisches beispielsweise.
„Jemand erlaubt dir nicht, seine Tasche zu tragen. Das nennt man eine Aufforderung und in deinem Fall bedeutet es, dass er dich dafür benutzt hat, sein Zeug für ihn herumzuschleppen."
Ich sog die Unterlippe zwischen die Schneidezähne und ließ seine Worte auf mich wirken. „Aber", warf ich nach etwas Bedenkzeit ein, „ist es auch ausnutzen, wenn ich will, dass er das macht?"
„Bitte?" Ha! Dieses Mal war es Freddy, der nur Bahnhof verstand. Sollte er auch mal wissen, wie das war.
„Ich verrate dir jetzt was, aber das darfst du nicht rumerzählen." Ich lehnte mich dicht zu ihm hinüber, wechselte in einen Flüsterton. „Versprochen?"
„Versprochen." Er musterte mich. Argwöhnisch. „Erzähl schon und mach's nicht so spannend."
„Also, du weißt ja, dass ich ... äh, Dinge mag, richtig?"
„Du magst ziemlich viel, Danny. Von Kaninchen bis hübschen Steinen ist alles dabei."
„Schon, aber ich meine mehr so", ich spürte, wie mir warm wurde, „Dinge im Bett halt."
Das schien den Stromkreis zu schließen, weil Freddy urplötzlich auch rote Flecken bekam. Aber beim ihm tauchten die nicht im Gesicht auf, sondern am Hals. Dabei war ich es doch, der seine Vorlieben preisgab und nicht er!
„Gott, Danny!" Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Willst du ernsthaft hier darüber reden?"
Ich sah mich um, aber wir hockten ganz hinten und niemand schien uns zuzuhören. „Keine Sorge, die Luft ist rein."
„Ich geb's auf." Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte seine Stirn auf ihnen ab, mit dem Gesicht in meine Richtung.
Das war doch eine Aufforderung zum Weiterzureden, oder?
„Jedenfalls", meinte ich und rückte vorsichtshalber meinen Stuhl näher an seinen heran, „glaube ich, dass er das herausgefunden hat. Ich meine, er gibt mir Hinweise. Deswegen", tiefes Einatmen, „bin ich mir ziemlich sicher, dass er dominant ist!"
Freddy setzte sich doch wieder aufrecht hin, bevor er sich räusperte. „Ich denke, das ist ein Thema, das eher was für Lilly ist."
„Lilly?" Ich fischte mein Handy aus der Hosentasche. „Gut, dass du mich daran erinnerst! Ich habe total vergessen, ihr zu schreiben. Sie wollte, dass ich ihr Bericht erstatte, wie es mit Fiete läuft."
„Dann mach das." Sein Gesicht wurde mit einem Mal schrecklich sanft. „Aber lass dich von ihm nicht verarschen, in Ordnung?"
„Bestimmt nicht!" Ich grinste ihn breit an und öffnete den Nachrichtenverlauf mit seiner Schwester, um ihr detailgetreu zu stecken, was sie verpasst hatte. Und im Gegensatz zu ihrem Bruder freute sie sich für mich!
Ich blickte auf den grünen Punkt neben Christophers Namen. Meiner Meinung nach hatten wir schon viel zu lange nichts mehr voneinander gehört. Seit meiner dummen Nachricht über Brüste nicht mehr, um genauer zu sein. Aber das hatte er bestimmt längst vergessen. Also hoffte ich. Wäre vermutlich trotzdem besser, jetzt erstmal nicht mehr darüber zu sprechen.
DantesBrotherVergil: hallo! c:
UnofficialChris: Was willst du?
Oh, er antwortete sogar sofort!
DantesBrotherVergil: deine stimme hören :3
DantesBrotherVergil: kommst du am computer online? dann können wir telefonieren c:
Das funktionierte übers Handy nämlich leider nicht.
Ich rollte mich auf den Bauch und schlug die Füße an den Knöcheln übereinander. Es dauerte, bis er endlich zurückschrieb. Lange genug, um meinerseits Pravitas auf meinem Laptop zu öffnen und mich einzuloggen.
UnofficialChris: Das klingt sehr falsch.
Ich runzelte die Stirn.
DantesBrotherVergil: ?
UnofficialChris: Egal.
UnofficialChris: Warte zwei Minuten, dann rufe ich dich an.
DantesBrotherVergil: alles klar! :D
Hibbelig zog ich mir mein Headset über. Der Tag heute war perfekt gewesen. Erst hatte alles mit Fiete hingehauen, dann hatte mich Lilly zerknautscht, weil es eben mit Fiete so toll gelaufen war, und jetzt war Christopher online. Besser konnte es gar nicht mehr werden! Aber das wurde es tatsächlich noch, als sein Name auf meinem Laptopdisplay auftauchte und ich keinen Augenblick später seine Stimme hören konnte.
„Also? Warum sollte ich anrufen?"
Ich strahlte in die ausgeschaltete Kameralinse im Bildschirmrahmen. „Einfach so! Wir wollten uns doch kennenlernen, damit wir uns gegenseitig vertrauen können."
Stille, dann Geraschel. „Sei mal kurz still."
Ich nickte gewohnheitsgemäß und wackelte mit den Zehen, als ich von weit aus dem Hintergrund eine Stimme hörte.
Neugierig schraubte ich die Lautstärke höher.
„Nein, verdammt! Geh aus meinem Zimmer raus! Ich habe gesagt, dass ich nicht gestört werden will!"
„Und wieso nicht? Machst du etwa unanständige Sachen?"
Es war schwierig, herauszuhören, wer da gerade sprach, weil das Modul automatisch allen Personen die gleiche Klangfarbe verpasste, aber Christophers Charakter nach zu urteilen, war er der Erste von beiden. Und derjenige, der gerade wieder zu einem bedrohlichen Keifen ansetzte.
„Ich tue keine unanständigen Sachen! Und jetzt verschwinde!"
„Uh, wer ist denn DantesBrotherVergil? Ein Typ? Etwa dein heimlicher Schwarm?"
„Nein, das ist nicht-!"
Ich zuckte zusammen, als es plötzlich sehr geräuschvoll wurde und drosselte eilig die Lautstärke wieder auf ein erträgliches Maß. Gerade rechtzeitig, da tönte mir auch schon seine Stimme entgegen.
Nur war es dann doch nicht er, der mit mir sprach.
„Heeey", drang es langgezogen an meine Ohren. „Ich bin Mikkel, dein zukünftiger Schwager in spe! Hast mit meinem Bruder wirklich eine Eins-a-Wahl getroffen. Wenn man mal davon absieht, dass er sich in letzter Zeit wie eine Diva aufführt und-"
Es knallte, dann Lachen und das Zuschlagen einer Tür. Ich konnte mich allerdings so gar nicht darauf konzentrieren. Ich meine, hatte das eben eine Bedeutung gehabt oder war das nur einer dieser Scherze gewesen, die man unter Geschwistern machte, um sich zu ärgern? Freddy hatte mir erzählt, dass Lilly so etwas ständig gebracht hatte, wenn er früher mit einem Mädchen zuhause aufgetaucht war. Aber wenn es nicht bloß ein Scherz gewesen sein sollte, dann-
„Bin wieder da." Christopher klang angestrengt.
Und ich konnte meine Klappe nicht halten: „Bist du auch schwul?"
„Nein!" Er knurrte, dann herrschte schlagartig Stille, bevor er zischend einatmete. „Was hat das auch dort bitte zu suchen?"
Oh, das war jetzt aber blöd. Auf meine Wortwahl hatte ich nicht unbedingt geachtet.
„Na ja", begann ich zögerlich. Jetzt war Lügen irgendwie sinnlos. „Es ist gut möglich, dass ich eventuell ein bisschen schwul bin. Also nicht schwul-schwul, ich mag genauso Mädchen, aber ... äh, Jungen eben ... mehr?" Und einen ganz besonders, aber das sagte ich nicht.
Daraufhin folgte wieder eine gute Minute Schweigen und ich befürchtete schon, dass er tatsächlich leicht homophob sein und ich das eben falsch verstanden haben könnte, als seine Stimme reichlich stockend aus meinen Kopfhörern schwappte.
„Bist du geoutet?"
Bingo!
Ich drehte mich auf den Rücken, aufgeregt. „Eigentlich nicht. Brauchte ich nie. Du musst wissen", an der Zimmerdecke nahe meinem Fenster wurde die Tapete langsam dunkler, „ich kann meine Gefühle ziemlich schlecht für mich behalten. Mein bester Freund meint, dass ich mich in der Mittelstufe unbewusst selbst geoutet habe, weil ich diesem einen Jungen ständig Herzaugen zugeworfen habe. Deswegen hat mich nie jemand gefragt, ob ich schwul bin, alle sind einfach davon ausgegangen, dass ich's eben bin. Du hättest ihre Gesichter sehen müssen, als ich meine erste Beziehung dann ausgerechnet mit einem Mädchen hatte!"
„Hm." Christopher schnalzte mit der Zunge. „Ich finde, es geht niemanden etwas an, wen oder was ich mag."
„Okay." Ich sollte mir wirklich abgewöhnen, wie ein Wackeldackel mit dem Kopf zu wippen, wenn mich ohnehin niemand sehen konnte. „Dann weiß es bei dir keiner?"
„Nur meine Familie."
„Hast du eine große Familie?"
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht."
Ich schmollte. Scheinbar war Christophers gesprächige Ader damit für heute schon aufgebraucht. „Es geht mich nichts an", stimmte ich zu, „aber es interessiert mich. Ich bin Einzelkind, dabei hätte ich übertrieben gerne Geschwister."
„Du verpasst nichts. Es ist ziemlich nervig."
„Aber auch schön, oder? Man hat immer jemanden, mit dem man reden kann."
„Na klar. Ich gehe gleich zu meinem Bruder und rede mit ihm darüber, dass ich mich umbringen will." Christopher grunzte. „Er würde es mir nur ausreden wollen."
Ich hielt inne. „Willst du deswegen nicht, dass es wie ein Selbstmord aussieht?"
„Sie alle würden sich die Schuld dafür geben."
Der Satz ließ meine Brust eng werden. „Ich weiß gar nicht, was meine Eltern fühlen würden, wenn ich das täte." Außer vielleicht Erleichterung.
„Die müssen ja echt Arschlöcher sein."
„Was?" Ich schüttelte hektisch den Kopf. „Überhaupt nicht! Sie haben ihr Leben für mich aufgegeben. Meine Mutter wollte immer studieren und ... und eigentlich wollte sie auch gar nicht heiraten. Und mein Vater, er-", ich brach ab, fing wieder von vorne an. „Sie wollte mich nie. Ich bin einfach passiert. Ohne mich hätten sie-"
„Du gibst dir die Schuld dafür, geboren worden zu sein? Bist du dumm? Wenn sie dich nicht gewollt hätten, hätten sie dich auch einfach abgeben können. Oder abtreiben. Niemand hat sie gezwungen, dich zu behalten."
Ich starrte auf Christophers Namen auf dem Feld, auf dem eigentlich sein Gesicht sein müsste.
Papa hatte mir mal erzählt, dass meine Oma sie dazu hatte bringen wollen, aber hier lag ich nun und existierte. Ich sollte dankbarer sein, dass sie mich nicht einfach losgeworden waren. „Sie kümmern sich sehr gut um mich."
„Mhm, genau danach klingt es." Er lachte trocken. Allein das Geräusch entflammte ein schlechtes Gewissen in mir.
Was für ein Sohn war ich, dass ich meine Eltern extra so mies darstellte?
„Nein, wirklich!", beeilte ich mich. „Sie-"
Nicht mit dem Internet verbunden.
Meine Augen zuckten zu der kleinen, durchgestrichenen Weltkugel am rechten unteren Rand des Displays. Doofes WLAN!
Blitzschnell hatte ich mein Smartphone gezückt. Darauf hatte ich zum Glück eine Flatrate.
DantesBrotherVergil: Internet ist plötzlich weg Q.Q
UnofficialChris: Aha.
UnofficialChris: Dann lass uns weiterreden, wenn es wieder da ist.
Plopp ging das Lichtlein neben seinem Namen aus.
Ich verzog das Gesicht, ließ mich davon aber nicht beirren. Schließlich wollte er später weiter mit mir reden, sobald unser Netzanbieter die Probleme beseitigt hatte. Oder der Router wieder funktionierte. Kein Grund zur Trauer also.
Ich schob den Laptop von mir und sprang auf die Beine. Ich wusste schon, wie ich mir die Minuten vertreiben konnte, bis die Probleme behoben waren.
„Dante!" Es dauerte etwas, bis Frau Geisinger mir die Tür öffnete, dann lächelte sie mich warm an. „Möchtest du reinkommen?"
„Mhm!" Ich hüpfte aus meinen Schuhen und folgte ihr in die Küche. Sie fragte nicht direkt, was los war, kramte erstmal zwei Tassen, Kakaopulver und Milch hervor. Zum Glück, ich brauchte noch einen Moment, bis ich erklären sollte, warum sich mit einem Mal ein Hummelnest in meinem Hintern gebildet hatte.
Nach drei weiteren Minuten war es dann so weit.
„Jetzt erzähl mal, Junge." Ein heißer Becher Schokomilch wechselte in meinen Besitz. „Was habe ich seit deinem letzten Besuch verpasst?"
„Eine ganze Menge." Für mich gab es kein Halten mehr. Ich quasselte einfach drauf los. Über Freddy und Alisha, über mein Gespräch mit Lilly und immer wieder Fiete, Fiete, Fiete, während sie mit ihrer eigenen Tasse und ihrem krummen Rücken vor mir stand und mich nicht ein einziges Mal unterbrach. Sie hörte mir zu, ohne blöde Kommentare, und das war so angenehm, dass ich nicht umhinkam, ein bisschen traurig zu sein, als ich mich knapp zwei Stunden später wieder in meiner eigenen Küche vorfand. Dieses Mal mit meiner Mutter mir gegenüber.
„Wie war dein Tag?", wollte ich wissen und setzte mich zu ihr an den Tisch.
„Anstrengend." Sie wischte sich übers Gesicht. Ich wartete kurz, ob sie mich vielleicht dasselbe fragen würde, aber das tat sie nicht, also fing ich unaufgefordert zu sprechen an.
„Wir haben noch ein paar Wochen, bis die Klausuren wieder anfangen und es lerntechnisch anstrengend wird. Aber unsere Dozenten hauen jetzt schon mit dem Stoff um sich, als würden wir morgen bereits-"
„Ich gehe schlafen. Ich bin wirklich kaputt."
Ein kleiner, böser Teil in mir versuchte, mir einzureden, dass es sie nicht kümmerte, was in meinem Leben gerade wichtig war, aber ich vergrub ihn fix in den Untiefen meiner Gehirnmasse. Ich benahm mich unfair. Sie ackerte sich halb besinnungslos, damit wir ein Dach über dem Kopf hatten, und außerdem war es schon spät. Sie brauchte Ruhe, wenigstens ein bisschen.
Und trotzdem schlüpften mir die nächsten Worte von der Zunge, in dem hilflosen Versuch, die Unterhaltung wenigstens um ein paar Minuten zu verlängern. „Ich glaube, ich habe mich verknallt."
Unsere Blicke kreuzten sich. Ich hielt den Atem an – umsonst.
Sie wandte sich ab und stand auf. „Mach nicht denselben Fehler wie dein Vater."
„Fehler?" Mir steckte etwas im Hals fest, blockierte meine Stimmbänder.
„Du weißt, was ich meine." Einige lose Strähnen hingen ihr wirr in die Stirn, hatten sich aus ihrem Zopf gelöst. Hier und da war er von einzelnen grauen Haaren durchzogen. Stress, der sie mit achtunddreißig wie Anfang fünfzig aussehen ließ.
Ich senkte den Blick und hörte dem Schlurfen ihrer Füße zu, die sich langsam Richtung Wohnzimmer bewegten.
Sie hatte recht. Ich wusste ganz genau, welchen Fehler sie meinte.
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