Scherbensplitter (1|4)
»Was ist da los?«, fragte Bruin.
Ludvik und ich, die wir näher am Geländer saßen, spähten in den Gastraum hinunter.
Es dauerte einen Moment, bis ich im flackernden Zwielicht den Grund für die plötzliche Stille entdeckte: Ein Mensch und ein Alb hatten sich bei der Theke voreinander aufgebaut. Nase an Nase. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, wie unangenehm diese Konfrontation für einen Alb sein musste, der nicht an die aggressive Körperlichkeit der Menschen gewöhnt war.
Sogar bei mir hatte es einige Jahre gedauert, bis ich mich damit angefreundet hatte. Früher wären Umarmungen für mich undenkbar gewesen, aber Bruin und Ludvik hatten ihren Teil dazu beigetragen, dass ich Körperkontakt zu schätzen gelernt hatte.
Dennoch hielt sich mein Mitleid für den aschblonden Alb in Grenzen. Genau genommen war das einzige Gefühl, das mich bei seinem Anblick überkam, ein immer stärker werdendes Unbehagen.
Das konnte doch unmöglich wahr sein, oder? Ich musste mich irren ...
»Heiliger Bimbam«, hauchte Ludvik.
»Was? Was?«, drängte Bruin.
Ludvik schüttelte ungläubig den Kopf. »Irgend so ein betrunkener Volltrottel legt sich gerade mit einem reinblütigen Alb an.«
Seine Worte drangen jedoch nur wie durch zähen Nebel an meine Ohren. Geistesabwesend verfolgte ich das Geschehen im Gastraum.
Der betrunkene Volltrottel war – seiner Kleidung nach zu schließen – ein Student im höheren Semester. Gebaut war er jedoch weniger wie ein typischer Gelehrter, sondern mehr wie ein Schmied oder Baumfäller. Im Vergleich dazu wirkte der Alb noch zarter und zierlicher als er es im Vergleich mit einem normalen Menschen getan hätten.
Dabei war er für einen Mann meines Volkes eigentlich ziemlich attraktiv: schlank und elegant, mit langen, seidenglatten Haaren und einem Gesicht, das aus milchweißem Marmor gemeißelt zu sein schien. Es zeigte alle Merkmale eines reinblütigen Alben, von der filigranen Knochenstruktur über die makellose Haut und die farblosen Augen, bis hin zum Fehlen jeglicher Mimik. Seine Miene war so unberührt, dass man meinen konnte, er würde bei der Konfrontation mit dem betrunkenen Studenten überhaupt nichts empfinden. Vielleicht stimmte das sogar. Wahrscheinlicher war es jedoch, dass er zumindest Ekel oder Abscheu verspürte.
Reinblütige Alben waren ein schrecklich stolzes und jähzorniges Volk. Wer hätte das besser beurteilen können als ich?
»Hast du mich gehört?«, keifte der Student. »Verschwinde wieder dahin, wo du hergekommen bist, Spitzohr!« Bei diesen Worten schubste er den Alb, sodass dieser rücklings gegen den Tresen prallte.
Neben mir verzog Ludvik das Gesicht, als könnte er den Anprall am eigenen Leib spüren. »Nicht gut«, hörte ich ihn murmeln. »Gar nicht gut.«
Einen reinblütigen Oberling zu reizen, war in den seltensten Fällen eine gute Idee. Auch wenn der Alb zerbrechlich wirken mochte, war er ein übermächtiger Gegner, dem ein einzelner Mensch wenig entgegenzusetzen hatte.
Doch der Verstand des Studenten schien von Alkohol, Anderling-Hass und den Anfeuerungsrufen seiner Kommilitonen, die inzwischen einen Ring um die beiden gebildet hatten und ihn grölend zu weiteren Untaten anspornten, vernebelt zu sein. Er schnappte sich eine leere Glasflasche und schlug sie gegen den Tresen, sodass der untere Teil zersplitterte. Dann hielt er das scharfkantige Ende seinem Gegner unter die Nase. »Muss ich mich wiederholen?« Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und wedelte drohend mit der Flasche. »Ich will, dass du dich verpisst!«
Jonnas mischte sich ein und wollte ihm den Weg verstellen, aber der Student schubste ihn achtlos beiseite, holte mit seiner improvisierten Waffe aus und –
Die Flasche explodierte. Scherben spritzten in alle Richtungen. Der Student kreischte vor Schmerz und riss die Hände hoch, um sein Gesicht zu bedecken. Dunkelrotes Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und tropfte auf seine Uniformjacke. Auch einige der Umstehenden hatte es erwischt. Ihr Geschrei und Gejammer erfüllte den Gastraum bis unter das Gebälk. Der Alb nutzte das entstandene Chaos und glitt wie ein Windhauch zur Tür hinaus.
Ludvik lachte. »Ich will ja wirklich keinen Oberling in Schutz nehmen, aber das geschieht ihnen nur Recht!«
So sehr ich ihm zustimmen wollte, brachte ich doch keinen Ton heraus. Mein Herz raste und mein Brustkorb schnürte sich zusammen, als hätte mir jemand eiserne Ketten umgelegt. Wie betäubt stand ich auf, strich fahrig meine Bluse glatt und zwängte mich an Bruin vorbei zur Treppe. Nein, nein, schlechte Idee, fiel es mir ein. Ich drehte um und steuerte statt der Treppe eine der Türen an, die von der Galerie in die Hinterzimmer des Pittapotts führten.
»Hey ... Alina ... alles in Ordnung?«, hörte ich Bruin fragen.
Ich ignorierte sie, da ich alle Hände voll damit zu tun hatte, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Zielstrebig stieß ich die anvisierte Tür auf und glitt über die Schwelle.
Dahinter lag ein muffiger Raum mit Regalen an den Wänden, in denen Konservendosen, verstaubte Gläser und alte Keramikkrüge lagerten. Aus einem Nebenzimmer, das durch einen löchrigen Vorhang von der Abstellkammer abgetrennt war, drang gedämpftes Gelächter.
Ich ignorierte auch das und näherte mich dem Fenster. Es zeigte auf eine schmale Gasse hinaus. Das benachbarte Gebäude war ein Wohnhaus mit niedrigen Dachkanten, vielen Erkern und Balkonen. Wenn ich es geschickt anstellte, konnte ich das Haus vielleicht erreichen und über die angrenzenden Dächer bis zur Varietät, dem großen Gronholter Warenhaus, gelangen. Von dort wäre ich in ein paar Minuten am Hafen.
Mit zittrigen Fingern tastete ich nach dem Fensterriegel. Das rostige Eisen brannte sich in meine Haut, aber ich biss die Zähne zusammen und fummelte so lange daran herum, bis der Riegel aufsprang.
Im selben Moment wurde ich gepackt und herumgezerrt.
Mir entwich ein leiser Schrei, doch es waren nur Bruin und Ludvik, die mir gefolgt waren.
Bruin war die Erste von uns, die das Wort ergriff. »Was ist denn bloß los mit dir?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Ja, genau.« Ludvik ließ meinen Arm los und nickte zustimmend. »Warum haust du einfach ab, ohne was zu sagen?«
Ich kämpfte mit meinen Gefühlen und mit meiner Zunge, die an meinem Gaumen festklebte.
»Hat es was mit diesem Alb zu tun?«, fragte Bruin und demonstrierte dabei etwas, das sie vermutlich weiblichen Instinkt genannt hätte. »Kennst du ihn etwa?«
»Kann sein«, brach es aus mir heraus. Bei diesen Worten wich alle Kraft aus meinen Gliedern und ich sackte gegen das Fenster. »Ich glaube, ich habe ihn wiedererkannt. Und wenn das stimmt ...«
Bruin überbrückte die Distanz zwischen uns mit einem schnellen Schritt und legte mir mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Ach, Kleines ... er hat dir doch nichts angetan, oder?«
Ludvik tastete nach den zwei schmalen Schwertern, die er in einer Schlaufe auf dem Rücken trug. »Wer ist der Kerl? Den knöpf ich mir vor. In wie vielen Einzelteilen hättest du ihn gerne?«
Unter normalen Umständen hätte ich mich über Ludviks brüderlichen Beschützerinstinkt amüsiert, doch jetzt brachte ich nur ein schwaches Schulterzucken zustande. In meinem Innern hatte sich ein schwarzes Loch aufgetan. Ich fror und die Haut an meinen Fingerspitzen warf Blasen, wo sie mit dem Eisen des Fensterriegels in Kontakt gekommen war.
»Sag uns einfach, was passiert ist«, lockte mich Bruin mit ihrer verführerischen Stimme. »Wer ist dieser Alb und woher kennst du ihn?«
Mühsam würgte ich die Worte hervor: »Dieser Alb ist ...«
Bruin und Ludvik reckten neugierig die Hälse. »Ja?«
»... mein Verlobter.«
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