Hoher Besuch (10|1)
Die Delegation der Wasseralben soll am Nachmittag in Albenheim eingetroffen sein. Das behauptet jedenfalls mein Bruder.
Ich habe ihm gesagt, dass mich das nicht interessieren würde, aber jetzt sitze ich hier, an einem Fenster des Lupercalian-Palastes, und starre auf die Straße, die sich steil – beinahe senkrecht – zum Eingangstor hinaufschlängelt. Im Hintergrund höre ich meine Stiefmutter auf der Zitabel spielen, einem hochkomplizierten Musikinstrument aus vielen tausend Glöckchen und Windspielen, das einen ganzen Raum ausfüllt. Ich gebe es nicht gern zu, aber es klingt wirklich schön. Wie sich die Melodien überlagern und fremdartige Harmonien bilden, ist einzigartig. Wenigstens vermute ich das. Ich weiß nicht, ob es irgendwo in den Menschenlanden oder in den Unterlanden etwas Vergleichbares gibt, aber ich kann es mir nicht vorstellen.
Während die Musik spielt, beobachte ich die Alben auf der Straße vor dem Tor. Die meisten von ihnen sind Palastangestellte oder Lieferanten. Sie bringen Waren aus den Menschenlanden. Wir machen keine Geschäfte mit den Menschen, nicht mehr, das hat mein Vater streng untersagt, aber wir bekommen Zuckersirup von den anderen Albenvölkern, die ihn aus Baumsäften, Beeren oder Früchten gewinnen. Ein Nachteil unserer Lebensweise ist, dass hier oben in den Bergen nicht viel wächst. Das Hochgebirge und die Albin-Strukturen, aus denen die Stadt besteht, bieten Pflanzen keinen Nährboden. Aus diesem Grund können wir uns nicht selbst versorgen und sind auf die anderen Alben angewiesen. Besonders auf die Waldalben.
Mein Blick fällt auf Schloss Lumisade, das schräg unterhalb des Palastes liegt. Auf einem der Balkone haben sich die drei Aurelian-Kinder versammelt. Oriane sitzt auf der Brüstung, kämmt mit den Fingern ihr hellblondes Haar und späht in die Tiefe. Eldastin steht mit verschränkten Armen neben ihr. Er sieht fast so finster aus wie sein Bruder Boreas, der abseits wartet, als wäre er nicht zu dieser Versammlung eingeladen worden. Ab und zu wechseln Eldastin und Oriane ein paar Worte. Die abgehackte Unterhaltung hat etwas Unterkühltes.
Ich schaudere ein bisschen. Es heißt, mein Vater stünde in Verhandlung mit den Aurelians. Angeblich würde er wollen, dass Eldastin und ich heiraten.
Nevellin hat getobt, als er davon gehört hat. Zuerst dachte ich, er wäre endlich mal auf meiner Seite, aber dann habe ich herausgefunden, dass er nur einen Grund gesucht hat, um gegen die Aurelians zu wettern. Keine Ahnung, was er für ein Problem mit Eldastin und seiner Familie hat. Die Aurelians sind ein angesehenes Haus. Das hat mein Vater bei ihrem Streit gebetsmühlenartig wiederholt. Und außerdem hätte eine Verbindung zwischen uns auch noch andere Vorteile. Was auch immer er damit gemeint hat.
Meine eigenen Gefühle sind zwiespältig. Einerseits bin ich froh, mich endlich nützlich machen zu können. Ich hätte eine Aufgabe und mein Vater würde auf mich zählen. Das ist mehr als ich zu hoffen wagen konnte. Andererseits habe ich Angst. Eldastin ist einige Jahre älter als ich und sehr angesehen. Ich fürchte, er könnte das Vorhaben meines Vaters als Demütigung empfinden. Außerdem weiß ich nicht, wie er als Mann ist. Wir haben bisher kein Wort miteinander gesprochen. Vielleicht ist er eingebildet und aufbrausend wie Nevellin oder kalt und abweisend wie mein Vater. Doch ganz egal, ich werde es ertragen müssen. Schließlich will ich meinen Vater nicht enttäuschen.
Plötzlich kommt Bewegung in die Szene vor dem Fenster. Eldastin tritt näher an die Brüstung heran und Oriane lässt von ihren Haaren ab. Unten auf der Straße weichen die Passanten auseinander und bilden ein Spalier. Dann sehe ich die ersten Wasseralben. Mühsam kämpfen sie sich den Hang hinauf.
Obwohl es heißt, wir wären vor dem Großen Sturz ein Volk gewesen, sind jetzt deutliche Unterschiede zwischen unseren Völkern zu erkennen. Den Wasseralben fehlt die Leichtigkeit, mit der wir Sturmalben uns in der Stadt bewegen. Mein Vater hat mir erklärt, dass läge an der Luft, die hier oben viel dünner wäre als unten in den Menschenlanden. Angeblich hätte ich anfangs auch darunter gelitten, aber mit der Zeit habe mein Körper sich an die Verhältnisse in Albenheim gewöhnt. Aber auch davon abgesehen, gibt es einige unübersehbare Unterschiede zwischen den Wasser- und den Sturmalben. Die Haut unserer Gäste ist dunkler, beige, rotbraun oder zimtfarben. Wie Menschenhaut. Und ihre Haare sind schwarz wie Kohle. Sie tragen Gewänder in leuchtenden, bunten Farben. Blau und grün und rot. Das gefällt mir sehr.
Angeführt wird die Delegation von mehreren Männern und einer jungen Frau. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt und scheint den Palast und die angrenzenden Gebäude zu bestaunen, während die Männer, deren Haare bereits von Grau durchsetzt sind, auf sie einreden.
»Alina!«
Ich fahre herum. Hinter mir stehen Nevellin und mein Vater. Die Musik ist verstummt.
»Was ist?«, fragt mein Bruder ruppig. »Willst du mitkommen?«
Mein Blick zuckt zu meinem Vater. Er trägt ein feines, von Seidenweben durchsetztes Gewand und die weißen Haare fallen ihm lang und glatt über die Schultern. Die Narbe an seiner Wange ist heute kaum zu sehen, was in der Regel ein gutes Zeichen ist. »Darf ich?«
Er nickt. »Wenn du mitkommst, stelle ich dich Prinzessin Skarabelle vor.«
Sofort bin ich auf den Beinen und kann nur mit Mühe einen Freudenhüpfer unterdrücken. Es kommt nicht oft vor, dass ich an der Seite meines Vaters und meiner Geschwister eine repräsentative Aufgabe übernehmen darf.
Wir verlassen die Galerie und betreten den Haupttrakt des Palastes. Mein Herz wummert nervös und meine Gedanken flitzen wie glitschige Fische umher. Mir ist klar, dass der Besuch der Wasseralben kein offizieller Staatsbesuch ist. Nur ein Treffen unter Freunden, hat mein Vater gesagt. Aus diesem Grund soll alles so wenig förmlich wie möglich ablaufen, aber natürlich gibt es immer Regeln, an die man sich zu halten hat, wenn man eine Krone trägt – und sei es nur das schmale Diadem einer Bastardprinzessin. Unter keinen Umständen will ich etwas falsch machen oder meine Familie blamieren. Ich weiß, Nevellin wartet nur darauf.
An der Hand meines Vaters schwebe ich in die Empfangshalle hinunter. Dort werden wir bereits von meiner Stiefmutter Litha, meinem zweitältesten Bruder Korentin und meinen zwei Schwestern Zeferine und Aurette erwartet. Die vier halten sich normalerweise im Hintergrund, aber das Treffen mit Prinzessin Skarabelle wollen sie sich anscheinend nicht entgehen lassen.
Die Wasseralben haben die Halle durch das große Tor betreten und sind auf dem runden Bodenmosaik im Zentrum des Raumes zum Stehen gekommen. Offenbar beeindruckt von der Architektur des Palastes bewundern sie die Perlmorin-Reliefs an den Wänden, die Szenen aus den Gründungsjahren Albenheims zeigen. Kurz vor seinem Tod hat mein Urgroßvater die Stadt in eine Albin-Säule schlagen lassen. Das muss harte, körperliche Arbeit gewesen sein. Etwas, das ich Alben noch nie habe verrichten sehen.
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