Hâl Néverie (2|3)
Die Universitätsgebäude befanden sich auf der einzigen Erhebung Gronholts, die im Volksmund Zwiebel genannt wurde. Den Weg dorthin legten Bruin und ich mit einem Dampfwagen zurück, einer geräumigen, dampfbetriebenen Kutsche mit Platz für bis zu zwölf Passagiere, von denen mehrere Dutzend in der Stadt unterwegs waren. Dabei behielten wir unsere Umgebung genau im Auge, aber kein einziger Oberling kreuzte unseren Weg. Trotzdem steigerte sich meine Nervosität von Minute zu Minute.
Um mich von meinen Gedanken an Eldastin abzulenken, marschierte ich nach unserer Ankunft direkt zu meinem Büro, wo die Artefakte von gestern immer noch darauf warteten, untersucht und klassifiziert zu werden.
Was ich Ludvik über meine Arbeitsbedingungen gesagt hatte, war eine ziemliche Übertreibung gewesen; die meiste Zeit über arbeitete ich in völliger Einsamkeit. Nur manchmal klopfte ein schüchterner Erstsemester an meine Tür, um sich nach den Sprechzeiten von Professor Balinn oder den Mitschriften aus seiner letzten Vorlesung zu erkundigen. Ich gab bereitwillig Auskunft und widmete mich dann wieder meinen Mitbringseln von der Bruchstätte.
Die so genannte Bruchstätte war eigentlich nur eine von vielen im ganzen Hertland. Sie trug die Kennnummer 3.56 und war für Historiker besonders interessant, weil sich genau an diesem Ort einst eine florierende Albenstadt befunden haben musste. Ich tippte auf Skifer, eine mittelgroße Siedlung mit einer reichhaltigen Artefakt-Kultur. Professor Balinn war immer noch der Meinung, das legendäre Ardesia gefunden zu haben, aber daran glaubte ich nicht.
Behutsam stellte ich einen der Kartons von Bruchstätte 3.56 auf meinen Schreibtisch und klappte den Deckel auf.
Im Innern der Pappkiste befand sich ein asterisches Lichtartefakt. Es war jedoch bereits ausgebrannt und verströmte keine Magie mehr. Deshalb konnte ich es gefahrlos in die Hand nehmen und von allen Seiten begutachten. Es bestand aus silbrig glänzendem Estellit, einer Substanz, die nur in den Oberlanden vorkam, und war geformt wie ein sechszackiger Stern. Die Alben hatten es vermutlich einst dazu verwendet, ihre Häuser zu erhellen.
Im Gegensatz zu den Artefakten der Menschen, die vollkommen nutzlos waren und weder Ober- noch Niederlinge fernhalten konnten, besaßen die Artefakte der Alben echte magische Kräfte. Nur, dass die Alben es niemals Magie genannt hätten, denn für sie war der Umgang damit etwas vollkommen Alltägliches.
Es war jedoch nicht zu leugnen, dass den Alben durch den Großen Sturz viel altes Wissen – besonders in Bezug auf das Erschaffen magischer Artefakte – abhandengekommen war. Angeblich hatten sie damals sogar einen Teil ihrer magischen Fähigkeiten verloren.
Was das anging, gab es viele verschiedene Theorien, doch Professor Balinns Erklärung ließ sich in seinen Lehrbüchern nachlesen und lautete folgendermaßen:
Die Magie der Alben basiert auf dem Gleichgewichtsprinzip der Elemente. Im menschlichen Körper sind die Elemente – über ihre korrekte Anzahl streiten sich die Gelehrten – genau ausbalanciert. Keines überwiegt das andere. Es herrscht ein harmonisches Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist auf die Existenz der Seele zurückzuführen. Sie sorgt dafür, dass alles in Balance bleibt. Alben haben jedoch keine Seele. In ihren Körpern herrscht kein Gleichgewicht der Elementarkräfte und das erlaubt es ihnen, die Elemente in ihrer Umwelt zu manipulieren.
Es hieß, vor dem Großen Sturz hätten Alben jedes Element in ihren Körpern und in ihrer Umwelt beeinflussen können, doch als dann die Oberlande zusammenbrachen und ihre Bewohner in die Menschenwelt stürzten, verloren sie diese Fähigkeit. Stattdessen bildeten sich die verschiedenen albischen Völker mit ihren unterschiedlichen Magie-Richtungen heraus.
Die Waldalben zog es nach dem Sturz in die dichten Wälder, wo sie sich Jahrhundertelang vor den Menschen versteckten. Die Wasseralben flüchteten sich ans Meer und in die Flüsse, wo sie unterhalb der Wasseroberfläche eine komplizierte Kultur ausbildeten und regen Handel betrieben. Mein Volk, die Sturmalben, wanderte in die Berge, wo es sich an die stürmischen Bedingungen anpasste und seine Windmagie perfektionierte. Erst als meine Vorfahren auf die Idee kamen, allen Alben wieder eine Heimat zu geben und Albenheim aus den Überresten der Oberlande zu stampfen, fanden unsere Völker wieder zusammen. Ein bisschen jedenfalls.
»Frau Laurendel?«, erklang ein dünnes Stimmchen.
Ich sah von dem Lichtartefakt auf und entdeckte eine junge Studentin mit dicken Zöpfen und noch dickeren Brillengläsern, die verlegen durch den Türspalt blinzelte.
»Ja?«
Die Studentin schob die Tür auf, musterte kurz stirnrunzelnd den mit roter Farbe hingeschmierten Liebesbrief und präsentierte mir dann ein kleines, gut verschnürtes Päckchen. »Das ist an der Poststelle für Sie abgegeben worden.«
»Von der Bruchstätte?«
»Vielleicht. Es ist kein Absender darauf.«
Ich legte das Artefakt zurück in die Kiste, wischte mir die Hände an der Hose ab und nahm das Päckchen in Empfang.
Es war nicht ungewöhnlich, dass ich nicht deklarierte Post bekam.
Manchmal fanden Menschen einen Stein, der ihnen seltsam vorkam, lasen in den Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Gesellschaft von meinen Untersuchungen und schickten mir ihren Fund, damit ich ihn untersuchte und im Zweifel aus dem Verkehr zog. Dabei sollte ich nicht unbedingt wissen, wer sie waren und wo sie den Stein gefunden hatten, auch wenn das für meine Arbeit sehr hilfreich gewesen wäre. In den meisten Fällen konnte ich nämlich schon anhand des Fundortes sagen, ob es sich um ein gefährliches Artefakt handelte oder wirklich nur um einen komisch geformten Stein. Manchmal reichte auch ein Blick auf den Poststempel, doch der fehlte diesem Päckchen ebenfalls. Ich wog es in der Hand. Es war ungewöhnlich leicht und schien mehr aus Verpackung als aus Inhalt zu bestehen.
Neugierig geworden, umrundete ich meinen Schreibtisch, schob das Paket mit dem Lichtartefakt beiseite und schnappte mir eine Messingschere, um das Päckchen risikolos von seiner Verschnürung zu befreien.
Gerade als ich die letzte Schnur durchtrennen wollte, meldete sich die Studentin noch einmal zu Wort. »Frau Laurendel?«
Ich hielt inne. »Ist noch was?«
»Da ist jemand bei Professor Balinn«, antwortete die Studentin. »Jemand, der bestimmt zu Ihnen will. Es sieht wichtig aus.«
Hin- und hergerissen zwischen dem mysteriösen Päckchen und dem mysteriösen Besucher gab ich schließlich nach und machte mich auf den Weg zum Büro von Professor Balinn.
Mein Vorgesetzter war ebenfalls ein Halbalbe; allerdings einer vom Waldvolk. Das sah man ihm auch an. Er hatte dunkle, borkige Haut mit tiefen Furchen, in denen meistens Moos wuchs und hin und wieder auch mal ein Schattenröschen erblühte. Außerdem war er untersetzt gebaut, wie ein knorriger Baum, der sogar dem stärksten Sturm trotzte.
Sein Büro befand sich am Ende des langen Korridors, der alle Räume im Historischen Institut, dem auch die Fachbereiche Altertumslehre, Altertumsbotanik und Artefaktkunde angehörten, miteinander verband.
Während ich durch den Korridor hastete, warf ich einen Blick aus den hohen Spitzbogenfenstern, die auf den Innenhof hinauszeigten. Dort kümmerten sich mehrere Studenten um die Beete und Gewächshäuser, in denen Bruin und ihre Kollegen Pflanzen aus den Ober- und Unterlanden anzubauen versuchten. Oft konnte man Bruin dort unten umhergehen und Proben nehmen sehen. Heute jedoch nicht.
»Ah, da ist sie ja!«, hörte ich Professor Balinn sagen, als ich um die letzte Ecke des Korridors bog. Seine Stimme klang immer raspelnd wie eine alte Holzsäge. »Fräulein Laurendel ... gut, dass Sie kommen. Ich wollte Sie gerade holen lassen.« Er nahm seine Brille ab und schenkte mir ein knappes Lächeln. »Sie haben Besuch.« Bedeutungsschwanger fügte er hinzu: »Hohen Besuch.«
Bei diesen Worten deutete er mit dem Brillenbügel auf einen Mann, der vor den Fenstern zur Allyrenallee stand und mir den Rücken zugekehrt hatte. Die langen, aschblonden Haare fielen seidenglatt über das Rückenteil seiner nachtschwarzen Svila – so nannten reinblütige Alben die traditionellen Kleider, die sie außerhalb Albenheims trugen und die in Farbe und Form den Uniformen der Gronholter Studenten ähnelten, was mir bis zu diesem Tag nie aufgefallen war. Goldene Ziernähte und Stickereien, die den Status des Trägers verrieten, verliefen entlang der Schulterpartie bis zu den Armen und setzten sich an Kragen und Knopfleiste fort. Ich hätte jedoch auch ohne diesen dezenten Hinweis gewusst, mit wem ich es zu tun hatte.
Langsam drehte Eldastin sich zu mir um. Dabei schenkte er mir ein Lächeln, das so kalt und freudlos war, dass ich unwillkürlich erschauderte. »Hâl Néverie, Alina«, sagte er.
Und ich tat das, was nur jemand tun konnte, der komplett lebensmüde war: Ich drehte mich um und rannte weg.
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