Durch Ruinen (5|3)
Nachdem ich einen kleinen Rucksack gepackt und den Brief an meine Freunde geschrieben hatte, brachen Eldastin und ich auf.
Wir kamen jedoch nicht weit. Gerade als wir das Gebäude verließen, vernahm ich eine bekannte Stimme.
»Fräulein Laurendel! Fräulein Laurendel!«
Schweratmend stürzte der Grimm hinter uns ins Freie.
»Fräulein Laurendel!«
»Was ist denn?«
Meine Vermieterin stemmte die Hände in die Taille und setzte zu einer Antwort an. Dabei fiel ihr Blick auf Eldastin und es war, als würde irgendwo in ihrem Innern ein Schalter umgelegt. Ihre ganze Körperhaltung änderte sich – ähnlich wie bei Professor Balinn, als er erkannt hatte, dass er es mit einem reinblütigen Oberling zu tun hatte. Sie lächelte verlegen, richtete ihr Kopftuch und strich ihre Schürze glatt. Man konnte fast meinen, sie hätte eine Schwäche für Eldastin. Der Gedanke war absurd und amüsant zugleich.
Die meisten Menschenfrauen fühlten sich nicht zu Albenmännern hingezogen. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, warum das so war. Vielleicht, weil sie instinktiv spürten, dass sie es mit einer anderen Spezies zu tun hatten. Andererseits schien das bei Niederlingen kein Problem zu sein. Aber vielleicht lag es auch an der emotionalen Kälte der Alben oder ihrem fremdartigen Aussehen.
Was es auch war, den Grimm schien es nicht abzuschrecken. Mit hochroten Wangen musterte sie abwechselnd Eldastins Gesicht und ihre Fußspitzen. Fast noch amüsanter als ihr seltsames Verhalten war Eldastins betretenes Schweigen. Er schien nicht den blassesten Schimmer zu haben, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Sein Blick zuckte hilfesuchend in meine Richtung.
Ich unterdrückte mühsam ein Grinsen. »Um was geht es denn, Frau Peregrimm?«
»Ihr ... Wasser ...« Der Grimm deutete auf Eldastins Gesicht, das noch immer mit Spuren von Ruß und Blut bedeckt war. »Kommt bei Ihnen auch kein Wasser aus der Leitung?«
»Nein«, antwortete ich.
»Es ... es wird wohl noch eine Weile dauern, bis die Wasserversorgung wiederhergestellt ist.«
»Ja. Mag sein.« Ich präsentierte dem Grimm meinen Rucksack. »Aber das ist kein Problem. Ich verlasse für eine Weile die Stadt.«
»Wo reisen Sie denn hin? Sie und Ihr ... Bruder?«
Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Sollte sie Eldastin doch für meinen Bruder halten. Auch wenn ich – bis auf die spitzen Ohren – keinerlei Familienähnlichkeit zwischen uns feststellen konnte. »Wir reisen nach Timber«, antwortete ich. »Dort sind wir sicher vor den Vindr.«
»Aber Sie zahlen doch weiter Ihre Miete, oder?« erwiderte der Grimm und schenkte Eldastin ein strahlendes Lächeln, das die Runzeln in ihrem Gesicht zu neuen, mir unbekannten Konstellationen formte.
»Natürlich«, log ich.
Der Grimm strahlte noch etwas mehr.
»Wir müssen jetzt los«, sagte ich und wandte mich zum Gehen.
»Warten Sie«, rief der Grimm und rannte mir nach. Dabei machte sie kurze, trippelnde Schritte, wie die Noeri-Frau in der Nebelstube von Mak Maggott. »Jemand hat nach Ihnen gefragt.«
Ich blieb stehen. »Wer? Wann?«
»Heute Morgen. Ein älterer Mann. Er sagte, er wäre Professor.«
»Professor Balinn?«
Der Grimm zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Ja, ich glaube, das war sein Name.«
»Und was wollte er von mir?«
»Nichts. Er hat sich bloß Sorgen um Sie gemacht.«
»Hat er sonst noch irgendetwas gesagt?«, mischte Eldastin sich ein.
Der Grimm lächelte ihn an. »Er wollte bloß noch wissen, ob ich wüsste, wann Fräulein Laurendel zurückkehren würde.«
»Und was haben Sie ihm gesagt?«
»Dass ich es nicht wüsste.«
Eldastin wandte sich an mich: »Ist das normal?«
Ich verneinte. Professor Balinn war noch nie bei mir Zuhause aufgetaucht, wenn ich mal später zur Arbeit erschienen war. Er behauptete immer, das Privatleben seiner Mitarbeiter würde ihn nicht interessieren und wir wären alle alt genug, um auf uns selbst aufpassen zu können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er seine Prinzipien wegen eines Vindr-Angriffs über den Haufen warf.
»Gehen wir«, entschied Eldastin und bedeutete mir, vorauszugehen.
Ich verabschiedete mich hastig von meiner Vermieterin und eilte los.
Der Bahnhof von Gronholt lag auf der anderen Seite des Beletz. Der schnellste Weg dorthin führte über die Teberia-Brücke.
Während wir das Hafenviertel durchquerten, wurde mir erneut die allgegenwärtige Zerstörung vor Augen geführt. Mehrere Häuserblöcke der Innenstadt waren vom Feuer regelrecht ausgehöhlt worden. Wohin man auch sah, ausgebrannte Dachstühle, halb eingestürzte Ruinen, schwarze Fensterhöhlen, Rauch, Schutt und Dreck.
Die Aufräumarbeiten waren trotz der Gefahr eines weiteren Vindr-Angriffs im vollen Gange. Die Menschen trugen Trümmer, schippten Asche und suchten in den Ruinen nach Überlebenden. Allzu oft wurden ihre Hoffnungen enttäuscht und die Verschütteten konnten nur noch tot geborgen werden. Immer wieder kamen wir an aufgebahrten Leichen und trauernden Angehörigen vorbei, die mitten auf der Straße zusammengebrochen waren und nicht wussten, wen sie in ihrer Not um Beistand anflehen sollten.
Stattdessen entluden sich ihre Gefühle in einer ganz neuen Form von Anderling-Hass. Am Zolltor waren mehrere Oberlinge – zwei Waldalben und eine Wasseralbin – am Querbalken aufgeknüpft worden.
Ich war so erschüttert über diese Grausamkeit, dass Eldastin mich packen und weiterzerren musste.
Im Laufschritt überquerten wir die Brücke und bogen in die Bahnhofsstraße ein. Dort bemerkte ich zum ersten Mal, dass wir verfolgt wurden. Mehrere Männer hatten sich an unsere Fersen geheftet. Sie trugen keine Fackeln oder Mistgabeln, aber dafür Schaufeln, Stöcke, Stäbe und Äxte. Auf freier Strecke hätten wir ihnen sicher entkommen können, doch auf den Straßen des Bahnhofsviertels herrschte ein Gedränge, das immer dichter wurde, je näher wir dem Bahnhof kamen. Offenbar waren wir nicht die Einzigen, die Gronholt auf dem Gleisweg verlassen wollten.
»Kannst du dich entschweren?«, fragte Eldastin.
»Ob ich was kann?«
Eldastin seufzte leise, fasste meine Hand und zog mich mit sich ins Gedränge. Irgendwie schaffte er es, durch die Menge zu gleiten, ohne irgendwo anzuecken.
Ich folgte ihm deutlich schwerfälliger. Mehrfach rempelte ich jemanden an, stammelte eine Entschuldigung und musste mich von Eldastin weiterzerren lassen. Selten hatte ich mich unter Menschen so unwohl gefühlt, zumal ich jederzeit damit rechnen musste, ein Messer zwischen die Rippen gerammt zu bekommen.
Endlich kam der Bahnhof in unser Sichtfeld. Es handelte sich um ein eindrucksvolles Gebäude im neulyrischen Stil, mit einer konkav geschwungenen, von Pilastern gegliederten Fassade und drei verglasten Gleishallen – jeweils eine für die drei Zuglinien, die von unterschiedlichen Bahngesellschaften betrieben wurden.
Zwei doppelflügelige Eichenholztüren führten ins Innere des Gebäudes. Hier war das Gedränge so dicht, dass Eldastin mit seiner Methode nicht weiterkam.
Ich ergriff die Initiative, fuhr meine Ellenbogen aus und schob mich durch die Menge. Dabei zog ich meinen Verlobten an der Hand hinter mir her. Wir hatten jedoch kein Glück.
Im Schatten des Vorbaus angekommen, die kühle Eingangshalle bereits in Sichtweite, vertraten uns mehrere Soldaten in den dunkelblauen Waffenröcken der Stadtwache den Weg.
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