Albenheim (12|5)
»Später ...?« Mehr kam nicht aus meinem Mund. Ich hatte das Gefühl, einen weiteren heftigen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben.
Während ich noch zu begreifen versuchte, was eigentlich los war und wo Eldastin hergekommen sein könnte, kletterte er an den Gitterstäben meiner Zelle hinab, bis wir etwa auf Augenhöhe waren. Mir fiel auf, dass er seine Svila und dazu schwarze Handschuhe trug. Anders wäre es ihm wohl auch nicht möglich gewesen, das rostige Eisen zu greifen. Seine Haare waren zu einem Zopf geflochten, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten und sein Gesicht umspielten.
Wir sahen uns an. Im rötlichen Licht, das aus der Tiefe heraufdrang, schimmerte seine Haut wie das Innere einer Muschel. Nase, Augenbrauen und Wangenknochen wirkten, als wären sie von einem zwanghaften Bildhauer anhand exakter Berechnungen aus schneeweißem Marmor gemeißelt worden. Sein Mund war leicht gebogen, die Winkel ein wenig nach unten gekrümmt. Die hohe Stirn so glatt wie Porzellan und die farblosen Augen von grauen Schatten umwölkt.
»Wie bist du hergekommen?«, fragte ich.
Nur Sekunden später hätte ich mich dafür in den Hintern treten können. Die Antwort war ja wohl offensichtlich.
»Es gibt einen geheimen Weg entlang der Klippen«, antwortete Eldastin.
»Und woher kennst du diesen Weg?«
Eldastin wich meinem Blick aus. »Ich ... ich war vielleicht schon einmal hier.« Er wandte sich wieder mir zu. Seine Wangen wurden hohl und eine Ader wölbte sich unter seiner Stirn. »Wie geht es dir, Alina?«
Meine Augen brannten. »Hat Ludvik dir gesagt, dass du das fragen sollst?«
»Er hat es angedeutet.«
Ich lächelte schwach. Heimweh überkam mich wie eine Flutwelle, die sich über Stunden und Tage hinweg aufgestaut hatte. Der Schmerz in meinem Körper verblasste gegenüber dem Schmerz in meinem Herzen.
»Alina ...?«, fragte Eldastin besorgt.
»Schon gut.« Ich presste mir Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel. »Gib mir einfach ... einen Moment.« Während ich das sagte, kämpfte ich gegen die Tränen wie gegen einen wiederkehrenden Würgereiz.
»Alina ...?«, wiederholte Eldastin, zupfte sich mit den Zähnen einen Handschuh von den Fingern, klammerte sich an die Eisenstäbe und streckte die freie Hand zwischen den Stangen hindurch.
Ich wollte der unausgesprochenen Aufforderung nicht nachgeben, wirklich nicht, aber ich war schwach und müde und hatte schlicht nicht mehr die Kraft, um dagegen anzukämpfen. Allerdings ließ ich mir ein paar Sekunden Zeit, um meinen Widerwillen zum Ausdruck zu bringen. Dann krabbelte ich zu ihm und nahm seine Hand, die schlank, aber auch hart war, mit einem sehnigen Handrücken und deutlich hervorstechenden, bläulich schimmernden Adern.
Meine menschliche Seite genoss die Berührung mehr als meine albische Seite sich eingestehen wollte. Es war schön, nicht mehr alleine zu sein.
»Hm ...«, machte Eldastin.
»Was?«, flüsterte ich.
»Nichts. Ich hätte nur nicht gedacht, dass es funktioniert.«
Ich wollte meine Hand zurückziehen, aber er hielt sie fest.
»Warte ...«
»Willst du mich nun hier herausholen, oder nicht?«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Eldastin und rüttelte mit der anderen Hand an den Eisenstangen. »Diese Zelle ist sehr stabil und man würde es bemerken, bevor ich dich in Sicherheit bringen könnte.«
»Und warum bist du dann hier?«
»Ich dachte, du wolltest vielleicht nicht allein sein.«
»Hat Bruin dir das-?«
Eldastin fiel mir ins Wort. »Nein. Das war meine Idee.« Er musterte mich wie eine unerforschte Spezies, auf deren Verhalten er sich keinen Reim machen konnte. »Menschen machen das doch füreinander, oder nicht?«
»Vielleicht«, erwiderte ich trotzig.
Doch Schmerz und Erschöpfung machten mich mürbe.
Schließlich gab ich nach und sackte neben Eldastin zusammen. Mit der Schulter stieß ich gegen die Eisenstangen und widerstand gerade noch dem Impuls, den Kopf gegen das Metall zu legen. Ich verschränkte meine Finger mit denen meines Verlobten und schloss langsam die Augen.
»Du siehst schlecht aus«, hörte ich Eldastin sagen.
»Was hast du erwartet?«
»Waren das die Drachenkrieger?«
»Nein.« Ich schluckte. »Das waren ... Menschen.«
»Dieselben, die dich entführt haben?«
»Nein.«
Eldastin musste spüren, dass mir nicht nach Reden zumute war. »Es tut mir leid, dass wir nicht schneller kommen konnten«, sagt er. »Als wir Prim verlassen haben, sind uns die Vindr aufgefallen und Ludvik hatte die Idee, sie von deiner Fährte abzubringen. Eine Zeit lang hat das auch geklappt, aber dann ...«
Er musste auf das Geschehen am Abend der Sienada anspielen.
»Und danach haben die Soldaten des Königs alle Hauptstraßen abgeriegelt. Ihr müsst ihnen zuvorgekommen sein, aber wir hatten große Schwierigkeiten, es überhaupt bis nach Malachit zu schaffen. Ohne Bruin hätte es bestimmt noch viel länger gedauert.«
»Wo sind Bruin und Ludvik?«, murmelte ich.
»Sie suchen nach einem Weg, dich hier herauszuholen.«
»Hast du nicht gesagt, du wärst schon einmal hier gewesen?«
»Das habe ich.«
»Wann? Und warum?«
Eldastin seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Hat es zufälligerweise etwas mit deiner Zeit in Terebien zu tun? Oder mit Kyano? Du weißt schon, der Wasseralb, den du angeblich hingerichtet hast.«
Ich öffnete ein Auge, um Eldastins Reaktion zu sehen, doch es war nicht sein Gesicht, das ihn verriet. Es war die Art, wie sich sein Griff lockerte. Wie seine Finger in meiner Hand erschlafften.
»Woher weißt du es?«
»Ich habe ihn getroffen. Mican. Oder Kyano. Oder wie auch immer er heißt.«
Eldastin nickte auf seine typische Art und Weise, so knapp, dass man es für eine unwillkürliche Zuckung halten konnte. »Er hat viele Namen.«
»Aber wer ist er?«
»Ein hochrangiger Alben-Lord des Deuponds.«
Ich brauchte einen Moment, um diese Information zu verdauen. »Und woher kennst du ihn?«
»Wir haben zusammengearbeitet.«
»Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?«, knurrte ich und fasste seine Hand fester. »Denkst du nicht, dass du mir eine Erklärung schuldest?«
»Du hast Recht«, sagte Eldastin. »Aber es ist nicht leicht, einen Anfang zu finden.«
»Nevellin hat damals immer wieder behauptet, deine Familie würde aus Verrätern bestehen. Und Vater hat dich dazu gezwungen, einen Verräter hinzurichten. Am Tag unserer Verlobung. Fang damit an. Erklär mir das.« Die Wut pochte derart in meinen Schläfen, dass sie sogar den Schmerz überstrahlte. »Warum wollte mein Vater, dass wir beide heiraten? Wieso hast du eingewilligt? Und warum hast du nach meiner Flucht Albenheim verlassen, um irgendwo in den Draulanden zu leben?«
Eldastin schwieg einen Moment. Dann begann er mit einer Gegenfrage: »Sag mir eines, Alina ... was ist Albenheim für dich?«
Ich schnaubte. »Eine Vergangenheit, die ich lieber wieder vergessen würde.«
»Nun ...« Eldastin klammerte sich fester an die Eisenstäbe meiner Zelle, um nicht den Halt zu verlieren und in den schwarzen Schlund zu stürzen. »Für mich ist Albenheim meine Heimat, aber auch eine Zuflucht. Ein Symbol der Hoffnung.« Als ich darauf nichts sagte, fuhr Eldastin fort: »Vor siebenhundert Jahren, als die Alben aus den Oberlanden in die Menschenlande stürzten, waren sie schutzlos, verwirrt und einsam. Schon damals gab es Bestrebungen, ihnen ein gemeinsames Zuhause zu erschaffen. Leider hat es noch über fünfhundert Jahre gedauert, bis dieser Plan in die Tat umgesetzt worden ist. Von deinem Urgroßvater, Alina, dem ersten König von Albenheim.«
»Das weiß ich doch alles schon«, brummte ich.
Eldastin schien sich daran nicht zu stören. »Dein Urgroßvater wollte einen Ort erschaffen, an dem alle Alben, ganz unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Aussehen oder ihren Talenten, sich heimisch fühlen können.«
»Und dann ist er dummerweise gestorben, bevor seine Arbeit fertig gestellt werden konnte«, vervollständigte ich.
»Dein Großvater hat den Bau fertig gestellt und die Stadt etwa fünfzig Jahre lang regiert, bevor ...« Eldastin schwieg.
... bevor die Vindr ihn in Stücke rissen, ergänzte ich in Gedanken. Es war bei einer Schlacht geschehen. Beim letzten Versuch der Vindr, Albenheim zu erobern. Damals war es ihnen gelungen, den König zu töten, aber die Stadt war ihnen verwehrt geblieben.
»Worauf willst du hinaus?«, seufzte ich.
»Hast du jemals Wasseralben, Waldalben oder Feueralben in Albenheim gesehen?«
»Natürlich.«
»Ja?«
»Prinzessin Skarabelle war-«
»Die Prinzessin war zu Besuch«, widersprach Eldastin. »Ich rede von Wasseralben, die in Albenheim heimisch sind.«
Ich dachte nach, auch wenn ich dazu eigentlich viel zu erschöpft war. »Keine ... Ahnung«, murmelte ich. »Viele waren es bestimmt nicht. Aber die Waldalben bleiben gerne in ihren Wäldern. Sie mögen die Bäume. Und außerdem haben sie diese komplizierte Kultur entwickelt, die-«
Eldastin schmunzelte. »Die Waldalben bleiben nur deshalb in ihren Wäldern, weil dein Vater sie dazu zwingt.«
Verwundert wandte ich den Kopf und musterte Eldastins ebenmäßiges Gesicht auf der Suche nach einem Anzeichen dafür, dass er sich einen Scherz erlaubte. »Wieso sollte er das tun?«
»Weil Albenheim auf den Import ihres Zuckersirups angewiesen ist.« Eldastin schürzte die Lippen. »Die Waldalben leben nur deswegen noch in den Wäldern, weil wir sie genau dort brauchen. Sie können nicht nach Albenheim kommen oder wir Sturmalben müssten verhungern. Dabei werden die Wälder Hertlands immer kleiner. Die Menschen brauchen das Holz für ihre Maschinen.« Eldastin seufzte. »Die ganze Lage ist äußerst prekär.«
»Es leben als keine Wasser- oder Waldalben in Albenheim?«, wollte ich wissen.
»Doch«, antwortete Eldastin. »Aber sie leben nicht dort, wo wir leben, sondern in den tiefer gelegenen Quartieren am Fuß der Stadt, wo die Luft nicht so dünn ist.«
Ich wollte ihn schon fragen, was das Problem dabei war, da fuhr er fort.
»Allerdings haben sie keine Rechte. Keinen Einfluss. Keinen Valtain.« Eldastin ließ seinen Blick durch die Zelle schweifen. »Sie leben buchstäblich am unteren Ende der Nahrungskette und in der ständigen Angst, verbannt und wieder in die Menschenlande zurückgeschickt zu werden, wo ihnen in vielen Fällen Verfolgung und Tod drohen würden.«
»Weiß mein Vater davon?«
»Natürlich. Aber dein Vater vertritt die Ansicht, dass Albenheim die Stadt seines eigenen Volkes wäre. Kein Zufluchtsort, an dem Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen werden, sondern eine Kriegsfestung zum Schutz der Sturmalben vor den Vindr und den Menschen. Vor ein paar Jahrzehnten haben wir noch Geschäfte mit den Menschen gemacht, doch unter deinem Vater ist das alles verboten worden.«
Ich gab es nicht gerne zu, aber das sah meinem Vater sehr ähnlich. »Und was hat das alles mit dir zu tun?«
Eldastin zögerte. »Meine ... meine Familie vertritt eine andere Auffassung als dein Vater. Wir wollen Albenheim verändern. Zu dem machen, was dein Urgroßvater und so viele andere Alben sich erträumt haben. Eine Zuflucht. Ein Zuhause für alle, die nicht in den Menschenlanden leben können oder wollen.«
Während er sprach, richtete ich mich auf. Oder ich versuchte es zumindest. Bei der Bewegung schoss ein scharfer Schmerz durch meinen Rücken und ich ließ mich wieder gegen die Eisenstangen sinken. »Das ist der Grund für alles?«
»Ob es der Grund für alles ist, kann ich nicht sagen, aber sicher ist es der Grund für vieles«, antwortete Eldastin.
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