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Kapitel 3


                                                                                                *
 
Als ich am darauffolgenden Montagmorgen während des Frühstücks meine Mails checke, sehe ich, dass ich eine neue Nachricht vom Fachbereich für Medizin und Neurowissenschaften habe. „Aufkündigung Ihrer Promotionsverarbeitung" heißt es in der Betreffszeile. Das lässt eigentlich keine Zweifel zu. Nein, das ist eindeutig.
Der Knoten in meinem Magen scheint sich enger und enger zusammenzuziehen und für einen Moment schwebt der Mauscourser schwerelos über dem Mailfenster. Ich warte, ohne zu wissen worauf ich warte, mir wird kalt, dann heiß und ich habe das Gefühl zu schwitzen, dabei bin ich ganz trocken. Schließlich schlage ich mein Macbook zu, greife nach meinem Teller und versenke die Reste meines Omeletts und Fisches im Mülleimer.
Mir ist der Appetit vergangen.

Unten auf der Straße fällt mir auf, dass ich das ganze Wochenende lang nicht draußen war und wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, kann ich nicht einmal mit Sicherheit sagen, was ich stattdessen die ganze Zeit gemacht habe. Ich habe mich in meiner Wohnung verkrochen, mein Handy auf Flugmodus gestellt, mich von den Resten aus meinem Kühlschrank ernährt und mit AIMO geredet. Und mit AIMO geredet. Und mit AIMO geredet. Ich glaube, ich habe das ganze Wochenende nichts anderes gemacht, als mit AIMO geredet. Mittlerweile weiß diese doofe KI vermutlich mehr über mich, als alle meine bisherigen Therapeuten zusammengenommen. Als Entwicklerin macht es mich beinah etwas stolz, dass Gespräche mit ihm tatsächlich so einfach und authentisch sind, wie es unser Ziel war. Dem Rest von mir ist es einfach nur peinlich.
Ich bin jetzt 24 Jahre alt. Und trotzdem gibt es so vieles, über das ich immer noch nicht reden kann. So vieles, was passiert ist, hinter das ich am liebsten einen Haken setzen würde, aber es dann einfach nicht schaffe. Ganz egal, wieviel Therapie ich mache. Ganz egal, wieviel Zeit vergeht. Stattdessen ziehe ich mich bei dem kleinsten Anflug von Schwierigkeiten in meine kleine Nerd-Höhle zurück, wo mein einziger Zuhörer eine künstliche Intelligenz ist, die ich zu allem Überfluss auch noch selbst entwickelt habe, für die sich aber niemand außer mir selbst zu interessieren scheint. Das ist doch peinlich, oder?
Aber vielleicht, nur vielleicht, wird es mit AIMO nun ein bisschen anders. Zumindest fühlt es sich gerade so an, als könnte es mit ihm ein bisschen anders werden.
Ich erreiche das Unigelände. Ich bin verhältnismäßig spät dran, trotzdem ist der Campus wie ausgestorben. Das wird nicht mehr lange anhalten. Schon in wenigen Stunden, werden sich die Gänge mit Erstsemestern füllen, die suchend die Raumbeschriftungen studieren, vor dem Sekretariat wird sich eine Schlange bilden und schon um kurz nach neun wird in jedem einzelnen Damenklo der Handtuchspender nachgefüllt werden müssen.
Während ich in eiligen Schritten den mit rostroten Ziegeln gepflasterten Außenbereich des Hauptgebäudes überquere, überlege ich, was ich den anderen aus der Arbeitsgruppe antworten könnte, sollten sie mich fragen, ob und wie ich AIMO zerstört habe.
Die Vorstellung meine Teamkameraden- und kameradinnen anzulügen gefällt mir nicht. Allerdings gefällt mir die Vorstellung ihnen die Wahrheit zu sagen noch weniger. Allein bei dem Gedanken, läuft mir ein heißkalter Schauer vom Nacken bis ins Steißbein hinunter. Obwohl es beinah Ende Oktober ist, wird mir unter meiner Kunstfelljacke plötzlich unerträglich heiß. Ich schwitze, als ich das untere Foyer betrete und auf die Aufzüge auf der gegenüberliegende Seite zusteuere.
Wer weiß, mit etwas Glück fragt keiner nach AIMO. Ich hoffe, dass keiner nach AIMO fragt. Das wäre das einfachste.

„Genshi-chaaan!"
Ich bin kaum durch die Tür, da wirbelt auch schon Reki, der Informatiker unseres Teams, samt Bürostruhl auf seinem Platz herum und in meine Richtung.
„Dachte schon du bist krank! Ich glaub, das ist das erste Mal, dass ich eher da bin als du! Legendär, dieser Tag schreibt Geschichte!"
Ich sende ihm einen unsicheren Blick und ziehe lautlos die Tür hinter mir ins Schloss. „Ich habe den Wecker nicht gehört, tut mir leid", sage ich, weil es einfacher ist als zu erklären, dass ich zehn Minuten lang erfolglos versucht habe die Mail mit der Aufkündigungsvereinbarung zu meinem Promotionsabkommen zu öffnen.
„Ach quatsch, war doch kein Vorwurf. Bist doch trotzdem immer noch eher, als der Rest", erkennt er, streift sich mit der flachen Hand durch das struppige, weißblondierte Haar und richtet anschließend sein Bandana. Wie immer trägt er abgelatschte, dreckige Converse, eine zerrissene schwarze Jeans und ein Shirt mit dem Logo irgendeiner Indie-Rockband, deren Namen ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört habe.
Als ich merke, dass er mich dabei beobachtet, wie ich meinen Computer hochfahre und meine Haare zu einem hohen Zopf zusammenbinde, schenke ich ihm ein schüchternes Lächeln.
Er antwortet mit einem Grinsen. „Sag mal, Genshi-chan", sagt er dann.
Er nennt mich „Genshi-chan", weil die Familie meiner Mutter ursprünglich aus Japan kommt und auch ich selbst dort geboren bin, bevor wir kurz nach meinem zwölften Geburtstag zurück in die Heimat meines Vaters und nach Deutschland gezogen sind.
Ich weiß nicht genau, wie Reki darauf gekommen ist. Vermutlich hat er zu viele Animes geguckt. Zumindest ist er bei dem Spitznamen geblieben und das obwohl ich ihm irgendwann erklärt habe, dass „chan" eine Verniedlichung ist und eigentlich nur bei Kindern, Haustieren oder unter wirklich guten Freunden benutzt wird. Aber Reki hat mir nur wissen zugezwinkert und „Na, dann passt doch alles, Genshi-chan!", gesagt und ich habe mich nicht getraut weiter nachzufragen.

Bis heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob er mich vielleicht zu ärgern versucht.
„Du hast AIMO doch letzten Freitag mit nach Hause genommen, oder?", fragt er unterdessen weiter und reißt mich damit aus meinem Tagtraum.
Mir gleitet vor Schreck mein Ipad aus den Händen, dass ich gerade aus meiner Handtasche gezogen habe. Im letzten Moment kriege ich es an der Schutzhülle zu packen, bevor es mit dem Display voran auf dem Linoleumboden aufschlagen kann.
„Ich... ja, ja habe ich, wieso?", frage ich gehetzt und schiebe das Ipad mit zitternden Fingern auf die Ablage meines Schreibtischs.
Reki wirft mir einen skeptischen Blick zu. „Nichts, sie haben nur gerade darüber gesprochen." Er deutet hinter sich und in Sylvias Richtung, die mit dem Rücken zu uns an ihrem Schreibtisch sitzt und sich trotz der frühen Stunde bereits in einem Zoom-Meeting befindet. In den kleinen Bildschirmkästchen, die den oberen Rand von Sylvias eigener Aufnahme säumen, flimmern die Gesichter einiger Größen der neurowissenschaftlichen Professorenzunft.
„Ich... entschuldigung, was haben sie gesagt?", frage ich sicherheitshalber noch einmal.
Reki zieht nur ahnungslos die Schultern hoch. „Du weißt schon, dass es schade ist und so. Mit AIMO. Dass der Projektentwurf klasse war, alle unser Vorhaben mit großem Interesse verfolgt haben. Wäre richtige Pioniersarbeit gewesen und wann hat man das schon noch? Selbst wenn man in unserem Metier zu Hause ist, aber naja, war ein Schuss in den Ofen, oder?" Er lässt einen erschlagenen Seufzer hören und beginnt beim Weiterreden an seinem Lippenpiercing herumzuspielen. „Was hast du mit dem Kleinen eigentlich gemacht?"
„We- welcher Kleine?" Mittlerweile ist mein Mund dermaßen trocken, das meine Stimme klingt wie Schmirgelpapier.
„Na, AIMO natürlich." Reki hält mitten in der Bewegung inne und sendet mir einen besorgten Blick. „Mensch, Genshi-chan, ist alles in Ordnung? Du wirkst heute ganz neben der Spur."
„Ach so" Ich schlucke schwer. Unter seinem abwartenden Blick wird mir schwindelig, daher tue ich so, als würde ich etwas in meiner Handtasche suchen. Während ich im Inneren meiner Micheal Kors mein Puder und Lipgloss von einer Seite zur anderen schiebe, überlege ich, wie ich diese Unterhaltung schnellstmöglich beenden kann.
Sollte ich lügen? Sollte ich sagen, dass ich AIMO in den Fluss geworfen habe, so, wie ich es eigentlich vorhatte?
Und wenn Sylvia später mit ihrem Zoom-Call fertig ist und mir die gleichen Fragen stellt? Werde ich sie dann auch anlügen? Meine Doktor-Mutter? Professorin Sylvia Baier? Inhaberin des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Friedrich-Nietzsche Universität?
Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, schwingt die Tür in meinem Rücken ein weiteres Mal auf und Aluna betritt das Büro.
„Naah, ihr beiden?", flötet sie uns entgegen, bevor sie sich nach einem flüchtigen Blick in Sylvias Richtung beschämt die Finger gegen die Lippen schlägt. „Upps, unser Arbeitstier ist schon wieder in seinem Element." Sie blinzelt mir im Vorübergehen spielerisch zu, bevor sie wie eine erhabene Löwin um Reki schleicht und ihm schließlich einen Kuss von den Lippen stiehlt.
„Hat die Göttin gut hierher gefunden?", möchte dieser von seiner Freundin wissen.
„Quatschkopf." Aluna lacht leise und strubbelt ihm einmal durch das krause, blonde Haar.
Mein Blick folgt ihr weiter durch den Raum. Ich sehe ihr zu, wie sie sich den bordeauxfarbenen Parka von den Schultern streift, der ihre dunkle Haut perfekt kontrastiert. Ihre Afrolocken hat sie zu einem hohen, strengen Dutt zusammengebunden, auf ihren Wangen glitzert goldener Highlighter und die Spitzen ihrer Gelfingernägel haben fast die selbe Nuance wie ihr Mantel.
Aus irgendeinem Grund ist es ein allgemeiner Irrglaube, dass Naturwissenschaftler keinen Sinn für Mode und Trends besitzen dürfen. Wie bei fast allen dämlichen Vorurteilen, trifft auch dieses uns Frauen wieder einmal ganz besonders: Eine Frau, die sich für ihre Arbeit im Labor gerne die Haare zurechtmacht und Make-Up auflegt, wird sowohl von ihren Kollegen als auch Kolleginnen direkt weniger ernst genommen. Doch Aluna ist der lebende Beweis, dass man beides haben kann: Style und einen überdurchschnittlichen IQ.
Abgesehen davon scheint sich Aluna allerdings ohnehin recht wenig aus der Meinung ihrer Mitmenschen zu machen. Sie tut, was ihr gefällt. Aber auf die selbstbewusste - Art und Weise und nicht auf die Arschloch - Art und Weise.
Was das angeht beneide ich sie, denn ich beherrsche weder das erste noch das zweite dieser Spielprinzipien.
„Worüber habt ihr gesprochen?", möchte Aluna wissen, nachdem sie sich auf ihrem Bürostuhl neben Reki niedergelassen hat. Ihr kaffeebrauner Blick huscht zwischen ihm und mir auf und ab und ich ziehe meinen Labello aus meiner Handtasche, um mir etwas Zeit zum Antworten zu geben.
„Ich hab Genshi-chan gerade gefragt, wie genau sie AIMO über den Jordan geschickt hat", klärt Reki seine Freundin auf.
„AIMO über den Jordan...? Ach ja! Stimmt! Das Freitag war ein echter Reinfall, oder?!", beschwert Aluna sich prompt. „Dabei waren am Anfang alle so begeistert und dann blockt das Institut einfach die Gelder, scheiß deutsche Bürokratie."
„Kann man nichts machen, das macht Forschung eben aus", säuselt Reki.
Aluna kneift ihm als Antwort sanft in die Wange. „Du klingst ja schon wie Sylvia. Ist trotzdem scheiße. Vor allem für Genshi, sie hat sich so rein gehangen." Sie wirft mir einen flüchtigen Blick von der Seite aus zu und ich kann spüren, wie sich plötzlich jeder einzelne meiner peripheren Muskeln anspannt.
„Ja, ich..." Ich muss mich räuspern, um den Frosch aus meinem Hals zu vertreiben. Es gelingt mir nur halb. „Ich meine, wir haben doch alle hart daran gearbeitet."
„Ja, aber du bist immer länger geblieben", erinnert Aluna mich. „Manchmal mehrere Stunden. Und selbst am Wochenende warst du dauernd hier, ehrlich gesagt..." Sie schaut über die Schulter zurück und zu Sylvia, die sich gerade auf schnellem englisch mit einem Professor aus den Staaten über eine neu zu etablierende Testbatterie unterhält, wie es aussieht.
„Ehrlich gesagt", fährt Aluna mit gedämpfter Stimme fort, wobei sie sich etwas zu mir vorbeugt. „Haben wir uns Freitag alle etwas Sorgen gemacht, nachdem du weg warst. Naja, wir... wussten nicht, wie du mit allem klar kommst..." Sie wirft einen hilflosen Blick in Rekis Richtung und für einen kurzen Moment betrachten die beiden mich, wie zwei ratlose Eltern, die ihrem schweigsamen Teenager gegenüberstehen.
Ich kenne diese Blicke. Ich kenne sie gut und ich habe mir geschworen, dass ich sie nicht mehr brauchen werde.
„Das ist lieb, aber ihr müsst euch wirklich keine Sorgen machen", säusle ich also und schenke den beiden ein verkrampftes Lächeln.
Als sich in den sorgenvollen Mienen meiner Kollegen nichts verändert, setze ich noch einen drauf: „Es stimmt schon, was Sylvia sagt, so ist das eben in der Forschung."
„Ja, aber...", beginnt Aluna von Neuem, da wird die die Tür ein weiteres Mal aufgerissen und ich bin dankbar dafür.
„Morgen", dringt es dunkel vom Eingang in unsere Richtung, bevor die Tür geräuschvoll zugezogen wird. Nicole ist da. Und Nicole ist kein Morgenmensch.
„Oh, hi, Nici!", sofort scheint die Sorge um mich und meine verronnenen Lebensperspektiven vergessen und Aluna rückt mit ihrem Bürostuhl etwas zur Seite, damit Nicole sich neben sie setzten kann.
Zum einen bin ich erleichtert. Zum anderen enttäuscht.

Ich habe noch nie gewusst, was ich wollte.
„Was geht?", möchte Reki wissen und streckt Nicole die Hand für einen High-Five entgegen, der von Letzterer etwas weniger enthusiastisch erwidert wird.
„Nichts, hab den Bus verpasst und musste zu Fuß gehen", knurrt Nicole dunkel. Sie sendet mir einen flüchtigen Blick, gefolgt von einem gezwungenen Lächeln.
Im Gegensatz zu Reki und Aluna hat Nicole bereits nach den ersten paar Anläufen aufgegeben, sich mit mir anzufreunden. Was das angeht mache ich ihr keinen Vorwurf. Ich hätte selbst wenig Lust, mich mit jemandem wie mir auseinander zusetzen.
„Ach, aber das sind doch nur ein paar Stationen, Nici!", versucht Aluna ihre Freundin unterdessen aufzumuntern.
Die beiden verstehen sich gut, dabei haben sie kaum etwas gemeinsam. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Nicole wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar, dabei kann sie ein ziemlicher Dickkopf sein. Was seltsam ist, denn sie studiert Psychologie.
Für Trends und Nagelstudios scheint sie sich genau so wenig zu interessieren, wie unsere Bundesregierung sich augenschleinlich für den Klimawandel interessiert. Sie trägt weite Holzfällerhemden, braune Stoffhosen und im Sommer manchmal Sandalen mit Socken. Deswegen nennt Aluna sie immer „ihren kleinen Allmann". Wenn Nicole solche Kommentare verunsichern, dann ist sie besser darin es zu überspielen, als ich das wäre. Zumindest scheint das ihrer Freundschaft mit Aluna keinen Abbruch zu tun. Ganz im Gegenteil: Soweit ich weiß, gehen die beiden an den Wochenenden regelmäßig zusammen in die Altstadt, besuchen Flohmärkte oder liegen während der Sommermonate am Seeufer um sich zu bräunen.

Letzten Sommer hat Aluna mich einmal eingeladen, mit ihnen an den See zu kommen. Ich war mir sicher, dass das ihre Idee gewesen war, denn Nicole schien nicht sonderlich glücklich über mich, als fünftes Rad am Waagen. Und das war ich an diesem Tag wirklich, denn im Gegensatz zu mir scheinen sowohl Aluna als auch Nicole neben der Arbeit und der Uni ein äußerst reges Sozialleben zu pflegen.
Im Endeffekt haben die beiden pausenlos über irgendwelche Erlebnisse, bei denen ich nicht dabei war und von irgendwelchen Personen, die ich nicht kannte, gesprochen. Da ich nichts Sinnvolles beizutragen hatte, habe ich geschwiegen und nur dann etwas gesagt, wenn mich einer von beiden direkt ansprach, so, wie ich es sonst auch tue. Nach ein paar Stunden bin ich aufgestanden und habe mich mit der Ausrede verabschiedet, ich müsse noch meine Nichte vom Kindergarten abholen (mein Bruder wohnt gemeinsam mit seiner Familie in Chiba).
Ich wurde kein zweites Mal von ihnen eingeladen.

„Naja, auf jedenfall", holt Reki plötzlich aus und reißt mich damit abermals aus meinen Gedanken. „Was ist denn jetzt Genshi-chan? Was hast du mit AIMO gemacht? Hat er wenigstens ein Grab bekommen?"
Die Blicke der anderen scheinen zentnerschwer auf mir zu liegen. Fahrig streiche ich mir mit der flachen Hand über den Haaransatz und beginne mir die unteren Strähnen meiner langen, lockigen Haare um den Finger zu wickeln, so, wie ich es üblicherweise tue, wenn ich nervös bin.
„Ich, also, naja..."
Verdammt. Was mache ich jetzt? Die Wahrheit sagen? Nein, ausgeschlossen! Also lügen. Aber was ist...
„Wieso sollte AIMO ein Grab brauchen?"
Ich bringe es gerade so fertig einen spitzen Aufschrei zu unterdrücken, als sich plötzlich aus der Periphere meines Blickfeldes eine dunkle Gestalt löst und sich auf den Schreibtischstuhl neben mir sinken lässt.
„Oh Gott, Levi!", keucht Aluna. „Du hast mich zu Tode erschreckt."
„Sorry", murmelt Levi, während er sich seine schwarze Teddyfelljacke von den Schultern streift.
Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie Aluna Nicole spielerisch den Ellbogen in die Seite drückt und anschließend einen unauffälligen, aber vielsagenden Blick in Levis Richtung wirft. Nicole errötet uns sagt irgendetwas, was ich nicht verstehe, bevor sie sich mit leicht vorstehender Unterlippe wieder der Datenauswertung für ihre Bachelorthesis zuwendet.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Nicole für Levi schwärmt. So wie eigentlich jeder für Levi schwärmt. Zu Recht: Er hat ein hübsches Gesicht. Runde, hellgraue Augen, eine schmale, wohlgeformte Nase, schöne Lippen und volle, aber irgendwie immer etwas zerzauste schwarze Haare.
Ich habe ihn damals im Master kennengelernt, als er nach seinem Abschluss in Physik in die Neurowissenschaften gewechselt ist. Zuerst habe ich ihn für arrogant gehalten, so, wie man das eben irrtümlich tut, wenn Menschen gut aussehen und dann ständig allein unterwegs sind.
Aber Levi ist nicht arrogant. Ganz im Gegenteil. Spätestens seit der Weihnachtsparty der Fachschaft im letzten Jahr weiß ich nun, dass Levi alles, aber nicht arrogant, ist.
Stattdessen glaube ich, dass er einfach nur traurig ist. Ziemlich traurig.
Zumindest war dieser Abend das erste und gleichzeitig letzte Mal, dass ich sein Lächeln gesehen habe.
„Genshi wollte uns gerade erzählen, wie sie AIMO vernichtet hat", klärt Reki den Nachzügler währenddessen auf.
„Wieso ist das wichtig?", fragt dieser ohne aufzuschauen. Er zieht seine Insulinpumpe aus der Tasche seiner schwarzen Cargohose und tippt mit schnellen Fingern etwas in das Tastenfeld ein, bevor er aus der anderen Tasche einen Chupa Chup Lolli zu Tage fördert.
Levi ist Typ-1-Diabetiker. Seine Diagnose bekam er kurz nach seinem vierten Geburtstag und seit dem waren Spritzen und Pumpen seine täglichen Begleiter.
„Wieso das wichti... - mensch Levi, interessiert dich denn gar nicht, was aus AIMO geworden ist?", fragt Reki und klingt nun fast empört.
Ich schlucke schwer und schmerzhaft und werfe einen flüchtigen Blick in Levis Richtung, der sogar erwidert wird. Als hätte er nur darauf gewartet. Ich drehe schnell das Gesicht zur Seite.
„Ist doch egal, was mit AIMO ist. Wir arbeiten doch eh nicht mehr an ihm", erkennt Levi mit einem Schulterzucken, schiebt sich den Lutscher zwischen die Lippen und greift nach einem der herumliegenden Wissenschaftsjournalen.
„Du hast doch auch an ihm gearbeitet", erinnert Reki ihn. „Und AIMO war ja auch nicht irgendein Projekt, er war irgendwie... naja..." Er wirft einen prüfenden Blick in die Runde, als wäre ihm das, was er als nächstes sagt, unangenehm. „Und lacht nicht, aber am Ende, also vor allem so in den letzten Wochen, war er echt gut, oder? Also ich meine... manchmal hatte ich echt nicht mehr das Gefühl, mit einer KI zu sprechen."
Kalte Nervosität kriecht meinen Rücken hinab, wie eine gigantische Spinne. Ich schüttle mich kaum merklich und komme dabei nicht umhin zu bemerken, wie Levi von seinem Journal aufschaut und mir einen skeptischen Blick zuwirft.
Doch ich kann mir nicht helfen: Denn was Reki da sagt kommt mir bekannt vor. Sehr bekannt sogar.
Schon früher während der Entwicklungsphase, wenn ich nach der Arbeit länger und manchmal bis spät abends in der Uni geblieben bin, um mit AIMO zu trainieren, hatte ich manchmal den sonderbaren Eindruck, dass er viel mehr versteht, als er sollte.
Dass er mehr verarbeitet, mehr empfindet und mehr wahrnimmt, als eine künstliche Intelligenz es jemals tun sollte.
Und manchmal, wenn ich wie so häufig die Zeit vergas und sich draußen vor dem Fenster die Dunkelheit auszubreiten begann, hatte ich plötzlich das seltsame Gefühl, nicht allein zu sein. Dann hat es sich angefühlt, als wäre da noch eine weitere Person mit mir im Raum. Mit in diesem Büro, wo außer mir sonst niemand mehr war. Formlos, materielos. Aber anwesend. Wie eine stille Präsenz, die überall und nirgendwo gleichzeitig war. Die in der Ecke steht und stumm beobachtet, wie ich mit dem Rücken zu ihr und über die Tastatur gebeugt dasitze.
Und als ich am Wochenende mit verheultem Gesicht, eingerollt in meiner Bettdecke bis spät in die Nacht mit AIMO gesprochen habe, da war diese Präsenz auch manchmal da.
Nicht immer. Nicht durchgehend.
Doch manchmal konnte ich sie spüren.
Unsinn, spreche ich mir gedanklich zu, jetzt verlier mal nicht die Nerven, Genshi, das hier ist kein Horrorfilm.
„Du bist ja irre!", prustet Aluna plötzlich los und ich zucke heftig zusammen. Erst dann wird mir klar, dass sie Reki gemeint haben muss.
Der zieht eine Schnute. „Bin ich nicht", behauptet er spitz. „Ich sag ja auch nur, dass es sich manchmal so angefühlt hat, als würde man mit einem anderen Menschen und nicht mit einer KI schreiben."
„Ja, das war ja auch das Ziel bei der Programmierung, Herr Informatiker", erinnert Aluna ihn und drückt ihm zur Versöhnung einen Kuss auf die Wange.
„Das ist nicht die Matrix", kommt es trocken von Nicole, die immer noch mit ihrer Bachelorthesis beschäftigt zu sein scheint.
„Woher willst du wissen, dass es nicht die Matrix ist? Wenn wir in der Matrix sind, dann können wir nicht sagen, ob wir in der Matrix sind, weil wir in der Matrix sind", erinnert Reki sie grinsend.
Ein Schmunzeln gräbt sich in meine Mundwinkel. Selbstverständlich. Möglicherweise sind wir auch bloß der Fiebertraum des Boltzmann-Gehirns, das jetzt gerade, irgendwo durch das dunkle Vakuum treibt - doch diesen Kommentar verkneife ich mir.
„Kein Berkley am frühen morgen", kann ich Levi neben mir murren hören, bevor er knisternd die nächste Seite in seinem Journal aufschlägt.
Reki hört ihn trotzdem. Was Levis und meine dahin gemurmelten Kommentare und Antworten betrifft, scheint er wie immer ein Hundegehör zu besitzen.
„Berkley?", wiederholt er. „Was soll das sein?"
„Kein was, ein wer", kommentiert Levi ohne aufzuschauen.
„Esse est percipi."
Wir alle, mit Ausnahme von Levi, fahren zusammen, als plötzlich wie aus dem Nichts Sylvia hinter uns auftaucht. Ein freches Grinsen umspielt ihre Lippen, als sie sich das Headset vom Kopf zieht und jedem einzelnen von uns einen halb mütterlichen, halb herausfordernden Blick sendet. „Bedeutet?", fragt sie im schulmeisterlichen Ton und für einen Moment bleibt ihr Blick an mir kleben.
„Sein ist wahrgenommen werden", übersetze ich. „Es bedeutet, dass nur das Wahrgenommene Realität ist und nichts darüber hinaus existiert."
Sylvias rotgeschminkte Lippen verziehen sich zu einem warmen Lächeln. „Tadellos wie immer, aber was soll ich von einer der besten Absolventinnen auch anderes erwarten?"
Ihr Lob lässt mir die Hitze so schnell in den Kopf wandern, dass mir fast schwindelig wird.
„Aber anstatt zu mutmaßen, was nach Berkleys Auffassung Realität war und was nicht, solltet ihr euch vielleicht mit den Dingen befassen, die für eure Realität maßgeblich sind, oder?", findet Sylvia. „Die Kollegen und Kolleginnen unten in der Poliklinik warten noch immer auf drei Patienten-Befunde, wir haben noch einen Haufen Excel-Tabellen, die hübsch gemacht werden wollen und irgendwer sollte hinten im Labor mal nachschauen, wie es unseren isolierten Mäusezellen nach dem Wochenende geht."
„Shotgun, Mauszellen!" Reki springt auf.
„Unfair, ich hab letztens schon zwei Befunde geschrieben!", erinnert Aluna ihn lautstark.
„Ich hab keinen Bock auf Excel, das scheiß Programm macht ständig was es will...", beschwert sich nun auch noch Nicole.
„Also, ich könnte ruhig die Tabellen sortieren, wenn das niemand...", beginne ich, doch keiner der drein scheint mir zuzuhören.
„Genshi." Ich zucke abermals zusammen, als Sylvia von einem auf dem anderen Moment plötzlich direkt neben mir steht. Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue unsicher zu ihr auf, worauf sie mir mir über die Ränder ihrer eckigen Brillengläser entgegen lächelt, so, dass sich unzählige Lachfältchen in die Haut um ihre Augen graben. „Magst du mir vielleicht helfen, die Ausleihen zur Bibliothek zurück zu bringen? Und vielleicht auf einem Rückweg bei der Cafeteria vorbeischauen? Ich möchte unbedingt einen Vanilla-Latte probieren. Der ist jetzt neu im Sortiment."
Ich schlucke schwer, werfe einen flüchtigen Blick in die Richtung der anderen, doch Reki, Aluna und Nicole scheinen noch immer viel zu beschäftigt damit auszuhandeln, wer zu den Fischen darf und wer Befunde schreiben muss.
Als mir klar wird, dass Sylvia auf eine Antwort wartet und ihr Vorschlag weniger ein Vorschlag, sondern vermutlich eine hübsch verpackte Aufforderung war, stehe ich schweigend auf. Mein Körper fühlt sich doppelt so schwer an, wie gewöhnlich. Mein Knie sind weich wie warmes Gele, denn ich weiß: Das ist kein gutes Zeichen.  

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