Pedro
Ich hatte mir vorher viele Gedanken um meinen ersten Tag an der Uni gemacht, hatte darüber nachgedacht, wie gut die anderen Studenten waren und wie ich mit möglichst wenig Lernaufwand möglichst viel erreichen würde. Ich hatte mir seitenweise unnützes Mediziner-Wissen zum Angeben aus dem Internet geholt. Irgendwie musste man sein Ego ja ein wenig aufpumpen.
Natürlich kamen Gurke und ich viel zu spät an der Uni an. Wir hatten zuvor noch einen Drittklässler vom Klettergerüst ins Sekretäriat verfrachtet, nachdem dieser von einer Zweitklässlerin von ebendiesem heruntergeschubst wurde. Ich vermutete einen verstauchten Knöchel.
Alle Erstsemester waren schon in die Hörsääle gepfercht worden, um grundlegende Informationen zum Ablauf unseres Studiums zu erhalten. Ich verabschiedete mich am geisteswissenschaftlichen Komplex von Gurke und rannte an der Mensa vorbei zu meiner medizinischen Fakultät. Nachdem ich den Saal gefunden hatte, schlich ich möglichst unauffällig die Treppenstufen der Zuschauerränge hinauf. Schweigend ließ ich mich auf den Platz zwischen einem Typen mit Pferdeschwanz und einer gelangweilten Blondine fallen.
Die Power-Point-Präsentation war nach dem Prinzip "weniger ist mehr" gestaltet, farblich beschränkten sich die Folien auf schwarz, weiß und ein elegant anmutendes dunkelblau. Genau siebenunddreißig Minuten nach meiner Ankunft, wie ich der digitalen Armbanduhr meines linken Sitznachbarns entnehmen konnte, gab der Beamer den Geist auf.
Ende im Gelände.
Die Dozentin rief mit ihrem Nokia den Hausmeister an, welcher aber anscheinend mit anderen Dingen beschäftigt war. Einige technikaffine Mitstudenten aus der ersten Reihe boten ihre Hilfe an.
Das konnte dauern.
Die Studenten um mich herum begannen zu murmeln. Rechts von mir saß ein Mädchen, dass nun ein grünes Nagellackfläschchen auspackte und mithilfe eines abgekauten Zahnstochers ein filigranes Blümchen auf ihren Daumennagel pinselte.
Der junge Mann links von mir starrte kurz ins Leere, fing sich dann wieder und gähnte ausgiebig. Während er mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand seinen kleinen Schnurrbart verzwirbelte, blätterte er mit der anderen Hand in dem Collegeblock herum, der vor ihm lag. Er griff sich einen Zettel, auf dem ein Songtext abgedruckt war. Blackstreet. "No Diggity".
"Das kann dann ja dauern", versuchte ich, mit ihm ein Gespräch zu beginnen.
"Hmhm", kam es von dem Schnurrbartzwirbler. "Und ich hatte gedacht, dass das dieses Jahr etwas schneller geht."
"Dieses Jahr?"
"Ist nicht mein erstes Studium." Er legte den Text zur Seite und nahm sich einen anderen Zettel. Daft Punk. "Harder, Better, Faster, Stronger." Sehr anspruchsvolle Lyrics.
"Sondern das wie vielte?"
"Drittes." Er lachte kurz und schaute mich zum ersten Mal richtig an. "Mittlerweile bezweifle ich, dass das etwas wird. Hab zwar bisher immer nur auf der Warteliste für das hier gestanden, aber irgendwann hast du auch einfach keinen Bock mehr drauf, obwohl du die ganze Zeit lang darauf gewartet hast, weisste? Bist du frisch von der Schule oder hast du auch schon 'ne Ausbildung hinter dir?"
"Schule."
Er musterte mich kurz. "Siehst älter aus."
"Ist das positiv gemeint?"
Er lachte wieder. Der Schnurrbart wippte dabei bei jeder Kopfbewegung hin und her. "Wie du es sehen willst."
Das war also meine erste Bekanntschaft an der Uni. Ein frustrierter Dauerstudent. Aber er wirkte nett. Und nicht so 08/15. Das Gesicht würde ich überall wiedererkennen. "Wie heißt du?"
"Pedro." Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Aus seinem Collegeblock hing ein Brief von der Uni, der an einen "Herrn Simon Peters" gerichtet war. Pedro also?
"Ich bin Eduard. Nenn' mich Eddie, wenn du willst." Ich warf nochmal einen kurzen Blick auf den Brief der aus dem Block hing. "Pedro klingt spanisch."
"Ah sí." Er lachte. "Ich finde, der Name hat was, nicht? Pedrrro. Warst du schonmal in der Bar?"
"Welche Bar?"
"Die Bar halt. Die Bar heißt 'die Bar', weisste? Ist ein cooler Laden, ich lege da regelmäßig auf." Er nahm sich den Collegeblock und zog eine Visitenkarte zwischen den Seiten hervor. "Hier. Wir haben jetzt sogar ein Kärtchen, wir sind jetzt seriös im Geschäft. Ich sag' dir, der Laden is' auf dem besten Weg, Trend zu werden."
"Ich kann mal vorbeikommen."
"Tu das. Sind immer richtig coole Leute da. Du siehst so aus, als wärst du neu hier in der Stadt. Kennst du schon ein paar Leute hier?" Interessanterweise lag da etwas Fürsorgliches in seinem Blick. Wollte er so etwas wie mein "Uni-Pate" werden? Mich ein wenig unter seine Fittiche nehmen?
"Ein paar Leute, aber nicht besonders viele. Ich würd' mich aber riesig freuen, deine Leute kennenzulernen."
Plötzlich flackerte das Bild an der Wand auf, was von der gesamten Studentenschaft mit einem lauten "Ahhh" kommentiert wurde. Die Dozentin fuhr fort, als ob nichts gewesen wäre. Nächster Punkt auf der Agenda: Zentrale Prüfungen.
Während ich mir einige Termine notierte, studierte Pedro ausgiebig etwas, dass nach dem Vorstellungsplan des örtlichen Theaters aussah. "Kann ich mir nachher deine Notizen abfotografieren?", fragte er irgendwann. Schnorrer.
"Geht klar." Auf den Beginn einer langen Freundschaft.
~~ ~
Nach der Info-Veranstaltung gingen Pedro und ich in die Mensa. Wir waren etwas früher als geplant herausgelassen worden, weswegen ich vermutete, dass Gurke noch nicht da war.
Da der Schnorrer die alte Fatiha von der Ausgabe kannte, bekamen wir eine besonders große Portion Pudding. Das Zeug ist göttlich und Fatiha absolut heilig. Wann immer ich sie heute noch sehe, gebe ich ihr einen Kaffee aus. Wir aßen in Pedros Lieblings-Nische, von der aus wir einen guten Blick auf den Eingang und die Essensausgabe hatten. Von Gurke fehlte jede Spur.
"Das da sind vermutlich die Juristen", sagte er und zeigte auf ein elegant gekleidetes Grüppchen, das aus drei jungen Frauen und einem Typen in weißem Hemd bestand. Um den Hals hatten sich zwei der Mädchen karierte Schals gewickelt, die mich an Tischdecken erinnerten. Die Mädchen trugen Handtaschen, die Antonia mir auf unseren Streifzügen durch die Fußgängerzone in den Schaufenstern gezeigt hatte. Anscheinend war der Inhalt der Tasche ziemlich schwer, die Griffe waren gespannt. Gesetzesbücher? Gut möglich. "Und das da sind...", begann Pedro, während er auf das nächste Grüppchen zeigte, das den Saal betrat.
Zwei Typen. Blasse Haut. Kapuzenpullis. Augenringe, so groß wie Untertassen. Einer trug einen Rucksack, der andere einen Jutebeutel. "Informatiker?"
"Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte mein Klischee-Radar dasselbe gesagt. Aber nein. Ich kenne die beiden. Robin und Gerrit." Pedro winkte den Neuankömmlingen zu. Sie lächelten zurück. "Kunst, drittes Semester. Robin hat seit neustem 'ne Vorliebe für Monet, Cézanne und die restlichen Franzmänner."
Ich verschluckte mich fast an meiner veganen Bolognese.
~ ~ ~
Nachdem Pedro und ich unser Mahl beendet hatten, war Gurke noch immer nicht aufgekreuzt. Mein Versuch, ihn auf seinem Handy zu erreichen, schlug fehl.
"Sie sind verbunden mit der Mailbox von...", ertönte die automatische Ansage. Ein leises Röcheln war am anderen Ende der Leitung zu hören. "Deinem Vater", sprach eine gedämpfte Männerstimme. Gurke schaute eindeutig zu viel Star Wars.
"Dein Vater hat Humor", meinte Pedro schmunzelnd. Ich zuckte zurück, da mir gar nicht aufgefallen war, dass er mitgehört hatte.
"Ist nicht mein Vater", lachte ich. "Ist nur Gurke."
"Gurke?"
"Ja ja, der gute, alte Gurke. Der wohnt bei mir und studiert hier Geschichte. Eigentlich wollten wir uns hier treffen, aber er ist noch nicht da."
~ ~ ~
Während der halben Stunde, die wir daraufhin noch in der Mensa saßen, stellte Pedro mir noch gefühlt die Hälfte seiner Freunde und Bekanntschaften mit Namen, Studienfach und Marotten vor. Zu jedem dritten Studenten, der den Saal betrat, hatte er irgendwetwas zu erzählen. Samira, die oft einen Mittagsschlaf in der Bibliothek hält. Tim, der im Kino arbeitet und nebenbei einen Blog über Filmrezensionen schreibt. Jana und Thomas, die letzten Sommer geheiratet haben und irgendwann eine gemeinsame Zahnarztpraxis eröffnen wollen. Was Klatsch und Tratsch anging, war Pedro auf dem neusten Stand.
Kurz bevor wir zur nächsten Vorlesung gehen wollten, sah ich ein mir nur allzu bekanntes Gemüse in die Mensa kommen. Ich winkte ihm zu.
"Darf ich vorstellen: Pedro, das ist Gurke, der mit den Guppies. Gurke, das ist Pedro. Keiner kennt die Uni so gut wie er."
Gurke zwang sich zu einem Lächeln und legte sein Mittagessen auf dem Tisch ab. "Hey."
"Hey."
Betretenes Schweigen.
Pedro lud uns nochmal in seine "Bar" ein und lieferte noch drei Wegbeschreibungen ab.
Gurke wirkte ungewohnt schweigsam.
"Was ist los, Junge?", wollte ich wissen.
"Was glaubst du, wen ich getroffen hab'?" Gurkes trauriges Grinsen sprach Bände.
Pedro lachte. "Habe ich Recht, wenn es hier um eine 'sie' geht?"
Jawohl.
Gurke erzählte die gesamte Geschichte von Valentinstag über Guppymord bis hin zu der Begegnung, die sich gerade eben am Pfandflaschenautomaten zugetragen hatte. Obwohl sie nicht hier studierte, hatte Gurkes Freundin auf dem Weg in die Innenstadt einige Flaschen am uni-internen Pfandflaschenautomaten abgegeben und war dabei geradewegs meinem Freund in die Arme gelaufen. Sie vermisste ihn. Es wäre so ruhig in der Wohnung, so aufgeräumt, so langweilig. Sie hätte wohl überreagiert. Gurke war nun ratlos.
Appetitlos hackte er immer weiter in seinem Pudding herum.
"Ich mag sie immernoch nicht", gab ich zu und nahm mir ein wenig von Gurkes gutem Pudding. "Wieso bist du weggezogen? Du wirst ihr doch nicht wieder hinterherrennen? Das wird doch immer so weitergehen wie bisher."
Gurke zuckte die Schultern.
Wir einigten uns darauf, die Dinge erstmal ruhen zu lassen und uns nach den ganzen Pflichtveranstaltungen an der Uni einen schönen Abend in Pedros Bar zu machen. Irgendwann würde Gurke schon auf andere Gedanken kommen. Ob diese Gedanken besser waren, lasse ich hier mal so stehen.
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