^ kapitel 71 : nicht das ende ^
Mara saß noch immer am Ende des Stegs, den Blick auf das leise plätschernde Wasser gerichtet, während sie gedankenverloren die kühle Flasche Bier in ihrer Hand drehte. Der Abend hatte sich längst in die Nacht verwandelt, und die Dunkelheit umhüllte die Welt um sie herum wie eine schwere Decke, die sie von der Realität abgrenzte. Die Stille, die sie umgab, war beinahe tröstlich, als ob sie in diesem Moment allein mit ihren Gedanken sein musste, um sich selbst zu verstehen.
Plötzlich durchbrach das schrille Klingeln ihres Handys die Stille, und Mara zuckte leicht zusammen. Der Klang riss sie aus ihrer Trance, zurück in die Gegenwart. Mit einem Seufzen zog sie das Telefon aus der Tasche ihrer Jacke, warf einen schnellen Blick auf das Display und nahm ohne Zögern ab. „Shadow", sagte sie knapp in den Hörer, ihre Stimme ruhig, fast emotionslos, so wie es ihre Natur war, wenn sie sich auf das Unvermeidliche vorbereitete. Auf der anderen Seite war zunächst nichts als ein leises Rauschen zu hören, das sich wie ein unheilvolles Echo in ihren Ohren festsetzte. Die Zeit schien in diesem Moment stillzustehen, und Maras Herzschlag beschleunigte sich, während sie auf eine Antwort wartete. Doch das Rauschen hielt an, als ob die Person am anderen Ende unsicher oder vielleicht zögerlich war.
Mara, die sonst für ihre unerschütterliche Geduld bekannt war, spürte, wie ihre Anspannung wuchs, eine Mischung aus Ungeduld und einer wachsenden, undefinierbaren Furcht. Sie zog die Stirn kraus, ihre Augen verengten sich, als sie die Stille nicht länger ertrug. „Entweder Sie sagen jetzt was und hören auf, eine russische Beerdigung zu stören, oder..." Ihre Stimme war fest, beinahe schneidend, als sie begann, ihrer aufkeimenden Frustration Ausdruck zu verleihen. Doch bevor sie den Satz vollenden konnte, hörte sie plötzlich eine Stimme am anderen Ende, die ihr das Herz für einen schrecklichen Moment stocken ließ.
„Russische Beerdigung?" Die Stimme war tief, vertraut und doch so unerwartet, dass Mara für einen Augenblick die Fassung verlor. Sie hatte diese Stimme seit fünf langen Jahren nicht mehr gehört, aber sie hätte sie überall erkannt. Ein Name entglitt ihren Lippen, bevor sie ihn zurückhalten konnte: „Jeromé." Es war mehr ein Flüstern als eine ausgesprochene Antwort, durchzogen von einer Mischung aus Schock, Schmerz und Unglauben. Die Welt um sie herum schien plötzlich in eisiger Stille zu erstarren, und sie fühlte, wie ihr das Blut in den Adern zu gefrieren schien.
Neben ihr verharrten auch Tilly und Jo in stummer Überraschung, ihre Augen weit aufgerissen, als sie den Namen hörten, der wie ein Phantom aus der Vergangenheit auftauchte. Jo war die Erste, die die Starre durchbrach. „Dad?", fragte sie mit einer Stimme, die vor einer Mischung aus Hoffnung und Verwirrung zitterte. Mara spürte den fragenden Blick ihrer Tochter auf sich ruhen, während Tilly, als wäre sie in einem Reflex gefangen, eine stützende Hand auf Maras Schulter legte, als wolle sie sie vor dem, was nun folgen könnte, bewahren.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, als ob die Welt den Atem anhielt, während Maras Gedanken in einem chaotischen Strudel aus Erinnerungen und Emotionen gefangen waren. „Jeromé", sagte sie erneut, diesmal mit einer Stimme, die an Stärke gewann, obwohl ihre Hand, die das Telefon hielt, leicht zitterte. „Wo bist du?" Die Worte verließen ihre Lippen schneller und drängender, als ob das Aussprechen der Frage die surreale Situation in eine greifbare Realität verwandeln könnte.
„Mara...", begann die Stimme am anderen Ende, und in diesem Moment fühlte Mara, wie sich ihre Kehle schmerzhaft zuschnürte. „Was meinst du mit russischer Beerdigung?" Die Worte klangen seltsam fern und doch so nahe, als ob sie direkt in ihrem Kopf widerhallten. Maras Gedanken rasten, die Bedeutung seiner Frage wollte ihr nicht einleuchten. „Fünf Jahre", flüsterte sie schließlich, unfähig, den Schock und die aufkommende Verzweiflung zu verbergen. „Fünf Jahre..." Ihre Stimme brach fast, aber sie zwang sich, nicht die Kontrolle zu verlieren. Dies war nicht der Moment für Schwäche.
„Mara", wiederholte Jeromé, diesmal dringlicher. „Was meinst du mit russischer Beerdigung... rede." Jo und Tilly starrten Mara an, ihre Augen voller Fragen, voller Unsicherheit. Sie suchten nach Antworten, nach Erklärungen, nach einem Weg, das Unfassbare zu verstehen. Mara fühlte den Schmerz und die Verwirrung in den Blicken ihrer Tochter und ihrer Freundin, und sie wusste, dass sie etwas sagen musste. Aber was? Wie konnte sie erklären, was gerade passierte, wenn sie selbst es kaum begreifen konnte? Sie atmete tief durch, bevor sie schließlich mit erstickter Stimme sprach: „Nat ist tot." Es waren einfache Worte, doch sie trugen die Last einer ganzen Welt. Auf der anderen Seite der Leitung herrschte absolute Stille, als ob die Schwere ihrer Worte durch den Äther direkt in Jeromés Herz getroffen hätte.
„Króschka, was ist denn los?", hörte Mara plötzlich Pietros vertraute Stimme aus dem Hörer dringen. Sein sonst so fester Tonfall klang jetzt ungewohnt weich, ein Hauch von Sorge und Verwirrung schwang mit. Es war, als hätte er durch die Leitungen gespürt, dass etwas nicht stimmte, dass sich ein Schatten über sie legte. Mara öffnete den Mund, um zu antworten, um ihn zu beruhigen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Bevor sie einen Laut hervorbringen konnte, drang eine andere Stimme durch die Leitung, leise, fast ungläubig, aber dennoch voller unausgesprochener Tragik.
„Meine Schwester... meine Schwester ist tot", flüsterte Jeromé, seine Stimme zitterte kaum merklich, als könnte er es selbst nicht glauben, was er da sagte. Die Worte hingen schwer in der Luft, jeder einzelne von ihnen fühlte sich an wie ein Dolchstoß, der sich tief in Maras Brust bohrte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, während sie versuchte, das Gehörte zu begreifen, doch bevor sie reagieren konnte, wurde die Verbindung plötzlich unterbrochen. Ein leises Klicken, fast unscheinbar, markierte das Ende des Gesprächs. In der Stille, die darauf folgte, fühlte es sich an, als wäre die Welt für einen Moment aufgehört zu existieren. Die Ohrenbetäubende Stille war alles, was blieb. Kein Atmen, kein Rascheln, nichts. Maras Gedanken wirbelten, doch alles war durcheinander. Sie spürte, wie ihre Kehle trocken wurde, die Worte, die sie eben noch hatte sagen wollen, schienen nun weit entfernt, verloren in einem Strudel aus Schmerz und Ungläubigkeit.
Dann, wie aus dem Nichts, durchbrach ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille. Es war wie ein Donnerschlag, gefolgt von einer Reihe gewaltiger Explosionen. Der Boden unter ihren Füßen begann zu beben, die Luft füllte sich mit einem dröhnenden Lärm, als eine Serie von Raketen mit zerstörerischer Kraft einschlug. Der Stützpunkt, der eben noch sicher und stabil erschien, wurde von den gewaltigen Detonationen zerfetzt, als ob eine unsichtbare Hand ihn mit unbarmherziger Gewalt zerschmetterte.
Alles um sie herum löste sich in Chaos auf. Metall kreischte, Wände zerbarsten, und der Boden unter ihnen begann zu sinken, als ob die Erde sie verschlingen wollte. Steck, der eben noch neben ihr gestanden hatte, verschwand in einer Wolke aus Rauch und Trümmern, und Mara fühlte, wie sie in die Dunkelheit gezogen wurde. Die jungen Frauen flogen durch die Luft. Alles wurde schwarz, als die Welt um sie herum unterging, und Mara spürte, wie die Kälte der Dunkelheit sie erfasste, sie einsog, bis nichts mehr blieb außer dem ohrenbetäubenden Dröhnen des Nichts.
Mara erwachte allmählich aus der Finsternis, als ob sie sich durch dichte, schwarze Nebelschichten zurück ins Bewusstsein kämpfen musste. Ihre Augenlider fühlten sich schwer an, wie Blei, und das dumpfe Pochen in ihrem Kopf machte es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein schrilles Summen hallte in ihren Ohren nach, wie das Echo der Explosionen, die sie in die Dunkelheit gerissen hatten. Mühsam öffnete sie die Augen, doch alles, was sie sah, war verschwommen und dunkel.
Ein stechender Schmerz schoss plötzlich durch ihre Seite und ließ sie scharf nach Luft schnappen. Sie spürte, wie sich etwas Kaltes, Metallisches in ihr Fleisch gebohrt hatte, und als sie vorsichtig ihre Hand dorthin führte, fühlte sie das glatte, harte Material eines Splitters oder vielleicht eines Metallstücks, das sich tief in ihre Seite gebohrt hatte. Das Gefühl, als ob tausend Nadeln gleichzeitig in ihre Haut gestochen wurden, ließ sie beinahe ohnmächtig werden. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Die Dunkelheit um sie herum begann sich allmählich zu lichten, und sie erkannte, dass sie in einer Art Grube oder Senke lag. Über ihr war der Himmel nicht mehr zu sehen, nur die rauchenden Überreste des Stützpunkts, durch die vereinzelte Funken flogen. Es roch nach verbranntem Metall, nach Schutt und Zerstörung. Ein dumpfes Gurgeln drang an ihre Ohren, und als sie sich langsam aufsetzte, bemerkte sie, dass der Boden unter ihr feucht war. Eine kalte, träge Flüssigkeit sickerte in ihre Kleidung, und ein unangenehmer Schauer lief ihr über den Rücken.
Das Wasser. Es füllte den Raum, in dem sie sich befand, langsam aber stetig. Sie blickte um sich, die Verzweiflung in ihrem Inneren wuchs mit jedem Moment. Der See, dachte sie, das Wasser muss vom See kommen. Der Boden hatte nachgegeben, und nun drang das Wasser unaufhaltsam in den Raum ein. Wenn sie nichts unternahm, würde sie ertrinken. Panik begann in ihr aufzusteigen, als sie versuchte, sich zu orientieren, einen Weg hinaus zu finden.
Doch alles, was sie sah, waren Trümmer und dunkle Schatten. Von Tilly, Thalia oder Jo war keine Spur. Die Stille, die nach den Explosionen über den Ort gelegt worden war, machte es noch schwerer, sich zu konzentrieren. „Tilly! Thalia! Jo!", rief sie, ihre Stimme klang hohl und schwach in der weiten Leere um sie herum. Kein Antwort. Nichts außer dem unheimlichen Echo ihrer eigenen Stimme und dem bedrohlichen Gurgeln des Wassers, das nun bis zu ihren Knien reichte.
Verzweifelt versuchte sie, sich hochzuziehen, ihre Muskeln zitterten vor Anstrengung und Schmerz, doch der stechende Schmerz in ihrer Seite hinderte sie daran, sich frei zu bewegen. „Das darf nicht das Ende sein", dachte sie, Tränen der Frustration und Angst stiegen ihr in die Augen. Mit aller Kraft, die sie noch in sich sammeln konnte, zwang sie sich, weiterzukämpfen, einen Ausweg aus dieser Hölle zu finden. Aber die Dunkelheit, die Kälte des Wassers und die erdrückende Stille drohten, ihre letzte Hoffnung zu ersticken.
Mara wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. Mit zitternden Händen und unter schrecklichen Schmerzen schob sie die Trümmer von sich weg, Stein für Stein, Splitter für Splitter. Jeder Atemzug war eine Qual, doch der Gedanke daran, lebendig begraben zu werden, trieb sie unerbittlich voran. Das Wasser stieg unaufhaltsam an, inzwischen bis zu ihrer Hüfte, und sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Ihre Finger waren blutig und taub, doch sie grub weiter, bis sie schließlich ein kleines Loch in den Schutt bohren konnte, gerade groß genug, um eine Hand hindurchzustecken.
Mit der letzten Kraft, die sie in sich sammeln konnte, streckte sie ihre Hand durch das Loch und rief um Hilfe. „Hilfe! Bitte! Ist da jemand?" Ihre Stimme klang schwach und rau, fast ein Flüstern in der gespenstischen Stille um sie herum. Für einen Moment schien es, als würde niemand kommen, als hätte die Welt sie endgültig verlassen. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges.
Plötzlich begann sich die Luft um sie herum zu verändern. Ein seltsamer, schwarzer Nebel schlich sich leise durch die Ritzen und Lücken im Geröll, wie ein lebendiges Wesen, das neugierig seine Umgebung erkundet. Der Nebel war dicht und unnatürlich, und als er sich um die Trümmer schlängelte, begann sich das Geröll, das sie gefangen hielt, auf geheimnisvolle Weise zu bewegen. Die Steine, die eben noch so schwer und unbeweglich schienen, hoben sich wie von unsichtbaren Händen getragen in die Luft. Mara starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was sich vor ihr abspielte, unfähig zu begreifen, was sie sah.
Dann, durch die Dunkelheit des Nebels, erkannte sie eine Gestalt. Jo trat aus dem Schwarz hervor, ihre Augen leuchteten in einem unheimlichen, tiefen Rot. In ihren Händen sammelte sich der Nebel, als würde er direkt aus ihren Fingerspitzen hervorkommen. Es war, als hätte sie die Kontrolle über dieses unheilvolle Element, als wäre es ein Teil von ihr. Auf ihrer Stirn leuchtete ein roter Stein, pulsierend und lebendig, als wäre er der Ursprung der Macht, die Jo nun beherrschte. Mara konnte ihren Blick nicht von diesem seltsamen Zeichen lösen, das unnatürlich hell in der Finsternis glühte.
„Jo...", flüsterte Mara schwach, unfähig, mehr als das auszusprechen. Ihre Stimme war ein kaum vernehmbares Echo in der unheimlichen Stille. Neben Jo tauchte eine weitere Gestalt auf, und Mara erstarrte vor Schock. Thalia stand da, aber sie war nicht mehr die Thalia, die Mara gekannt hatte. Die rechte Hälfte ihres Gesichts war vernarbt, die Haut verfault und von dunklen Flecken durchzogen. Es war, als hätte etwas Unvorstellbares sie gezeichnet, als hätte sie den Tod berührt und wäre doch zurückgekehrt, aber auf eine schreckliche Weise verändert. Ihr gesundes Auge blickte Mara an, voller Schmerz und Trauer, während das andere von einer leblosen Dunkelheit verschluckt war. Mara spürte eine Kälte, die tiefer ging als der Schmerz in ihrer Seite, eine Kälte, die ihr Herz umklammerte, als sie realisierte, wie sehr sich alles verändert hatte.
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