Dunkle Göttlichkeit I
Dinge, von denen Val nie erwartet hatte, dass er sie mal erleben würde: in einem doppelten Boden in die Oberstadt geschmuggelt zu werden.
Kaiton lag halb auf ihm, halb neben ihn gequetscht. Vollkommen ruhig. Sogar seine Atmung hatte er verlangsamt. Anfangs hatte noch das leichte Glühen seines Auges die Dunkelheit durchbrochen, aber dann hatte er eine Hand gehoben und es verdeckt.
Über dem Holz auf ihnen saßen Frauen aus Lidras Etablissement. Einige tippelten unruhig mit den Füßen, andere scharrten leicht mit den Sohlen.
Gäbe es nicht diese Geräusche gepaart mit dem Knarzen der Räder und dem Pfeifen des Motors, hätte er glauben können, er wäre in einem Sarg. Bei jedem zu tiefen Atemzug spürte er Druck auf seinem Oberkörper.
»Haltet ein«, ertönte eine Stimme außerhalb und der Wagen kam zum Stillstand. »Der Zugang zur Oberstadt ist jedem untersagt.«
»Wisst Ihr überhaupt, mit wem Ihr sprecht?«, fragte Lidra. »Meine Mädchen wurden gebucht und der Kunde ist sicherlich nicht glücklich darüber, wenn Ihr uns nicht einlasst.«
Im Vorfeld hatte Kaiton ihr gesagt, dass sie unter keinen Umständen lügen durfte. Der Metallmann, der die Brücke bewachte, würde jede Lüge mit dem sofortigen Tod bestrafen.
»Wer ist Euer Kunde?«, fragte die Wache.
»In meinem Geschäft gibt es eine Vorliebe für Verschwiegenheit«, erwiderte Lidra. »Ich kann Euch nur so viel sagen: Er entstammt einer sehr mächtigen Familie und wenn ich heute Abend nicht in die Oberstadt gelange, dann wird er wissen wollen, wer mich aufgehalten hat. Und glaubt mir, er wird herausfinden, dass Ihr derjenige wart, und Euch unter seinem Stiefel zermahlen.«
Stille antwortete ihr. Stille, die sich in der Dunkelheit zu bedrohlichen Höhen erhob und Val wie ein Gewicht auf den Brustkorb drückte.
»Öffnet den Wagen, damit ich sehen kann, was darin enthalten ist«, sagte die Wache.
Die Scharniere quietschten, als sich die Tür aufschob. Einige der jungen Frauen lachten verlegen. Dann erneutes Quietschen.
»In Ordnung«, sagte die Wache. »Ihr dürft eintreten.«
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und ruckelte auf dem Kopfsteinpflaster der Brücke. Val entließ einen Atemzug.
Die erste Hürde hatten sie überwunden. Die erste von vielen.
Der Wagen stoppte abrupt. »Sapperlot«, kam von Lidra. Es dauerte einen weiteren Augenblick, bevor die Räder sich wieder bewegten. Diesmal fuhren sie eine Weile, ehe sie erneut zum Stillstand kamen.
Schritte erklangen über ihnen und ein wenig Licht drang in das Innere des Sarges, als der Teppich über dem Boden weggerollt wurde.
Die Luke öffnete sich.
»Tadaa«, sagte Lidra zwar leise, machte aber eine ausladende Handbewegung.
Zuerst schob sich Kaiton aus der Luke. Val folgte ihm, doch er stieß mit den Schultern gegen die Ränder und musste sich an den Sitzbänken hinausziehen.
In dem Inneren des Wagens konnte er kaum aufrecht stehen. Er schob sich an Lidra vorbei, die ihm nur einen finsteren Blick zuwarf, und trat ins Freie.
Er stockte, als er die Umgebung sah und kannte nun den Ursprung von Lidras vorherigem Ausruf. Bei seinem letzten Besuch in der Oberstadt hatte die Natur gesprossen. Pflanzen hatten der Welt Farbe gegeben. Doch nun schauten die Köpfe der Blumen traurig gen Boden. Jedes Blatt an den Bäumen war hinabgefallen und hinterließ nur ein hölzernes Gerippe.
»Was ist hier passiert?«, hauchte Val.
»Aetherion isst Leben«, antwortete Kaiton nüchtern. »Da er durch uns seine Hauptenergiequelle verloren hat, sucht er sich andere Opfer.«
Val schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Das bedeutete, dass ihre Zeit ablief. Wenn er schon darauf zurückgegriffen hatte, das Leben aus den Pflanzen zu ziehen, wie lang würde er dann brauchen, bis er seine Arme erneut nach Menschen ausstreckte – und diesmal nach den Bewohnern der Stadt?
Sie mussten es beenden. In dieser Nacht.
Er hatte es nicht ausgesprochen, doch als er zu Kaiton sah, nickte dieser ihm zu.
Bevor sie aber in Richtung des Palastes aufbrachen, hielt Lidra sie auf. »Ihr wollt einfach so gehen?«, fragte sie. »Ich habe so viel auf mich genommen und da bekomme ich von Euch nicht einmal einen Vorgeschmack darauf, was Ihr mir versprochen habt.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Kaiton an.
Dieser meinte nur: »Nein.« Und er ging los.
Val nickte ihr zum Abschied zu und folgte ihm dann. Würde sie Kaiton nicht zu etwas zwingen, das er nicht wollte, hätte sie vielleicht eine ganz angenehme Zeitgenossin sein können.
Lidra versuchte nicht noch einmal, sie aufzuhalten.
In der Oberstadt bewegte sich abseits von ihnen niemand. Kein Mensch kreuzte ihren Weg, kein Licht schien hinter den Fenstern. Nur Laternen erhellten den Weg und in einiger Ferne summte ein Generator.
Sie fanden sich in dem Garten wieder, doch diesmal hatte er nichts Schönes oder gar Romantisches mehr an sich. Die Gräser neigten sich grau-braun zu Boden oder waren plattgetreten. Die kahlen Äste der Bäume und Sträucher streckten hilfesuchend den Neuankömmlingen ihre hageren Finger entgegen.
Das Fenster, durch das sie letztes Mal eingestiegen waren, war nun mit einer Metallplatte verschlossen. Das daneben, das in den Flur führte, jedoch nicht.
Kaiton streckte die Arme nach ihm aus.
Val schloss ihn in eine Umarmung, obwohl er genau wusste, dass Kaiton nicht dies im Sinn hatte. »Ungeachtet, was da drinnen passiert«, flüsterte er, »ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe, und ich werde dich niemals vergessen.«
»Das klingt so sehr nach Abschied«, sagte Kaiton und schloss seine Arme fester um Val.
»Wir wissen nicht, was dort auf uns wartet, ob wir Aetherion überhaupt besiegen können und ... was danach geschieht.«
»Es wird schon alles gut werden.« Kaitons ruhige Stimme verriet die Lüge nicht. »Es wird schon alles gut werden.«
Val drückte ihn noch einmal fest an sich, ehe er ihn aus der Umarmung entließ und ihm ein mattes Lächeln schenkte. Ein Arm lag weiterhin um dessen Taille.
Er hob seine knöcherne Hand und der Haken schoss heraus. Sofort fand er sein Ziel. Glas splitterte und sie flogen auf das Fenster zu.
Val bekam den Sims zu fassen und half Kaiton in die Residenz, ehe er selbst hineinkletterte. Er lauschte. Stille.
Wenn jemand ihr Eindringen bemerkt hatte, dann schlug er keinen Alarm. Aber trotzdem durften sie nicht verweilen.
Val deutete Kaiton an, ihm zu folgen. Dank Matthew wusste er, wo das Kontrollzentrum von Aetherion zu finden war.
Der Flur hüllte sich in Dunkelheit. Der Mond versteckte sich in dieser Nacht hinter dichten, finsteren Wolken.
Vals Schritte hallten von den Wänden wider, so sehr er auch versuchte, das Geräusch zu dämmen. Kaiton hingegen bewegte sich fast lautlos. Nur sein Mantel raschelte leise über den Boden.
Vorsichtig öffnete Val eine Tür, hinter der sich der Korridor weiter erstreckte. Ein Geländer grenzte sie von dem Senatssaal ab. Dort hielt sich Aetherion auf.
Das stählerne Gebilde schwebte über dem Tisch, seine Lichter starrten dunkel in die Leere und die Uhr in seinem Inneren war freigelegt. Sie schlug nicht mehr normal, jede Sekunde verweilte zweifach, manchmal dreifach.
Um ihn herum sammelten sich Körper und Körperteile. Blutig auf den Stühlen an der Senatorentafel und auf dem vormals weißen Marmor verteilt. Unter ihnen Senatoren und Diener gleichermaßen.
Aetherion hatte jeden verschlungen, der sich in seine Nähe gewagt hatte.
Hoffentlich hatte ihn die Zerstörung der Lagerhalle mehr geschwächt, als dass sie ihn gefährlicher gemacht hatte.
Sie schlichen weiter. Vals Atmung hallte unnatürlich laut in seinen Ohren. Er öffnete die Tür am anderen Ende des Korridors. Hier sollte sich Aetherions Kontrollzelle befinden. Matthew hatte es nie so weit geschafft.
Rohre nahmen den meisten Platz ein. Dampf drang aus einigen von ihnen und erhitzten den Raum, wie einen Ofen. Zwischen ihnen knoteten sich Schläuche ineinander, doch auch sie waren löcherig. In den Ecken ratterten Zahnräder und eine Glasscheibe trennte den Raum von dem Senatssaal. Und vor dieser Glasscheibe – ein Steuerpult mit tausenden Knöpfen. Einige von ihnen blinkten rot auf, andere waren bereits zerschmettert.
Val trat hinein, obwohl ihm schon draußen Schweiß auf der Stirn gestanden hatte. Alarm schrillte in seinen Ohren. Helle Sirenen schrien so laut, dass sie ihm drohten, sein Trommelfell zu zerbersten.
Es surrte. Weißes Licht füllte den Raum an, so grell, dass er eine Hand über seine Augen heben musste.
Hinter der Glasscheibe ertönte ein Rattern, metallisches Klirren. Tausende Lichter, Augen Aetherions, schienen auf sie nieder. Aus seinem Inneren brachen Arme hervor.
»Scheiße«, kam von Val, ehe ein Klirren sich in seine Ohren bohrte. Scherben schnitten sich in seine Wangen und etwas riss ihn von den Füßen.
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