Der Geruch von Frühling
Ein Geräusch holte Val von der Schwelle des Schlafes zurück. Er öffnete die Lider gerade so weit, dass er die Umrisse der Gestalt sah, die das Zimmer betrat.
»Val?« Unverkennbar Kaiton. »Schläfst du schon?«
Er brummte, wusste aber selbst nicht einmal, was es heißen sollte.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich hier schlafe?«
Val antwortete nicht. Er hob seinen Arm und mit ihm die Decke an, ehe er wieder die Augen schloss.
Schritte bewegten sich zu ihm. Das Bett senkte sich ab und ein Körper schmiegte sich an ihn. Val ließ seinen Arm sinken, um Kaiton und sich unter der Decke einzuschließen.
Berührungen tanzten auf seiner Wange. Etwas Weiches legte sich auf seine Lippen, aber er wurde in das Reich der Träume gezogen, ehe er sich Gedanken machen konnte, ob es nun Realität oder Illusion war. Der Geruch von Frühling begleitete ihn.
»Gibt es keinen anderen Weg?« Matthews Stimme klang nicht, wie seine eigene. Eher wie ein Echo, wie ein Ruf in finsterem Wald, von dem kaum ein Ton nach draußen drang.
Die Krähe in Coraks Zimmer krächzte auf und schlug mit den Flügeln. Ihre schwarzen Augen durchbohrten Matthew und schienen ihm mitten in die Seele zu blicken.
Corak strich ihr über das Gefieder. Sie schmiegte sich an seine Hand und beruhigte sich unter seiner Berührung.
»Ihr kennt die Antwort«, sagte er, ohne den Blick von dem schwarzen Vogel zu nehmen. »In dem Senatssaal – ganz hinten – gibt es einen Raum. Aetherions Kontrollzentrum. Dort könnt Ihr ihn abschalten oder ihr vernichtet die Schaltzentrale. Anschließend könnt Ihr den Kaiser zerstören.«
Er griff unter seinen Schreibtisch, zog eine Schublade hervor und legte zunächst einen Gegenstand, dann noch einen zweiten auf die Tischplatte. Der erste war etwa faustgroß und war von unzähligen Drähten zusammengehalten. Der zweite war kleiner und bestand nur aus einem einzigen daumennagelgroßen Knopf.
»Eine Bombe?«, brachte Matthew hervor.
»Tut nicht so schockiert«, sagte Corak in absoluter Seelenruhe. »Der Kaiser wird nicht ohne Gewalt klein beigeben und wenn er Euch entdeckt, dann wird er Euch aufhalten. Ihr wisst, was seine Kräfte vermögen.«
Matthew nickte knapp.
»Und trotzdem seid Ihr töricht genug, ihm in seiner vollen Stärke entgegenzutreten?« Corak legte den Kopf schief und durchbohrte ihn mit seinem Blick, ähnlich wie die Krähe nur wenige Sekunden zuvor. »Ihr werdet sterben. Schlimmer noch, Ihr werdet jeden, der Euch etwas bedeutet, mit in den Tod reißen.«
Matthew biss die Zähne zusammen. »Ich kann nicht zurück«, brachte er hervor. Die Schreie fraßen sich jetzt noch in seinen Kopf. Er roch das verbrannte Fleisch in seiner Nase und schmeckte den Rauch auf seiner Zunge. »Ich kann nicht.«
Coraks Miene blieb nüchtern. »Es ist Eure Entscheidung. Ich kann Euch nur sagen, welches Ende dieser Weg für Euch bereithält.«
Wärme strich über Vals Nase. Nur zart war die Berührung. Er öffnete die Augen und sah Kaiton vor sich, der sofort seine Hand sinken ließ.
»Tut mir leid«, flüsterte dieser und wich dem Blick aus. »Ich wollte dich nicht wecken.«
Erst mit den vergehenden Momenten bemerkte Val, dass seine Arme noch immer um Kaiton geschlungen waren. Ein leichtes Pochen in seiner Wade verriet, dass Kaitons metallisches Bein vermutlich die gesamte Nacht in seine Haut gedrückt hatte.
»Alles gut«, meinte Val. Seine Stimme war noch kratzig vom Schlaf. »Du kannst ruhig weitermachen.«
Kaitons Auge blitzte auf und die Röte blieb auf seinen Wangen, nachdem es wieder erloschen war.
»Ich kann die Augen auch wieder schließen, wenn es das besser macht«, meinte Val mit einem Grinsen. Er wartete auf keine Antwort und tat, was er gesagt hatte.
Für einen Moment, nachdem er die Lider geschlossen hatte, geschah nichts, doch dann strich die Wärme erneut über sein Gesicht. Zunächst über seinen Nasenrücken, anschließend über die Wangenknochen, über seinen Kiefer und das Kinn. Die Berührung hinterließ ein seichtes Prickeln, bis sie plötzlich verschwand.
Val runzelte die Stirn und öffnete die Augen. Kaitons Hand schwebte noch über ihm, doch nun ließ er sie sinken.
»Darf ich auch?«, fragte Val.
Kaitons Adamsapfel hüpfte auf und ab. Sein Herzschlag trommelte beschleunigt gegen Vals Brust. Er wich seinem Blick aus, nickte jedoch.
Vorsichtig hob Val eine Hand und ließ seine Finger über die Narbe in Kaitons rechter Gesichtshälfte streichen. Kaiton zuckte bei der Berührung leicht zusammen, aber er rückte nicht ab.
Val fuhr ihm durch die Haare, die weich und seidig zwischen seinen Fingern entlang rannen, und sein Blick fiel auf die blasse Narbe direkt unter dem Haaransatz. »Was ist geschehen?«, flüsterte er.
»Ich weiß es nicht.« Kaiton hob leicht die Schultern. »Mir wurde gesagt, ich sei als Kind die Treppe hinuntergefallen, aber ich erinnere mich nicht daran.« Die Röte hatte mittlerweile auch von seinen Ohren Besitz ergriffen. Seine Hände lagen auf Vals Rücken und verstärkten den Druck, als wollten sie sich hilfesuchend festklammern.
Regentropfen trommelten gegen das Fenster und flossen zu einem hypnotischen Hintergrundgeräusch zusammen.
Eine Seite in Val wollte sich wieder von Kaiton lösen, ehe er sich in ihm verlieren würde. Er wollte ihn nicht überfordern, denn er ahnte, dass Kaiton ein anderes Verhältnis zu Beziehungen hatte als er selbst.
Nur selten hatte er sich Zeit genommen, jemanden wirklich kennenzulernen. Diejenigen, mit denen er sich umgab, hatten es ähnlich gehandhabt. In dieser Welt könnte einem jeden Moment der Partner entrissen werden, sodass man sich nicht die Zeit nahm, die eine Beziehung manchmal brauchte. Dann riss das fragile Band durch andere Dinge als den Tod.
Der andere Teil in Val jedoch, der weiterhin so verbleiben wollte, war stärker. Seine Finger zupften Kaitons Hemd aus dem Bund seiner Hose.
»Darf ich?«, fragte er. Seine Stimme war rau, sein Mund trocken geworden. Für einen Augenblick erhielt er keine Antwort und er bereitete sich schon darauf vor, sich zurückzuziehen. Doch dann nickte Kaiton.
Val beugte sich über ihn. Die Hand in seinem Nacken zog ihn dichter und er vergrub den Kopf in Kaitons Halsbeuge. Der Geruch nach Frühling ummantelte ihn. Er konnte nicht anders, als einen tiefen Atemzug zu nehmen und in einem stummen Gebet zu hoffen, dass ihm die Aura des blühenden Lebens nie entrissen würde.
Seine Hand schlüpfte unter Kaitons Kleidung, fuhr an dessen Taille aufwärts, bis sie kurz über dem Hüftknochen ins Nichts traf. Er bewegte sie weiter hoch und seine knöchernen Finger prallten gegen Metall.
Ein leises Keuchen entkam Kaiton, so nah an Vals Ohr, dass der warme Atem auf seiner Haut prickelte. Ein Zittern durchfuhr den Körper in seinen Armen und er spannte sich an.
»Spürst du das?«, raunte Val. Seine Stimme war noch tiefer geworden und vibrierte in seiner Brust.
Kaiton stieß mit seiner Stirn gegen Vals Schulter, als er nickte.
Die knöchernen Finger tasteten sich weiter vor, streiften jeden einzelnen der metallischen Rippenbögen. Kaiton zuckte, doch nicht von der Berührung fort, sondern zu ihr hin.
Vals Herz machte einen kleinen Hüpfer, ehe es zurück in den viel zu schnellen Rhythmus verfiel. Er nahm seine Hand unter dem Hemd hervor, doch nur, um sich abzustützen und mit der anderen über Kaitons Haut zu fahren.
Diese Seite des Körpers war gänzlich menschlich. Er strich über die Taille, dann über die Rippen, die leicht hervortraten.
Von Kaiton kam ein wohliges Summen. Er zitterte immer noch, vergrub aber die Hand in Vals Locken und zog ihn näher.
»Ist das besser?«, fragte Val leise. Sanft drückte er seine Lippen auf Kaitons Hals. Seine Finger bewegten sich in kleinen Kreisen über die Haut und kribbelten bei der warmen Berührung.
Er stockte, als er eine Unebenheit bemerkte, und fuhr an dem Schnitt aufwärts, bis er fast an dem Kragen angekommen war.
»Val?« Kaitons Stimme klang heiser.
Sanfter Druck auf Vals Brust brachte ihn dazu, sich aufzurichten.
Röte lag auf Kaitons Wangen und sein Auge glomm leicht. »Können ... Können wir hier aufhören?«
Val erstarrte. War er zu weit gegangen?
Er zog seine Hand hervor und rollte sich von Kaiton hinunter. »Natürlich«, meinte er und erhob sich. Er wischte sich durch das Gesicht, als könnte er damit die Wärme vertreiben.
Kaiton setzte sich ebenfalls auf und sortierte seine Haare. »Tut mir leid«, sagte er. »Es war gut, nur ... ungewohnt.«
»Das muss dir doch nicht leidtun«, meinte Val. »Im Gegenteil, es ist gut, dass du mir sagst, wenn es dir zu schnell geht.«
»Aber wenn du doch mehr willst?«
»Das ändert nichts an dem, was ich gesagt habe.« Val seufzte leise und setzte sich zu Kaiton an die Bettkante. »Meine vergangenen Beziehungen gehörten zwar eher der flüchtigen Sorte an, aber das heißt nicht, dass du dich daran anpassen musst. Ich ...« Er schloss den Mund und suchte nach den richtigen Worten. »Ich habe schon lang niemanden mehr kennengelernt, der mehr wollte als nur etwas kurz Andauerndes. Und ich mag es, mir Zeit zu nehmen. Es ist ungewohnt, aber ich mag es.«
Er suchte nach Kaitons Blick, doch dieser wich ihm weiterhin aus. »Wir können es langsam und in deiner Geschwindigkeit angehen. Und wenn du etwas ausprobieren möchtest, dann können wir es gern versuchen. Ich habe mich genug unter Kontrolle, um jederzeit aufzuhören, falls du bemerkst, dass es nichts für dich ist.« Leiser ergänzte er: »Das sollte eigentlich auch selbstverständlich sein.«
Kaiton sah in Richtung seiner Zehen. »Später vielleicht.«
»Wann immer und wie immer du möchtest.« Val erhob sich. »Lass uns erst einmal früh–«
Er kam nicht dazu, den Vorschlag auszusprechen. Aus dem Hauptraum klang ein dumpfer Laut, dann ein Klirren.
Val hastete zur Tür und riss sie auf.
Die Vorhänge wehten ins Innere und Scherben lagen auf den Dielen vor dem Fenster. Inmitten des zersplitterten Glases: ein Stein.
Ein Krächzen lenkte seinen Blick auf die Krähe, die auf der Lehne seiner Couch saß und nun das Gefieder aufplusterte. Die schwarzen Augen schienen ihn zu durchbohren, dann richteten sie sich auf etwas an ihrem Bein. Eine schimmernde Rolle, in der sicherlich ein Brief transportiert wurde.
Vorsichtig trat Val an die Krähe heran. Der schwarze Vogel ließ sich von seiner Nähe nicht beunruhigen und wartete geduldig, bis er den Zylinder löste.
Er öffnete ihn und holte einen Zettel hervor, den er sogleich aufrollte. In geschwungener Handschrift stand dort:
Trefft mich heute Abend an der Ecke zwischen der Leverton und Asham Street – C.
Eine Gänsehaut kroch über Vals Körper und schickte ihm einen kalten Schauer den Rücken hinab.
Die Krähe schrie erneut auf. Sie spreizte die Flügel und verschwand durch das zerborstene Fenster in den Regen.
»Was ist das?«, fragte Kaiton und trat an ihn heran.
Val reichte ihm den Zettel. »Ich denke, Corak will uns sehen.«
Kurz las Kaiton den Brief und hob dann seinen Blick. »Wer ist Corak?«
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