10 Alles - Nichts
Er sitzt auf der Veranda seines gemütlichen Heims in der Nähe von Valencia; auf dem Tisch steht sein Laptop, das wichtige Arbeitsgerät, auf welchem seine Geschichten gespeichert sind. Bald ist die nächste Geschichte fertig; es ist ein weiterer Valencia-Krimi, die er in seinem großen Verlag aus Deutschland wird veröffentlichen dürfen. Ein Leben als Autor, das hat er sich immer gewünscht.
Sein Tisch steht im Schatten, doch die nahezu vierzig Grad lassen ihm dennoch den Schweiß über den Rücken laufen. Bereits zwei Flaschen frisches Wasser hat er getrunken, dazwischen einige Früchte gegessen, damit er die verlorene Flüssigkeit ersetzen kann. Fast muss er lächeln, als er seinen Mörder in den kalten Fluten unterhalb einer Steilklippe ertrinken lässt. Die Polizisten stehen ratlos am Abgrund; die Geschichte endet offen.
Ein kleines Auto biegt auf den Vorplatz, die schwarzgelockte Fahrerin winkt ihm lachend zu. Seit er hier in Spanien wohnt, mit seiner wunderbaren Frau dieses Haus hat kaufen können und seinen Lebensunterhalt mit Schreiben verdient, ist seine Welt im Lot. Seine Frau ist Tierärztin in Valencia. Ihr gemeinsames Leben hat eben erst begonnen. Alles ist gut, sie haben alles, was es zum Glücklichsein braucht.
Am Nachmittag kommt der Regen. Ungewohnt starker Regen, viele Stunden andauernd. Das Telefon klingelt und man sagt seiner Frau, sie müsse dringend in die Praxis kommen. Er fährt mit ihr. Die Straßen gleichen Bächen, es ist fast kein Durchkommen mehr. Die Scheibenwischer wippen links und rechts doch sie können nichts gegen die prasselnde Dusche ausrichten. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Er parkt den kleinen Wagen vor der Tür, gemeinsam eilen sie ins Innere. Das Wasser steht bereits im Eingang knöcheltief, der Keller ist hoffnungslos überflutet.
Ohne zu reden sammeln sie die wichtigen Dinge zusammen, bringen alles in die oberen Stockwerke. Tiere, welche ich von Operationen erholen, tragen sie behutsam in ein leerstehendes Zimmer im dritten Stock. Draußen tobt der Sturm; das Wasser steigt und überflutet das Erdgeschoss. Nun hilft nur noch warten. Beide sind erschöpft aber froh darüber, dass ihr Haus an einem Hang steht. Jeder Handgriff sitzt, sie denken nicht, sie handeln.
Die Stunden haben sie nicht gezählt, irgendwann setzen sie sich erschöpft und schmutzig auf eine alte Couch, die im Pausenraum für mitarbeitende steht. Mühsam kämpfen sie sich durch den Schlamm zur Haustür. Schlamm liegt auch auf der Straße, das Auto ist weg. Aber sie leben. Irgendwie gelangen sie aus der Stadt. Schon beim Näherkommen, in der letzten Biegung bevor sie in ihr Hügelquartier kommen, erahnen sie, was sie erwarten wird. Er hält ihre Hand, die Kurve, dann folgt die Leere.
Eine Schneise der Verwüstung zeigt die Stelle, wo der Hang gerutscht ist. Einzelne Trümmerteile lassen erahnen, wo einst ein Haus gestanden hat. Grundmauern lugen aus dem Schlamm als wollten sie sich davon überzeugen, dass der Schrecken vorüber sei. Stumme Zeugen vergangenen Glücks.
Er nimmt sie in den Arm, beide weinen hemmungslos. Aber sie leben. Nichts ist mehr da; Als hätte jemand ihre Lebensspur ausgelöscht. Alles, was sie einst besaßen, liegt irgendwo im Schlamm oder bereits in den Fluten des unberechenbaren Meeres. Ein kurzer Moment, ein Augenzwinkern und plötzlich sind andere Dinge wichtig. Sie stehen da, fassungslos, hilflos.
Aber sie leben - und das ist im Moment alles, was zählt. Die Geschichte endet offen.
***
Diese kurze Episode ist erfunden, beruht jedoch auf Tatsachen.
Die Fluten an zahlreichen Orten Europas, welche im Herbst immer wieder für schreckliche Bilder und Nachrichten gesorgt haben, sollten uns in Erinnerung bleiben.
Halten wir inne, denken wir kurz an die vielen Menschen, die so vieles verloren haben, die von vorne beginnen müssen. Meine Gedanken sind bei ihnen. Und ich realisiere, wie gut es mir geht. Dafür bin ich dankbar und entflamme eine Kerze.
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