08 Pinga kehrt heim
Pinguine leben in Neuseeland und in der Antarktis und vielleicht noch ganz im Süden Südamerikas und Afrikas; so lernt man es in der Schule. Dass es aber eine kleine Pinguin-Jugendliche gab, die versehentlich mit einem Forschungsschiff nach Norwegen, ganz hoch in den Norden geschippert wurde, weiß heute niemand mehr. Zwischen hunderten stinkender und fettiger Fischfangkisten, irgendwo unter dem Zeitungspapier, in welches die zu lange gelagerten Fische gewickelt wurden, lag sie – wie ein ägyptischer Papyrus, die momentan wieder stark im Trend sind – die Geschichte von Pinga. Hätte sie nicht ein kleiner Junge, Sohn eines Fischers, entdeckt und gelesen, wäre sie für immer verloren.
Junge Kaiserpinguine sind grau, wirken in ihrem dicken Daunenmantel etwas mollig und struppig. Pinga hatte bereits die für Kaiserpinguine typische schwarz-weiße Kopffärbung, das Gelb fehlte hingegen noch. Sie war ein neugieriger Pinguin und deshalb in die offenstehende Kiste geklettert, aus der es so verführerisch geduftet hatte. Die Kiste wurde geschlossen, hochgehoben und auf ein Schiff geladen. Es folgten viele Wochen Seefahrt, mit Stürmen, hohen Wellen und Salzwasserduschen. Pinga hatte Glück, in der Kiste fand sie Nahrung und einige Löcher im abgenutzten Holz ließen Luft und Regenwasser eindringen. So konnte sie überleben. Sie landete auf einer Forschungsstation am Nordpol, mehr als achtzehntausend Kilometer von ihren Eltern entfernt. Hier ist ihre abenteuerliche Geschichte der Rückkehr.
❄️🐧❄️
Pinga freute sich über die angenehme Kälte, welche an diesem fremden Ort herrschte; wenigstens etwas, das sie an zuhause erinnerte, denn auf der Reise war es zwischenzeitlich unerträglich warm geworden und sie hatte gefürchtet, schmelzen zu müssen wie die Eisbrocken, die unter der sengenden Sonne ins Meer stürzten. Am Rand einer Eisscholle hatte sie es sich gemütlich gemacht. In diesem freundlichen Land gab es sogar Baustoffe für ein gemütliches Nest; von weitgereisten, alten Pinguinen, welche zuhause den Kindergarten betreuten, hatte sie von blauen Pinguinen erfahren, die ohne Schnee lebten und aus diesen grünen Halmen Nester bauten. Darin versuchte sie sich auch; mit dem Resultat war sie nach unzähligen Tagen Bauzeit zufrieden. Wie lange sie geschuftet hatte, wusste sie nicht, und es war auch egal, denn außer Fressen und aufs Meer gucken hatte sie nichts zu tun.
Die junge Pinguindame hatte schon Freunde gewonnen. Pinga war kommunikativ und konnte schnell Kontakte knüpfen. Ein kleiner Seehund schaute manchmal vorbei und legte sich neben ihrem Nest in die Sonne. Von ihm wusste sie, dass es hier keine anderen Pinguine gab. Er hatte sie beim ersten Mal neugierig beschnuppert und gefragt, was sie denn für ein komischer Vogel sei. Das hatte Pinga zuerst falsch verstanden und ihm sogleich die Flosse auf seine freche Schnauze geklatscht, worauf er gefährlich zu knurren angefangen hatte. Mittlerweile verstanden sie sich aber gut, Pinga nannte ihn Seal, denn das hatte er ihr auf die Frage, was er denn für ein Tier sei, geantwortet.
„Gibt es hier auch gefährliche Tiere, Seal?", fragte sie ihren Freund, als die beiden gemütlich etwas frischen Krill knabberten.
„Oh ja, die gibt es! Bist du bereit für die Top fünf der brutalen Gestalten am Nordpol? – Auf Platz fünf, der kleinste Räuber von allen: Der Polarfuchs. Für mich ist der kein Gegner, für ein kleines Wesen wie dich hingegen schon. Er sieht aus wie ein zu klein geratener Wolf, ganz in weiß. Auf Platz vier folgt dann auch gleich sein großer Bruder, der Wolf. Wölfe sind schnell und verfolgen dich in Gruppen, sie sind schlau und fies, locken dich in Fallen. Vor ihnen solltest du dich in Acht nehmen." Seal spuckte einige Stücke Krillpanzer aus.
„Wir Kaiserpinguine jagen auch in Gruppen, aber im Wasser. Woher weiß ich, wie diese Tiere aussehen?"
Seal überlegte, dann lächelte er. „Du hast bei den Menschen bestimmt einen Hund gesehen. Menschen haben immer Hunde dabei, weil sie mit ihren lächerlich verkümmerten Nasen selbst nicht vernünftig Gefahren riechen können."
„Hund. Du sprichst von dem Fellknäuel, das so fürchterlichen Lärm macht?" Pinga erinnerte sich an einen Husky der Forscher, der jedes Mal laut gebellt hatte, wenn er ein Lebewesen erblickte.
„Genau die", lachte Seal, „sie sehen so ähnlich aus wie ein Wolf oder ein Polarfuchs. Wenn du also hier eine solche Schnauze siehst, verkrümel dich besser. Hier machen sie keinen Lärm, hier fressen sie dich."
Pinga zog ihren Kopf ein und rückte etwas näher zu ihrem Freund.
„Auf Platz drei der gefährlichen Räuber haben wir den Schrecken der Meere, den du bestimmt schon kennst. Das schwarz-weiße Monster wirft sich auf das Eis und schnappt nach allem, was sich in der Nähe seiner fürchterlichen Zähne aufhält. An Land bist du ihm überlegen, aber im Wasser hast du keine Chance. Orcas sind schnell, schwer und immer hungrig. Mein Onkel und drei meiner Cousins wurden von Orcas zerfleischt – kein schöner Anblick."
„Ja, den kenne ich. Solche gibt es bei uns auch. Die scheinen überall zu leben. Aus meiner Kolonie haben sie auch schon viele Tiere gefressen; meistens aber nur die Dümmsten oder die Kranken. Wir anderen sind zu schnell und zu schlau."
Seal neigte seinen Kopf und blickte seine merkwürdige Freundin schief an. „Höre ich da ungesundes Teenie-Selbstvertrauen? Unterschätze niemals einen Feind, es könnte dein letztes Mal sein. Weiter in der Rangliste. Auf Platz zwei, der Vizekönig aller Monster: der Eisbär. Er ist riesig, hat Pranken, die jeden Eisberg in Schneeflocken zerschellen lassen; er zerreißt dich in der Luft und trinkt dein Blut, bevor du merkst, dass du tot bist."
Pinga zitterte und kroch in ihr Nest zurück. „Du machst mir Angst, Seal. Ich will weg von hier."
„Nicht doch. Eisbären siehst du kommen, lange bevor sie dich Krümelchen riechen können. Außerdem haben sie einen Bärenhunger und jagen nach größeren Tieren. Du wärst bloß ein Pausensnack."
„Hey! Ich bin ein Kaiserpinguin; der größte Pinguin der Erde." Langsam kroch sie wieder aus dem Nest und streckte sich so lang sie konnte.
Seal lachte sie aus. „Ja, irgendwann vielleicht, aber im Moment bist du noch ein graues Pummerchen, meine Kleine. Also lass das Stolzieren. Eisbären gibt es nicht mehr so viele, doch wenn einer kommt, bist du besser woanders." Seal warf sich kurz ins Wasser, schwamm eine Runde und kroch danach wieder aufs Eis.
„Wer ist der schrecklichste Jäger hier?" Pinga wagte kaum, diese Frage zu stellen. Die Geschichten von Wölfen, Orcas und den Eisbären hatten sie eingeschüchtert.
„Das weißt du nicht?"
„Nein. Was kann schrecklicher sein als die Tiere, von denen du gesprochen hast?"
„Der Mensch."
Nun musste Pinga leicht kichern. „Der Mensch? Echt jetzt? Dieses verkümmerte Wesen, das sich in bunte Tücher wickeln muss, um nicht zu erfrieren? Come on. Die können nicht rennen, nicht tauchen, haben keine Kraft und müssen ihr Futter kochen, weil ihre Zähne verkümmert sind. Menschen sind Unterhaltung, kein Feind. Die Clowns der Tierwelt."
„Sagt der Vogel, der nicht fliegen kann."
„Autsch, das ist gemein!" Pinga drehte sich empört weg.
„Dein falscher Stolz kann tödlich sein, meine Gute. Warst du schon einmal krank? Dann kennst du die kleinen, fiesen Biester, die Viren und Bakterien. Nun, der Mensch ist nebst ihnen das einzige Lebewesen, das überall auf dem Planeten, in jedem Klima, leben kann. Das sollte dich nachdenklich stimmen. Menschen jagen nicht, sie zerstören deine Welt, bis du stirbst; wie das Virus, das du in dir trägst."
Pinga watschelte zu Seal zurück. „Aber Menschen sind schlechte Jäger. Zu langsam."
„Wohl deshalb haben sie Maschinen erfunden, die ihnen das Jagen und Töten abnehmen. Merke dir eines: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das aus purer Freude tötet. Wenn ein Orca meinen Onkel killt, dann weil er Hunger hat. So ist die Natur. Der Mensch hingegen tötet dich, weil du ihm im Weg bist oder weil er dich hübsch findet. Und wenn er dich nicht tötet, dann fängt er dich, stellt dich in einen Käfig, damit andere Menschen dich anschauen können. Einer meiner Brüder musste dran glauben."
Nun musste Pinga daran denken, dass auch bei ihr zuhause viele Pinguine gefangen und in Kisten gesperrt worden waren. Niemals hatte man sie wiedergesehen; die Menschen hatten sie mitgenommen. Bei diesen Gedanken wurde sie traurig, weil sie an ihre Eltern und an die vielen anderen jungen Pinguine aus dem Kindergarten dachte. „Seal? Denkst du, es gibt für mich einen Weg nachhause?"
Seal grinste. „Willst du der erste Pinguin sein, der fliegt? Dann folge mir."
Bevor Pinga reagieren konnte, war Seal bereits im Wasser. Sie blickte noch rasch in ihr Nest zurück, das so etwas wie Heimat geworden war, dann hüpfte sie Seal hinterher. Im Wasser war Pinga unschlagbar. Wie ein wahrer Vogel segelte sie durch ihr Element. Seal schaute ihr bewundernd zu; so elegant wie dieser kleine Pinguin hatte er noch niemanden tauchen sehen. Pinga drehte sich, sie spielte mit der Strömung, als sei das Meer ihr persönlicher Spielplatz. Die beiden tauchten und schwammen weit, dann endlich beschleunigte Seal seine Bewegungen und hüpfte auf eine Eisscholle; Pinga tag es ihm nach, dann jauchzte sie vor Freude.
„Ich hatte schon beinah vergessen, wie genial das ist! Wow!"
„Du tauchst nicht, du tänzelst unter Wasser. Ich bin beeindruckt, kleines Vögelchen."
Etwas peinlich berührt senkte Pinga zuerst ihren Kopf, dann aber freute sie sich über das Kompliment. „Wo sind wir hier?"
„Siehst du die Höhle da drüben?" Mit einer Flosse winkte Seal in Richtung eines Schneehügels.
„Klar. Was ist das?"
„Dort wohnt ein Mensch; keine Angst, er ist wohl der einzige Mensch, der keinem Krillkrümelchen übel kommen will. Er ist so ein schrulliger, dicker Kerl mit Bart, der immer ein rotes Gewand trägt."
„Und was soll ich bei ihm? Kann er mir helfen?" Nach den Geschichten über die mordlustigen Menschen war sie deutlich vorsichtiger geworden.
„Ich denke ja. Immer um diese Jahreszeit packt er einen ulkigen Schlitten, nimmt seine Rentiere und fliegt einmal um die Erde. Er bringt dich bestimmt nachhause."
So kam es, dass ein kleiner Kaiserpinguin das Fliegen lernte. Mit Santa flog Pinga einmal um die Welt und landete am Ende unversehrt wieder in der Antarktis. Dort watschelte sie so schnell es ging in die offenen Flügel ihrer überglücklichen Eltern.
Jeden Abend, wenn die Sonne knapp über dem Horizont stand und das gelbe Licht die Eisschollen streifte, setzte sich Pinga dankbar an die Küste und dachte an ihren Freund Seal, der am anderen Ende der Welt das Gleiche tat.
❄️🐧❄️
Nun kennt ihr sie, die Geschichte von Pinga, die glücklicherweise gefunden wurde. Vielleicht denkt ihr an sie, wenn ihr das nächste Mal im Zoo einen Kaiserpinguin seht.
Ich danke übrigens allen Zoos, welche die Tiere achten und ihnen eine möglichst lebensnahe Umgebung und genug Freiraum geben. Eure Forschungsarbeit und die Bemühungen zum Artenschutz sind wertvoll.
Die Erde gehört allen Lebewesen – das sollten wir Menschen nie vergessen.
Ich wünsche euch einen gemütlichen zweiten Adventssonntag – Euer Bruno
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